zum Hauptinhalt
Daheim im Berliner Konzerthaus. Sopranistin Anna Prohaska.

© Marco Borggreve

Anna Prohaska im Konzerthaus: Kompositionskunst trifft Volkspoesie

Anna Prohaska tritt mit Klaviertrio im Konzerthaus auf. Sie spielen Schätze der Musikgeschichte, die man sonst selten hört.

Nein, keine Reisewarnung, im Gegenteil. Nonstop geht es von den britischen Inseln über Österreich-Ungarn, Böhmen und Mähren bis hinauf nach St. Petersburg: Anna Prohaska stürmt die Bühne, spricht mittendrin kurz zum Publikum, feiert ihre drei Mitstreiter, erläutert flugs die musikalische Route und lässt die Pausen zwischen den Werken zunächst einfach weg.

Licht aus, Spot an: Die Sopranistin, in dieser Saison Artist in Residence am Konzerthaus, singt Lieder von der Vergänglichkeit, den Turbulenzen und Absurditäten der irdischen Existenz.

Prohaska startet hoch oben auf der Orgelempore mit einer Achmatowa-Vertonung von John Tavener, und Alisa Weilersteins Cello geht attaca zu Janácek über, bringt mit energischem Strich, derben Pizzicati und schwelgerischen Flirts dessen märchenhafte dreisätzige „Pohádka“ zu Gehör. Eine wilde Liebesgeschichte zwischen Prinz (Cello) und Prinzessin (Iddo Bar-Shai am Klavier).

Eine insistierende Terz, die sich zur Sekund verkleinert und alsbald in Kaskaden in die Tiefe stürzt: Ob nun Prohaska singt oder die Instrumente – es wird ein großartig ungestümer Abend mit schnellen Register- und Stimmungswechseln und vorzugsweise pentatonischen, in alle Himmelsrichtungen offenen Harmonien.

Gleich darauf stürzt Veronika Eberle in den Saal; noch im Laufschritt überquert die Geigerin die Grenze zwischen Märchenwelt und schnöder Realität, mit Auszügen aus György Kurtágs Kafka-Fragmenten. Fünf sekundenkurze Miniatur-Opern, angefangen bei grotesken Einzeilern wie „Die Zuschauer erstarren, wenn der Zug vorbeifährt“ oder „Der Coitus als Bestrafung des Glücks des Beisammenseins“: Prohaskas souveräner Sopran schwingt sich zu schwindelnd-spitziger Höhe auf, klettert mühelos drei Oktaven hinunter, verbindet lyrische Bögen mit klarer Diktion.

Die Schätze abseits der Repertoire-Trampelpfade

Wenn bei Kurtágs „Szene in der Elektrischen“ eine Tänzerin samt Violinisten in der Straßenbahn auftritt, überträgt sich Prohaskas Freude am lautmalerischen Expressionismus des ungarischen Komponisten auf das Publikum, ob sie nun der Musikliebe wegen zu ironischen Koloraturen anhebt oder die Überraschung der Fahrgäste mit verschmitztem Stocken versinnbildlicht.

Überhaupt beweist das corona-bedingt vom kleinen in den großen Saal verlegte Kammerkonzert einmal mehr, welche Schätze die Musikgeschichte abseits der Repertoire-Trampelpfade zu bieten hat, auch und gerade in der Liaison von Kompositionskunst mit Volkspoesie.

Beethoven zum Beispiel komponierte auch irische und schottische Lieder. „The Return to Ulster“ zum Beispiel, Draußen-Musik mit kräftigen Bordunbässen, oder das stillvergnügte Landschaftspoem „Sunset“, noch schnell als Zugabe präsentiert. Oh weh, sind wir über die Zeit? Prohaska hofft auf ein milde gestimmtes Ordnungsamt.

Zusammensein will erarbeitet sein

Den Höhepunkt des Konzeptabends (Prohaska bringt ja auch gerne Konzeptalben heraus, wie zuletzt die CD „Paradise Lost“) bilden Dmitri Schostakowitschs „Sieben Romanzen auf Gedichte von Alexander Blok“. Deren Besetzungsreihenfolge entspricht der des gesamten Abends: erst Duos, dann Trios, dann alle vier, die Sängerin mit dem Klaviertrio. Zusammensein will erarbeitet sein.

Ob Bar-Shai am Flügel in schweren Akkordwellen das Schicksal beschwört, Geige und Cello mal mit hart angerissenen Saiten, mal in berückend schlichten Kantilenen der Wut wie der Wehmut Ausdruck verleihen oder ob Anna Prohaska in nur wenigen Momenten das gesamte Spektrum menschlicher Gefühle ausbreitet, eins ist immer klar: Eleganz und Temperament müssen kein Gegensatz sein.

Zur Startseite