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Naturkundler. Die Boyz in the Woods sind „hedonistische Schamanen“.

© Promo

Anna Mülter ist Chefin der Tanztage Berlin: Sonnengruß des Waldschrats

Anna Mülter ist neue Leiterin der Tanztage Berlin. Das Nachwuchsfestival in den Sophiensälen gibt sich betont queer.

Von Sandra Luzina

Anna Mülter ist schon ganz schön rumgekommen. Für das Festival „Theater der Welt“ 2014 in Mannheim reiste sie nach New York und London, Istanbul und Kairo, Poznan und ins slowakische Nitra, um sich Produktionen anzuschauen. Nun ist ihr Bewegungsradius erst mal etwas enger gesteckt: Als neue künstlerische Leiterin der Tanztage Berlin grast sie die lokale Szene auf der Suche nach jungen Talenten ab. Entdeckungen kann sie auch hier machen, davon ist sie überzeugt. Die neue Aufgabe geht sie mit spürbarem Enthusiasmus an. „Natürlich macht es Spaß, im internationalen Business unterwegs zu sein“, sagt sie. „Aber man ist sehr weit weg von den Arbeiten. Nach ,Theater der Welt‘ war es für mich wichtig, in die Stadt zurückzukehren und mich intensiv mit der hiesigen Szene zu beschäftigen.“

Die Tanztage Berlin, die vom 8. bis 18. Januar in den Sophiensälen stattfinden, stellen eine junge Generation von Choreografen vor. Das Nachwuchsfestival wurde 1996 von Barbara Friedrich und Benjamin Schälike gegründet. In diesem Januar geht bereits die 24. Ausgabe über die Bühne. Wenn man Anna Mülter fragt, ob Berlin die Tanztage noch braucht, entgegnet sie: „Auf jeden Fall! Die Tanztage sind die einzige Plattform für den choreografischen Nachwuchs – und die Qualität der Arbeiten finde ich erstaunlich hoch. Sie spiegeln den Reichtum der Berliner Szene wider, und ich finde es kulturpolitisch notwendig, dem auch eine Sichtbarkeit zu geben.“

Anna Mülter stammt aus dem Lilienthal-Stall

Anna Mülter, die Literaturwissenschaft studiert hat, kommt aus dem Stall von Matthias Lilienthal. Und sie ist der Beweis, dass ein Praktikum sich doch lohnt. Als Lilienthal 2003 das Theaterkombinat Hebbel am Ufer übernahm, fing sie dort als Praktikantin an; in den neun Jahren der Lilienthal-Intendanz stieg sie auf zur kuratorischen Assistentin und Dramaturgin. Ihr Einstieg in die Tanzszene war das Projekt „X Choreografen“ 2012, das sie zusammen mit Anna Wagner auf die Beine gestellt hat. Der choreografische Parcours durch West-Berlin war einer der Höhepunkte von „Tanz im August“. Dass sie die HAU-Schule durchlaufen hat, sieht man auch am Tanztage-Programm, das kompakter ist als in den Jahren zuvor. „Mir ist wichtig, dass die Tanztage einen Festival-Charakter haben“, erklärt Mülter. „Und ich mag es, wenn unterschiedliche Ansätze aufeinanderprallen.“

Chefin. Anna Mülter leitet jetzt die Tanztage Berlin.
Chefin. Anna Mülter leitet jetzt die Tanztage Berlin.

© Christian Kleiner

Berlin zieht immer noch Choreografen aus aller Welt an. Die freie Tanzszene ist international aufgestellt, aber auch ziemlich unübersichtlich. Es herrscht ein fröhlicher Wildwuchs. 220 Bewerbungen für die Tanztage hat Anna Mülter gesichtet. „Das verschafft einen Überblick“, sagt sie. Durch das HAU ist sie auf interdisziplinäre Arbeiten gepolt. Auch bei den Tanztagen stellt sie nun vor allem Grenzgänger vor: „Die Bezüge zu popkulturellen Phänomen sind diesmal sehr stark wie auch zu Theorie und Philosophie“. Die jungen Choreografen machen sich erst mal einen Kopf, bevor sie loslegen. Und der Tanz öffnet sich zunehmend für neue Themen und Formen.

Diverse Quereinsteiger sind diesmal dabei: Ein Kulturwissenschaftler, ein Biomediziner, eine Schauspiel-Regisseurin und eine ehemalige Stripperin bringen unterschiedliche Sichtweisen ein – und schaffen neue Kicks. Zudem fällt auf, dass sich gleich mehrere Produktionen mit dem Label „queer“ schmücken. Das ist zur Zeit eine Modevokabel, aber was genau ist damit gemeint? „Eine Arbeitsweise und eine politische Haltung“, sagt Mülter. „Es geht um einen nicht-normativen Blick auf die Welt. Sexualität muss gar nicht der Inhalt der Arbeit sein. Eine queere Perspektive geht darüber hinaus.“

Kreuz und queer: Das trifft vor allem auf die Eröffnungsproduktionen zu. „Palais idéal“ von Miriam Horwitz und Anne-Mareike Hess ist aus der Zusammenarbeit einer Schauspielregisseurin und einer Choreografin hervorgegangen. „Es ist eine Mischung aus Spieltrieb und Vandalismus, mit der sie sich auf der Bühne ihre eigene utopische Welt erbauen“, erklärt Mülter.

Gangsterrap zu irischer Volksmusik

Aoife McAtamneys Solo „Softer Swells“ ist eine feministische Auseinandersetzung mit der irischen Gesellschaft. Zu irischer Volksmusik singt sie den Text eines Gangsterrappers.

Martin Hansen und Ania Nowak versuchen in „A queer kind of evidence“, für die Dauer der Aufführung eine andere Zeitlichkeit herzustellen. Ob die Zuschauer danach noch wissen, was die Stunde geschlagen hat?

Nicht verpassen sollte man die Konzert-Performance „Sunsational Circle“ von Boyz in the Woods. Justin Kennedy und andere Akteure aus der Berliner Szene haben sich angeblich in die Schweizer Wälder zurückgezogen, um dort ein schamanistisches Musik-Kunst-Projekt zu gründen. Bei ihrem ersten Auftritt in Berlin verschmelzen sie als mönchische Zeremonienmeister Gesänge, Basslines, Körper und Objekte. Und verheißen den Zuschauern eine spirituelle Erfahrung. Bierernst wird es bei diesem Happening sicher nicht zugehen. „Hedonistischer Schamanismus“ – auf diesen schönen Begriff bringt Anna Mülter den Sonnengruß der Waldschrate.

Neugierig macht außerdem das neue Format mit dem viel versprechenden Titel „Strip Down to Everything“, bei dem man sich ganz der Schaulust hingeben kann. „Der Titel ist zwar eine sexuelle Anspielung, doch es ist keine Striptease-Show“, sagt Mülter. „Wir brechen das Theater herunter auf den Kern: die Gegenüberstellung Performer und Zuschauer – und nehmen die ganze Illusionsmaschine weg.“ Für den Parcours durch das ganze Haus haben sechs Choreografen Zehn-Minuten-Performances entwickelt, die mit den Erwartungen der Zuschauer spielen und ihre erotischen Fantasien anheizen. In der direkten, ungeschützten Begegnung kann Intimität neu erfahren werden. Wer den Garten der Lüste durchstreifen möchte, muss zuerst seine Hemmungen ablegen. Doch keine Bange: Anna Mülter verspricht, dass kein verkappter Bondage-Performer die Zuschauer in Fesseln legt.

Bei diesem Abenteuer wurden die jungen Talente nicht alleine gelassen. Mülter hat sie zusammen mit Liz Rosenfeld als Coach betreut und ihnen Feedback gegeben. Mülter findet es wichtig, „dass die Tanztage etwas zurückgeben“.

Die Förderung des Nachwuchses gehört ja seit jeher zu den Aufgaben der Tanztage. Schon ihr Vorgänger Peter Pleyer hat Coaching-Projekte durchgeführt. Auch Anna Mülter wirft ein Auge auf ihre Debütanten. Die ausgewählten Künstler erhalten zudem eine kleine Anschubfinanzierung: Für eine Uraufführung gibt es zwischen 1000 und 2000 Euro, jeder Künstler erhält zudem eine Abendgage von 125 Euro. Was den Auftritt aber lohnend macht, ist die große Neugier der Zuschauer. Und auch Kuratoren schauen gern vorbei, um sich zu informieren, was es Neues aus Berlin gibt.

Nach den Tanztagen ist Anna Mülters Job noch längst nicht erledigt. Sie wird künftig auch das Tanzprogramm der Sophiensäle mitgestalten. Bei aller schillernden Queerness hat Mülter doch auch ein klassisch-feministisches Anliegen. „Ich sehe es als meine Aufgabe, interessante junge Arbeiten zu zeigen. Und – mehr Choreografinnen zu etablieren.“ Man traut ihr unbedingt zu, dass sie der Berliner Tanzszene neue Impulse gibt.

Tanztage Berlin: 8.–18. Januar in den Sophiensälen. Programm unter www.sophiensaele.com

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