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Schriftstellerin Anke Stelling

© Doris Spiekermann-Klaas

Anke Stelling und "Bodentiefe Fenster": Das Bullerbü-Komplott oder Wege in den Irrsinn

Anke Stelling hat mit "Bodentiefe Fenster" einen Roman über Prenzlauer-Berg-Mütter geschrieben. Sie ist selbst eine. Ein Hausbesuch.

Von Susanna Nieder

„Bei Lesungen werde ich oft gefragt, wie man sein Leben denn nun leben soll“, sagt Anke Stelling. „Irgendwann steht dann immer einer auf und sagt: Jetzt lasst sie halt in Ruhe, sie hat doch keinen Ratgeber geschrieben!“

Das hat sie weiß Gott nicht, Anke Stellings Roman „Bodentiefe Fenster“ ist das Gegenteil eines Lebenshilfebuches. Mit trügerisch leichter Hand stellt sie darin die abgrundtiefe Ratlosigkeit einer Müttergeneration dar, die glaubt, dass Kinder glücklich und frei von Zwängen aufzuwachsen haben. Das stellt die Mütter vor zwei Probleme: Erstens, wer macht das Chaos weg, das die zwanglos aufwachsenden Kinder jeden Tag aufs Neue produzieren? Und zweitens: Wer ist schuld, wenn die Kinder verdammt noch mal nicht glücklich sind?

Der Handlungsort des Romans und sein Entstehungsort ist Prenzlauer Berg, wo junge Eltern Kinderwagen für 1000 Euro kaufen, um nur nichts falsch zu machen bei der Hege des kostbaren Nachwuchses. „Hier ist nichts selbstverständlich; man kauft den Kindern Second-Hand-Kleider, auch wenn man sich neue leisten könnte, damit sie keine teuren Klamotten tragen. Alles ist drei Mal um die Ecke gedacht“, sagt Anke Stelling.

Wie bekommt man Kinder sicher durchs Leben?

Sie sitzt in ihrer Wohnküche im obersten Stockwerk eines Gemeinschaftshauses. Viele Bücher, großer Küchentresen, braunes Familiensofa – der größte Luxus ist der Himmel, den man durch bodentiefe Fenster sieht. Ist die Holzhütte im Hof das Baumhaus aus dem Buch? „Ja, alles original“, die Autorin lächelt. „Bodentiefe Fenster“ ist ihr fünfter Roman und der erste, bei dem sie sich so stark von ihrem eigenen Alltag inspirieren ließ. Stelling hat am Literaturinstitut Leipzig studiert und zog 2002 als „Schriftstellerin mit Diplom und Steuernummer“ nach Prenzlauer Berg, wo es damals noch nicht ganz so familienbezogen zuging wie heute.

Anke Stelling, 44-jährige Mutter dreier Kinder, ist ein relevantes Stück Gegenwartsliteratur gelungen. Sie kennt die Untiefen im Familienidyll, die Anstrengung, die es Mütter kostet, die Welt in ein immerwährendes Bullerbü zu verwandeln. Im Buch klingt das so: „Gut geht es uns. Toll ist es hier! Die Kinder sind gesund, keines ist dabei, das offiziell Sorgen machen würde, eine Kiefern-Gaumen-Spalte hätte oder ein Down-Syndrom. Und selbst wenn – sind die nicht besonders wonnig oder werden berühmte Charakterdarsteller?“

Die Hauptfigur heißt Sandra, lebt mit Mann und zwei Kindern in einem Gemeinschaftshaus und knickt langsam unter der Last ihres Mutterseins ein. Kann man das alles überhaupt verantworten? Hätte man es nicht besser bleiben lassen? Darf man die Kinder morgens in der Kita abgeben wie ein Paket und ein eigenes Leben leben? Und dann: Wie bekommt man Kinder sicher durchs Leben? Und wer schützt meine Kinder vor mir?

Niemand hat Lust, den Kindern Einhalt zu gebieten

Das ist der Weg in den Irrsinn, und er wurde bereits in der vorhergehenden Generation beschritten. Die Träume der Siebziger, Kinder frei aufwachsen zu lassen, endeten böse für manche Mütter – eine ist übergeschnappt vor lauter Selbstaufgabe, eine früh gestorben, eine hat sich und ihre Kinder umgebracht. All diese Geschichten stammen aus Anke Stellings Erfahrungsschatz.

Dramatisches erzählt sie fast nebenher, es fließt in Sandras ununterbrochene Selbstbefragung ein. Was ist bloß aus der Utopie einer echten Gemeinschaft geworden, in der auch die Autorin den einzigen Ausweg sieht? Alle belauern sich, niemand traut sich, ehrlich zu sein. Es will auch keiner hören, dass etwas falsch läuft. Besser gesagt keine, denn hier geht es um Frauen, die durchdrehen, die Männer haben darauf wenig Einfluss.

Und niemand wagt, den Kindern Ansagen zu machen, weder den eigenen noch denen der anderen: „Kinder, die mit einem Servierwagen Rennen fahren. Da liegen die Servietten und Strohhalme und Pappbecher für die Party drauf, die nach kürzester Zeit überall im Hof und in Roberts Atelier verstreut sind. Macht nichts. Niemand hat Lust, den Kindern Einhalt zu gebieten. Wie schön es im Hof ist, sieht man trotz des Durcheinanders, und da es in diesem Jahr keine Wespen gibt, schadet es auch nicht, dass Franz, Tinkas dreijähriger Sohn, den Johannisbeersaft ins Planschbecken gießt.“

In der Hausgemeinschaft ist der Roman nicht gut angekommen

Anlass für den Roman war Anke Stellings Bedürfnis – und die Vergeblichkeit – Freundinnen zu retten. Alle stecken fest in der Angst, es nicht gut genug zu machen. Die Kinder zu beschädigen. Bei dem Gedanken, ihre Kinder könnten nicht „geraten“, schaut Stelling ehrlich beunruhigt.

Sandra, die ihr Journalistenbüro meistens nur aufsucht, um Schlaf nachzuholen, backt Zimtwecken, sie geht aufs Plenum, erfüllt ihre selbst auferlegten Pflichten – aber sie scheitert an ihren eigenen Ansprüchen. Die Parolen, die Volker Ludwig vor 40 Jahren in seinen Liedtexten fürs Grips Theater ausgegeben hat, lassen sich nicht umsetzen. „Einer ist keiner, zwei sind mehr als einer, sind wir aber erst zu dritt, machen alle anderen mit“. Ja, von wegen! Der Auftrag, die Welt zu verbessern, führt in den Burn-out.

Sind die 68er schuld an unserer Handlungsunfähigkeit? „Auch. Schon“, meint Anke Stelling, aber es klingt wie eine Frage. Sie zuckt die Achseln: „Nicht antiautoritär ist auch keine Lösung.“ Man wird sie nicht dabei erwischen, jemandem die Schuld zu geben. Wie Sandra ist sie damit geschlagen, dass sie jedem irgendwie recht geben muss.

Der Roman ist in ihrer Hausgemeinschaft trotzdem nicht gut angekommen, sagt sie – milde ausgedrückt. Doch als Künstlerin hat sie die Selbstsicherheit gefunden, die den Müttern fehlt. „Literatur ist eine bestimmte Perspektive auf die Wirklichkeit – ich dachte, das sei klarer“, sagt sie lakonisch. Forderungen wie die, ihre Mitmenschen nicht als Material für ihre Texte zu benutzen, kann sie nicht ernst nehmen. Lebendige Gegenwartsliteratur arbeitet häufig mit Vorlagen, so ist das nun mal.

Das "Bullerbü-Missverständnis"

Immerhin, Anke Stellings Mann gefällt der Roman, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand. Sandras Mann Hendrik ist sehr nah an ihm dran, findet sie. Die Dialoge zwischen den beiden sind punktgenau beobachtet. Sie, fix und fertig nach dem Plenum, er schon fast schlafend: „Bitte, Hendrik, du musst mit mir reden.“ Er seufzt noch tiefer, rutscht ein Stück zur Seite und räuspert sich: „Was gibt’s?“ „Ich werd’ wahnsinnig!“ „Dann geh doch nicht mehr hin.“ „Aber das kann ich nicht.“ „Dann werd’ wahnsinnig.“

Und wie kommen wir raus aus dem Schlamassel? „Es gibt keinen Ausweg“, sagt die Autorin. Es gibt ja nicht die echte Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig unterstützt. Aber Moment. Wie war das mit der Literatur, die eine Perspektive auf die Wirklichkeit ist? Wenn das für ihr Buch stimmt, dann stimmt es auch für Bullerbü: eine Geschichte, nichts weiter. „Das Bullerbü-Missverständnis!“, Anke Stelling schaut erleichtert. „Und, wo wir das jetzt so klar haben: Die Kinder von Bullerbü sind frei, weil die Eltern ihrer Arbeit nachgehen. Und weil niemand von ihnen verlangt: Sei glücklich, damit deine Mutter das Gefühl hat, es richtig gemacht zu haben.“

Anke Stelling: Bodentiefe Fenster. Verbrecher Verlag Berlin, 2015. 256 S., 19 €.

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