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Anish Kapoor in Berlin

© Doris Spiekermann-Klaas

Anish Kapoor im Martin Gropius Bau: Sinfonie für die Sonne

Der Inder Anish Kapoor wurde einst auf der Documenta IX entdeckt. Inzwischen raufen sich die Ausstellungshäuser um ihn, jetzt zeigt er seine Werke im Martin-Gropius-Bau. Sie sind voll tonnenschwerer Leichtigkeit.

Es war ein tiefes schwarzes Loch, das ihn berühmt machte, 1992. Die Besucher der Documenta IX pilgerten zu Anish Kapoors kreisrunder Erdhöhle und erblickten – ein pudriges Nichts. Die Öffnung im Galerieboden war mit schwarzen Pigmenten ausgefüllt und ließ den faszinierten Betrachter im Unklaren darüber, wie weit es tatsächlich in die Tiefe geht.

Seitdem hat Kapoor der Kunstwelt die unglaublichsten Dinge beschert, tonnenschwere Skulpturen zum Beispiel, die es in ihren Dimensionen mit Hochhäusern aufnehmen können. Aus der Documenta-Entdeckung von damals ist heute ein Superstar geworden, ein Big Shot der Bildhauerkunst, um den sich die großen Ausstellungshäuser der Welt rangeln. In diesem Sommer gastiert er in Berlin, ab dem morgigen Sonnabend ist er mit einer Retrospektive im Martin-GropiusBau mit über 70 Arbeiten zu sehen.

Und doch bleibt der heute 59-Jährige seinen Anfängen treu. Die skulpturale Sprache des seit seinem Studium in London lebenden indischen Künstlers ist unverändert, das Wechselspiel von Volumen und Leere, Suggestion und konkretem Raum. Auch das schwarze Loch, „Descent into Limbo“, wird immer wieder gegraben, als Wiederaufführung eines bewährten Stücks, diesmal in Saal 5 des Gropius-Baus. Die Technikabteilung musste dafür ihr Büro räumen, denn die Öffnung reicht anderthalb Meter hinab. Für den Betrachter besitzt sie die Dimension des Firmaments. Ein kleines, feines Meisterwerk.

Anish Kapoor zu einer Ausstellung einzuladen oder ihn mit einer Skulptur im öffentlichen Raum zu beauftragen, bedeutet ganz großes Theater. Für Chicago baute er mit „Cloud Gate“ eine gigantische, 110 Tonnen schwere Spiegelfläche, heute ein Wahrzeichen der Stadt. Für die Olympischen Spiele in London entwarf er eine 115 Meter hohe Skulptur aus blutrotem Stahlrohr, die an Tatlins berühmten, nie realisierten Turm für die III. Internationale vor fast 100 Jahren erinnern soll.

Für Kapoor scheint inzwischen fast alles machbar – an Geld und technischem Equipment fehlt es nicht. Die Gefahr besteht, dass dieser Inszenator des Sublimen seiner eigenen Materialschlacht zum Opfer fällt. Dass dies in Berlin dennoch nicht geschieht, liegt an den zauberischen Momenten seiner Kunst. Der Betrachter spürt das wohlkalkulierte Pathos, den Showeffekt: bei der Luftdruckkanone, die alle halbe Stunde einen fetten roten Wachsklumpen in eine Saalecke ballert, bei der sich aus einer Wand wölbenden Rundung mit dem Titel „When I am Pregnant“. Oder bei der überdimensionalen wächsernen Glocke, die wärmebedingt ständig ihre Gestalt verändert und von einer stündlich rotierenden Scheibe wieder in Form gebracht wird. Aber trotz der Tonnenschwere seiner Materialien wohnt Kapoors Auseinandersetzung mit den Räumlichkeiten des Gropius-Baus etwas Leichtes, Spielerisches inne.

Im Saal mit den aus Flüssigzement gegossenen abstrakten Figuren, die sich lautmalerisch „Spittle“, Splodge“, „Splat“ und „Splush“ nennen, lässt er die Fenster offen. Sonnenlicht scheint herein und sorgt für immer neue Schattenwürfe. Die gigantische braune PVC-Plane, die der Künstler vor zwei Jahren bereits im Pariser Grand Palais benutzte, um die Figur des Leviathan, des gestrandeten Wals, zu imaginieren, stülpt sich nun eher schlaff durch drei Säle – dort, wo der Gropius- Bau an die Topographie des Terrors grenzt. In Kapoors Werk kreuzen sich die Staatsphilosophie eines Thomas Hobbes und das Buch Hiob mit der Botschaft: Der Staat hat seine Façon verloren, die leere Hülle bleibt.

Intuitiv erfasst der Betrachter eine Aussage, die der Künstler selbst so nie formulieren würde. „Ich bin nicht sicher, dass ich weiß, was ich mache“, sagt er ein paar Tage vor der Eröffnung in Berlin, mit sympathischem Lachen und einer wegwerfenden Handbewegung. „Arbeiten, die man sofort versteht, haben künstlerisch kein langes Leben.“ Die Lebensdauer seines zentralen Werks für die Ausstellung ist jedenfalls klar begrenzt. „Symphony for a Beloved Sun“, eigens geschaffen für den Lichthof, wird nur bis zum Ende der Schau existieren.

Hoch oben thront auf stählernem Gerüst eine riesige rote Scheibe. Es ist jene im Titel angesprochene Sonne, die Malewitschs Oper „Sieg über die Sonne“ von 1913 und El Lissitzkys spätere Grafikserie zitiert. Drumherum werden auf vier Förderbahnen rot gefärbte, 60 Kilo schwere Wachskuben in die Höhe transportiert, um von dort mit einem großen Platsch auf einen stetig anwachsenden Hügel zu fallen. Wer diese skulpturale Symphonie einmal gesehen hat, vergisst sie so schnell nicht mehr. So ist ihr ein Weiterleben in der Erinnerung beschieden, ähnlich wie der legendären Beuys-Installation „Hirschdenkmäler“, die sich vor 30 Jahren in der „Zeitgeist“-Schau an der gleichen Stelle befand und auf die Kapoor sich bezieht. So spielt er mit den historischen Bezügen der Stadt, des spezifischen Orts, bedient sich aus dem Arsenal der Kunstgeschichte und macht Anleihen bei den Konstruktivisten. Und doch schafft er ein Werk von eigener Kraft.

Dank Anish Kapoor erweist sich der Gropius-Bau einmal mehr als Ort der innovativen Kunst, der starken Eindrücke, ähnlich denen, die Olafur Eliasson dem historischen Bau vor drei Jahren bescherte, als er das Ausstellungshaus in eine Mischung aus Spiegelkabinett und Nebelkammer verwandelte. Immer wieder übt das Neorenaissance-Gebäude auf Bildhauer die Wirkung eines Transformators aus. Die Nähe zur ehemaligen Mauer, zur Topographie des Terrors, zum heutigen Finanz- und dem einstigen Reichsluftfahrtministerium lädt ihre Präsentationen zusätzlich mit Bedeutung auf. Besonders Kapoors Werke erweisen sich als ideale Projektionsfläche: Die Klarheit seiner Formensprache – konvexe Spiegel, steinerne Kuben, mit Pigment gefüllte Nischen, die starke Aura der immer wieder benutzten Farbe Rot – öffnet sich zu vielen Seiten hin. Kapoor will ein globaler Künstler sein, auch wenn der Einsatz von Farbpigmenten aus seiner Heimat Indien stammt.

„Schließen Sie die Augen. Was sehen Sie dann?“ fragt er, um gleich die Antwort zu geben. „Die Farbe Rot. Sie ist uns allen zu eigen.“ Im Martin-Gropius-Bau geht sie als Sonne auf.

Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, 18. 5. bis 24. 11.; Mi bis Mo 10–19 Uhr. Kat. (Walther König) 48 € bzw. 34 €.

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