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Joe Gardner jagt seinem unerfüllten Traum hinterher: einmal mit den ganz Großen auf der Bühne stehen.

© Disney

Animationsfilm "Soul": Eine Harlem Renaissance für Pixar

Mit „Soul“ macht Pixar dem Jazz eine Liebeserklärung. Mitten in der Pandemie ist es die erste Streamingpremiere des Animationsstudios.

Von Andreas Busche

In den Filmen aus dem Pixar-Studios sieht das Imaginäre am Ende auch nicht so anders aus als unsere realen Arbeitswelten. Die Monster-Akademie in „Monster Inc.“, das Unbewusste in „Inside Out“ oder zuletzt das mexikanische Totenreich im Cinco-de-Mayo-Musical „Coco“ sind ungemein geschäftig und bürokratisch organisiert. Manchmal muss man sich wundern, warum die Pixar-Macher so viel Erfindungsreichtum dafür aufbringen, immaterielle Fantasiewelten auf ganz profane Alltagsfunktionen herunterzubrechen. Dann aber liegt genau darin der Erfolg der Disney-Tochter: Hat je ein Therapeut eine klinische Depression so kindgerecht erklärt wie „Inside Out“, der 2015 als erster Animationsfilm auch das Cannes Filmfestival eröffnen durfte?

In „Soul“ von Pete Docter macht der erfolglose Jazzpianist Joe Gardner unliebsame Bekanntschaft mit dieser jenseitigen Bürokratie. Gerade noch hat er einen Gig mit der Saxofon-Legende Dorothea Williams gelandet, da stolpert er in seiner Euphorie beim Überqueren der Straße in einen offenen Gulli – und erwacht auf einem Fließband, das direkt ins „Große Jenseits“ führt: ein gleißendes Licht, in dem die illuminierten menschlichen Seelen mit einem elektrischen Summen wie Fliegen in einer Insektenfalle verschwinden. Doch der Himmel hat seine Rechnung ohne Joe gemacht!

Er werde doch nicht an dem Tag, an dem sich sein Lebenstraum erfüllt (eine Musikerkarriere), den Löffeln abgeben, meint Joe trotzig und springt vom Band – ins „Große Davor“, eine Wellness-Oase in sanften Pastelltönen und weichgezeichneten, unscharfen Formen, unterlegt mit blubbernden New-Age-Sounds von Trent Reznor und Atticus Ross. So etwa darf man sich wohl auch die neue Apple-Zentrale vorstellen. Die „Counselors“ an diesem ganzheitlichen Nicht-Ort, die allesamt Jerry heißen und lediglich aus fluffigen Konturen wie eine Picasso-Skizze bestehen, ernennen Joe, der für einen berühmten norwegischen Psychologen gehalten wird, zum Mentor für ein besonders renitentes Seelchen. Nummer 22.

An 22 haben sich schon ganz andere Mentoren die Zähne ausgebissen, unter anderem Abraham Lincoln, Muhammad Ali, Mutter Theresa und Carl Jung, den sein geschwätziges Über-Ich fast in den Wahnsinn getrieben hätte. An Joe wiederum verzweifelt die misanthropisch veranlagte 22: Der will für seinen großen Auftritt unbedingt zurück auf die Erde. Im „Großen Davor“ gibt es nur einen, der Joe die Rückkehr ermöglichen kann: der Esoteriker Moonwind, der eine Rebelleneinheit namens „Mystiker ohne Grenzen“ anführt und in seiner irdischen New Yorker Existenz ein arbeitsloser, hängengebliebener Hippie ist.

So kindgerecht die imaginären Landkarten der Pixar-Welten auch sind, es braucht zunächst eine Weile, um sich in ihnen zurechtzufinden. Die Übersetzung von abstrakten menschlichen Erfahrungen in die sehr buchstäblichen Visualisierungen dieser Erlebnisparks ähneln Besucherführungen durch eine moderne Unternehmenskultur.

Bei aller Fantasie durchweht Pixars Fantasiewelten immer auch ein neoliberaler Geist zwischen gefühliger Esoterik, Flexibilität, Effizienz und dem Diktat der Selbstoptimierung. Im „Großen Davor“ werden die noch unfertigen Individuen auf das wahre Leben vorbereitet: Aus einer Art begehbarem Kompendium an menschlichen Erfahrungen und Errungenschaften, der „Hall of You“, dürfen sie sich die letzte Eigenschaft herauspicken, den „Funken“ für ihre irdische Leidenschaft. Wer über seine bedingungslose Leidenschaft aber das Leben vergisst, landet selbstvergessen in der „Zone“. Die Sprache aus Selbsterfahrungsseminaren wird in „Soul“ stets mit zurückhaltender Ironie vorgetragen, doch es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass in der Traumfabrik Disney ganz ähnliche Töne angeschlagen werden.

Zunächst beginnt „Soul“ aber mit einem Misston, eine typische Pixar-Idee: Über das Disney-Logo des Märchenschlosses quäkt der Jazz-Standard „When You Wish Upon a Star", aufgeführt von Joes Musikklasse, einem hoffnungslosen Haufen Minderbegabter. Und Sinnbild für die Lebenskrise, in der Joe sich befindet. Nur wenn die kleine Connie ihr Solo hinlegt, gleitet der Film in die „Zone“ ab: Dann kapern die Improvisationen des Jazz die Bilder und verwandeln „Soul“ in ein kosmisches, psychedelisches Wabern. Harlem, Joes angestammtes Habitat, öffnet sich gewissermaßen dem Universum.

Aus den Gegensätzen von Jenseits und Diesseits, der produktdesignten Wellness-Ästhetik mit seiner synthetischen Blubber-Muzak und dem in warme Farben getauchten New Yorker Fotorealismus, unterlegt mit moderat freien Jazz-Arrangements (eingespielt von Grammy-Gewinner und Stephen-Colbert-Sidekick Jon Batiste) erlangt „Soul“ eine im Pixar-Kosmos bislang unbekannte Haptik. Ein spezieller Reiz des Films geht in der deutschen Synchronisation leider verloren, die Stimmen von Jamie Foxx (Joe) und Tina Fey (22), ein verblüffendes, erratisches Comedy-Duo. Auf die Idee, die beiden zusammenzubringen, muss man erst mal kommen.

„Soul“ erschließt zudem ein im US-Animationsfilm noch weitgehend brachliegendes soziales Milieu; immerhin gewann in diesem Jahr der Kurzfilm „Hair Love“, eine Liebeserklärung an die widerspenstigen afroamerikanischen Locken, den Oscar. Joes Streifzüge durch sein Harlem, vom Jazzclub über den Barbershop bis ins Schneideratelier seiner Mutter (an beiden Orten ist die Luft obligatorisch Gossip-geschwängert), erzählen auch eine spezifisch schwarze Geschichte.

Im Mutterschiff Disney pflegt man ja schon seit einigen Jahren eine neue kulturelle Diversität. Pixar hatte dagegen in der Ära des inzwischen zurückgetretenen John Lasseter – mit Ausnahme von dessen letzter Produktion „Coco“ – stets sehr „homogene“ Narrative; die „Toy Story“-Filme sind im Prinzip eine weiße Suburbia-Erzählung par excellence. Auch deswegen ist „Soul“ eine schöne, notwendige Abwechslung. Welcher Pixar-Film hat schon je gezeigt, wie schwer es für einen Schwarzen in New York ist, ein Taxi auf der Straße anzuhalten (noch dazu im Krankenhausschlafanzug, aber das ist eine andere, komplizierte Geschichte). Co-Regisseur und -Autor von „Soul“ ist der Dramatiker Kemp Powers, dessen Bühnenstück „One Night in Miami“ gerade Regina King für Amazon Prime verfilmt hat (zu sehen ab dem 15. Januar).

Mit „Soul“ hat Disney das perfekte Zugpferd für die Weihnachtsfeiertage, um Werbung für seine Streamingplattform Disney+ zu betreiben. Bei „Mulan“ hat sich das Experiment, trotz eines Aufpreises, nicht gerechnet, aber Pixar genießt im Portfolio dank seiner Familienfreundlichkeit eine andere Bedeutung. Ohne die Pandemie würde der Konzern einen so hochkarätigen Titel wohl kaum als Streamingpremiere anbieten. Disney und Warner, die einen Tag später in den USA „Wonder Woman 1984“ digital starten, testen gerade, ob man langfristig doch auf die Kinos verzichten könnte.

Als Stream auf Disney+

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