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Ein englischer Fan während des Viertelfinales England gegen Ukraine.

© Paul Ellis/AFP

Angstzustände beim Konzert: Können wir noch zusammen feiern?

Kultur und Sport sind wieder da, doch es ist nicht mehr so wie früher. Viele können die Nähe im Publikum kaum aushalten. Erste Erfahrungen nach dem Lockdown.

Es fängt schon bei der Begrüßung der Konzertbegleitung an. Eine obligatorische Frage zerschneidet das soziale Miteinander: „Wie ist dein Impfstatus?“ Hier darf es schon eine Umarmung sein, dort nur der Ellenbogen. Verlegene Blicke. Verkrampftes Lächeln. „Stellen wir uns zu sehr an?“, fragen wir uns, während wir uns anstellen. Hier sind doch alle getestet oder geimpft. Aber trotzdem kann das doch nicht richtig sein, fühlt das sich nicht richtig an. Noch?

Was haben wir geflucht, als sich das Kulturangebot im März 2020 gezwungenermaßen in den digitalen Raum verlagerte. Kinofilme auf dem Laptop? Das wird doch dem Film nicht gerecht! Opern über Computerlautsprecher? Was für ein Frevel! Museumsbesuche mit der Maus? Wieso hat sich denn die verfluchte Webseite schon wieder aufgehängt!

Nein, die digitalen Angebote können das kulturelle Erlebnis nicht kompensieren. Die körperlich erfahrbare Wucht eines Orchesters. Der schweißtreibende Exzess eines Rockkonzerts. Das kollektive Gelächter im Zuschauerraum. Die Aura eines Kunstwerks, die man nur bei einer Annäherung durchdringt. Unersetzlich.

Und dann das Zeremoniell des kulturellen Ereignisses. Die liebgewonnenen Rituale, die oft schon Tage im Voraus beginnen. Die Vorfreude beim Blick in den Kalender, die achtsame Wahl der Kleidung, das kleine Abenteuer der Anreise. Sekt und Programmheft. Bier und Merchandisestand. Popcorn und Nachos.

Blickkontakte sind kaum auszuhalten

Jetzt ist all das plötzlich wieder da. Einfach so. Nach 16 Monaten. Ohne Eingewöhnungskurs. Da sitzen Menschen beim Open Air dicht beieinander vor der Bühne. Strahlende Gesichter. Befreites Gelächter. Der süße Geruch von Marihuana, der über den Köpfen wabert. Aufgeregtes Schnattern. Die Luft vibriert vor Vorfreude. Und doch stimmt hier etwas nicht. Der eigene Blick schweift leicht panisch umher. Man zuckt bei lauten Rufen zusammen. Erwischt sich bei ungelenken Ausweichbewegungen. Blickkontakte sind kaum auszuhalten. Benommene Beklemmung breitet sich aus.

Viele Menschen erzählen in diesen Tagen, dass sie ein hypersensibilisiertes Verhältnis zu ihrer Umwelt entwickelt haben – bis hin zu Angstzuständen. Im englischsprachigen Raum kursiert das Schlagwort des „Cave-Syndroms“. Es soll das paradoxe Verhalten beschreiben, dass Menschen sich trotz Lockerungen und sinkender Infektionszahlen weiterhin zurückziehen und lieber zu Hause bleiben. Eine Umfrage des US-amerikanischen Fachverbands der Psychologie ergab, dass sich in den Vereinigten Staaten knapp die Hälfte der Bevölkerung unwohl fühlt beim Gedanken an soziale Kontakte nach dem Ende der Pandemie.

Und dann ist da dieser englische Fan, der beim Public Viewing als Einziger bei jeder Torraumszene aufspringt und seine Mitmenschen mit einem Sprühnebel aus Speichel und Bier überzieht. Genervte Blicke, Bitten der Mäßigung. „Go for it!“ ist seine Antwort. Er meint den Stürmer Harry Kane. Aber doch irgendwie uns alle. Stimmt, früher war mehr Stimmung, wenn Menschen zusammenkamen. Aber vielleicht muss auch nicht alles wieder so werden wie früher.

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