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Der Pianist Daniil Trifonov ist Artist in Residence der Berliner Philharmoniker.

© Dario Acosta/DG

Andris Nelsons dirigiert die Philharmoniker: Eiskalt im Zwiespalt

Weite und Überschwang: Andris Nelsons dirigiert die Berliner Philharmoniker, Daniil Trifonov spielt das rare Skrjabin-Klavierkonzert.

„Mein Gott, dafür werden sie dich aufknüpfen!“, soll Maxim Schostakowitsch seinem Vater nach der Generalprobe der 11. Symphonie 1957 zugerufen haben. Der Komponistensohn konnte durch all die herbeizitierten Propagandalieder hindurch hören, vorbei am offiziellen Programm der Symphonie, das an eine gefeierte Wegmarke der Revolution erinnert, die zaristischen Gräueltaten des Jahres 1905. Als Schostakowitsch seine Symphonie schrieb, war der Volksaufstand in Ungarn gerade erst niedergeschlagen worden. Die Geschichte, die durch seine Musik weht, ist von elementarer Kälte, nie weicht die Angst aus ihr.

Andris Nelsons, 40, hat dafür ein feines Gespür. Mit seinem Boston Symphony Orchestra hat er einen Zyklus der Schostakowitsch-Symphonien eingespielt. Nun dirigiert er die Elfte bei den Berliner Philharmonikern, einem Orchester, das dem lettischen Dirigenten in großer Sympathie zugetan ist. Nelsons Arbeitslast als transatlantischer Chef in Boston und Leipzig hat seine Körperfülle anschwellen lassen, der Schritt aufs Podium ist schwer und unrund. Sein Dirigieren scheint sparsamer geworden und bewegt sich wie bei seinem Mentor Mariss Jansons festgezurrt auf Schulterhöhe. Bei Schostakowitsch spielt er die beinahe cinematographische Weite der Musik aus, vom eisigen Platz vor dem Winterpalais bis hin zu den finalen Sturmglocken, die vom Fall eines Tyrannen künden und doch keine Erlösung versprechen, weil ein nächster seinen Platz einnehmen wird. Fern hält sich Nelsons von den Propagandaklängen, hört durch sie hindurch, wie es Maxim Schostakowitsch getan hat. Damit verzichtet er auf manche musikalische Volte, klärt das Werk für heutige Ohren, nimmt ihm aber auch etwas von seinem unbequemen Zwiespalt.

Vor der Pause rauscht eine Rarität beinahe zu schnell vorüber: Daniil Trifonov, den Philharmonikern als Artist in Residence verbunden, spielt Skrjabins einzige Komposition für Klavier und Orchester. Dieses Jugendwerk schätzte der Verfasser später selbst nicht mehr wirklich, vielleicht, weil es ihn doch mehr in konventionelle Formen presste als zunächst gehofft. Trifonov wirft sich umso gewagter in jedes noch so kurze poetische Aufblühen, macht das Unstete zu seinem Element, spielt mit halber Lautstärke und vollem Gefühl. Nelsons verordnet den Philharmonikern als Gegenpart zum Überschwang ein kühl gefasstes Klangbild, das zu sehr Antithese bleibt, um tiefer fesseln zu können.

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