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Meister der Widersprüche. Bei All diese Gewalt trifft Introvertiertheit auf Angriffslust, verhüllte Verletzlichkeit auf Durchschlagskraft.

© Glitterhouse Records/Indigo

„Andere“ von All diese Gewalt: Max Rieger wird diesen Text furchtbar finden

All diese Gewalt ist das Soloprojekt von Die Nerven-Sänger Max Rieger. Sein Album „Andere“ ist das berührende Zeugnis einer Selbstdekonstruktion.

Am Anfang stand der Ton eines Pianos. Aufgenommen mit dem Smartphone. Er mochte die Textur des Klangs, erklärt Max Rieger. Also schickte er ihn in einen Loop und textete darüber: „Ich weiß, ich bin allein und werde es immer sein / Ist schon okay“.

Es sind die ersten Momente von „Andere“, dem neuen Album von All diese Gewalt. Und bereits der Opener „Halte mich“ hört sich verdächtig nach Lockdown-Blues an – zumal darauf auch Titel wie „Maske“ zu finden sind. Dabei war die Arbeit am Album bereits im Januar beendet. Damals, als Corona noch ein Wetterleuchten im Osten war.

Doch am Leben verzweifeln und sich furchtbar einsam fühlen, das konnte der Mensch auch hervorragend in den Jahrhunderten vor der neuen Zeitrechnung. Und einer der schon immer wusste, wie man dieses Ringen vertont, ist Max Rieger.

Selbstverständlich macht der ewige Grübler dabei auch vor dem eigenen Werk nicht Halt: „Ich finde das Album, so wie es jetzt geworden ist, furchtbar.“ Nun könnte man an dieser Stelle die Besprechung von „Andere“ abbrechen.

Zumal Rieger ergänzt, dass neunzig Prozent von dem, was er erschaffe, schlichtweg Müll sei. Zweifeln, umwerfen, neu machen. Selbst als die Platte schon im Presswerk lag, überlegte er dort anzurufen, um noch Änderungen vorzunehmen.

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Man könnte die harschen Worte aber auch als Einladung in die Welt eines ewigen Haderers werten. Und irgendwer muss den Typen schließlich auf dem Boden halten. Kaum ein anderer Künstler wurde von der Musikkritik hierzulande in jüngerer Vergangenheit so mit Lob überschüttet wie der 27-Jährige.

Der in Esslingen geborene Zweimetermann ist nicht nur Sänger und Gitarrist der Band Die Nerven, er hat mit den Alben von Ilgen-Nur, Jungstötter, Drangsal, Friends of Gas oder Karies zuletzt auch gefühlt alle herausragenden Veröffentlichungen abseits der deutschen Albencharts produziert. Zudem trat er als Komponist für die musikalische Untermalung von Filmen wie „Berlin Alexanderplatz“ in Erscheinung.

Die Verbalorden an Riegers Revers reihen sich also aneinander. „Papst von Deutschlands Underground“ soll er sein, oder „Meister der Popmelancholie“. Auch in dieser Zeitung war schon vom „deutschen Rick Rubin“ die Rede. Irgendwer verglich ihn gar mit Billie Eilish.

Zwischen Hans Zimmer und Thom Yorke

Aber Fame schien Rieger noch nie großartig zu jucken. Der künstlerische Ausdruck steht bei ihm im Mittelpunkt. „Seit ich Musik mache, wollte ich immer etwas haben, das nur meines ist.“ 2014 erschien mit „Kein Punkt Wird Mehr Fixiert“ das Debüt von All diese Gewalt. Darauf finden sich dronige Ambientflächen. Diffus. Mäandernd. Verwaschen. Keineswegs das Ergebnis eines ästhetischen Konzeptes, vielmehr vertontes Dokument des eigenen Unterbewusstseins – in Kombination mit lausigen Produktionsbedingungen.

Folgt man dieser Selbstanalyse Riegers auf dem Pfad der Küchenpsychologie, so scheint es in ihm zunehmend aufzuklaren. Auf „Andere“ treten klassische Songstrukturen deutlicher zu Tage, puckernde Rythmen münden in Refrains mit eingängigen Melodien. Da stehen beatgetriebene Pophits wie „Erfolgreiche Life“ (eine Breitseite gegen die Influencerisierung der Gesellschaft) neben dem von hallenden Gitarren getragenen „Grenzen“.

Das Vorgängeralbum hieß „Welt in Klammern“. Diese werden nun aufgebogen, Grenzen konsequent überschritten – ohne dass das Gefüge dabei auseinanderfällt. Noch immer zaubert Rieger opulente Soundwelten, die sich zwischen dem Anmut des Avantgardekomponisten William Basinski, dem cineastischen Bombast von Hans Zimmer und den elektronischen Nebelschwaden von Thom Yorke bewegen. „Ich kuratiere Zeit“, nennt er das. Und das bedeutet: Atmosphäre statt Narrativ.

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Darüber singt ein zärtlicherer Rieger als jener, der bei Die Nerven gereizt am Mikrofon zetert. Über die Vielgestaltigkeit der Klangteppiche textet er über seelischen Schmerz und Unsicherheit.

Vier Jahre „vertonte Selbstdekonstruktion“ lägen hinter ihm. Und in diese Prozesse gewährt er großzügig Einblicke. Dazu bedient er sich einer unverstellten Sprache. Vage Bilder wollte er vermeiden, auch weil längst esoterisch-rechtslastige Kreise diese gefühligen Kommunikationsmuster bedienten.

Der großartige Titelsong steht ganz am Schluss. „Andere“ ist eine von einem gluckernden Arpeggio geschaukelte Hymne über den ständigen Abgleich mit der Außenwelt. Doch ausgerechnet diese Anderen da draußen werde so schnell nicht in den Livegenuss des Albums kommen.

Auch ohne den coronabedingten Kultur-Lockdown hatte der Wahlberliner Rieger nie eine Tour geplant. Zu sehr sei das Werk etwas „Individuelles und Intimes“. Die Vorstellung, ein Publikum dabei zu beobachten, wie es auf seine Kompositionen reagiere, befremde ihn.

Rieger kommt aus dem Ländle

Dass er dann letztlich doch nicht alles preisgeben will, lässt sich auch am Cover ablesen. Da ist eine Gestalt zu sehen, in rotes Tuch gehüllt. Einzig die Hände lugen hervor und umklammern ein Sturmgewehr im Anschlag. Introvertiertheit trifft auf zähnefletschende Angriffslust, verhüllte Verletzlichkeit auf maximale Durchschlagskraft.

Bleibt nur noch eine Frage zu klären: Warum soll das nun eigentlich furchtbar sein? „Ganz einfach gesagt: Weil die letzten vier Jahre furchtbar für mich waren“, sagt Rieger und lässt dann doch etwas Hoffnung aufscheinen. „Ich freue mich darüber, wenn ich merke, dass ich nicht alleine bin.“

Was da ist, da sein lassen. Im Wissen, dass es bald schon anders sein wird. Wie Hegel kommt Max Rieger aus dem Ländle. Und schwingt sich auf, den großen Dialektiker popkulturell zu beerben. Noch so ein gewichtiger Orden am Revers. Er wird auch das furchtbar finden. Sorry.

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