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Kronzeuge der Autoren. Huronenhäuptling Kondiaronk im dipolonatischen Gespräch mit den Irokesen (1688).

© Wikimedia

Anarchistische Anthropologie: Häuptlinge durch Gelächter vertreiben

David Graeber und David Wengrow entdecken indigenes Denken als Wurzel der Aufklärung.

Am 6. August 2020 war es geschafft, nach zehn Jahren Arbeit. David Graeber kommentierte: „Mein Geist ist wie geprellt von dumpfer Überraschung.“ Einen Monat später, am 2. September starb der Anthropologie-Professor, Anarchist und Miterfinder der Occupy-Wallstreet-Bewegung während einer Urlaubsreise in Venedig.

Zehn Jahre. Soviel braucht wohl, wer „eine neue Geschichte der Menschheit“ schreiben will. Der Co-Autor und Archäologe David Wengrow musste „The Dawn of Everything“, so der Originaltitel, nun allein herausgegeben.

[David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm u.a. Klett-Cotta, Stuttgart 2022. 672 Seiten, 28 €.]

Die Autoren wenden sich gegen die gängige Vorstellung, die menschliche Entwicklung könne nach gut definierbaren Entwicklungsschritten verstanden werden: Auf einfache, egalitäre Jäger- und Sammlergruppen folgen komplexere, Ackerbau betreibende Gesellschaften, womit zwangsläufig die Zunahme von Ungleichheit, Zentralismus und Herrschaft verbunden sei. Für einen Anarchisten wie Graeber kein willkommener Gedanke.

Überschätzte Philosophen der Aufklärung

Wengrow und Graeber zufolge sei dieses Stufenmodell entstanden „in einer konservativen Gegenreaktion gegen die Kritik an der europäischen Zivilisation, die in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts an Boden gewann.“

Wir befinden uns demnach mitten im Zeitalter der Aufklärung. Und jetzt kommt die Pointe: Die Ursprünge der aufklärerischen Kritik selbst lägen jedoch „nicht bei den Philosophen der Aufklärung, sondern bei den indigenen Kommentatoren und Beobachtern der europäischen Gesellschaft.“

Fürwahr eine steile These. Vielleicht lag eine Übertreibung zur Kenntlichkeit in der Absicht der Autoren, unhaltbar ist sie wohl trotzdem. Das Verdienst dieses Buches liegt woanders, nämlich in der Sichtung und Zusammenschau jüngster archäologischer Befunde. Graeber und Wengrow lassen uns gleichsam die Vorgeschichte in Farbe sehen.

Die Monumente von Göbekli Tepe waren lange ein Rätsel: Solche Bauten wie die in Südostanatolien traute man Jägern und Sammlern nicht zu. Sie erforderten planmäßig zusammenwirkende Menschen und vor allem solche, die gerade nicht jagten. Graeber und Wengrow verweisen auf das Muster „großer saisonaler Versammlungen“, zu denen die sonst in kleinen Verbänden Lebenden zusammenströmten, in „festlicher Arbeit“ gemeinsam Riesenwerke schufen, während die großen Gazellenherden schussgerecht vorbeiströmten.

Hierarchien aufbauen und einreißen

Einen Staat bilden für eine Saison! Diese Existenzform hat die volle Sympathie der Autoren, und sie entdecken sie rund um den Globus. Die Völker der Great Plains in Nordamerika schufen zur Büffeljagd sogar eine stammesübergreifende Polizei, die kurz darauf nichts mehr zu sagen hatte. Hierarchien aufbauen und wieder einreißen!

Die ersten Könige könnten, vermuten Graeber und Wengrow Könige für eine Saison gewesen sein: „Das wirkliche Rätsel ist nicht, wann erstmals Häuptlinge oder Chefs oder sogar Könige und Königinnen auf der Bildfläche erschienen, sondern ab wann es nicht mehr möglich war, sie einfach durch Gelächter zu vertreiben.“ So absurd ist die Frage nicht.

Fest steht, dass es nie leicht war, Häuptling zu sein. Der Häuptling war eine große Umverteilungsinstanz, er musste die Bedürftigen versorgen und wenn er Missfallen erregte, wurde er einfach verlassen. So fing das an. Und was haben die Völker der Great Plains nach 1600 und die Erbauer von Stonehenge gemeinsam? Sie waren alle schon einmal Bauern gewesen, um schließlich – ohne jeden Sinn für gesellschaftlichen Fortschritt – doch wieder zum Sammeln zurückzukehren. Allerdings behielten die Erbauer von Stonehenge ihre Hausschweine und die Cheyenne die Pferde der Spanier.

Lob der Schismogenese

Wunderbar auch das Porträt des kriegerischen, Sklaven haltenden amerikanischen Nordwestküsten-Fischer-Adels und seiner südlichen Nachbarn in Kalifornien. Beide Völker pflegten geradezu entgegengesetzte Lebensweisen, höchstwahrscheinlich sogar, weil sie voneinander wussten. Graeber und Wengrow nennen das Schismogenese.

Über 600 Seiten frühe Unordnung. Aber spätestens mit der Erfindung der Stadt ist Ordnung da, meinte man immer, also Hierarchie, Herrschaft, Priesterkaste, das ganze Patriarchat. An dieser Stelle präsentieren Graeber und Wengrow ihre erstaunlichsten Befunde wie Nebelivka oder Taljanky in der heutigen Ukraine, mit über 1000 kreisförmig angeordneten Häusern, bewohnt zwischen 4100 bis 3300 v.u.Z. und ganz ohne Anzeichen zentralistischer Herrschaft.

Selbst die Heimstatt der Schrift Uruk in Mesopotamien soll anfangs eher durch städtischen Selbstverwaltungen als durch absolute Herrscher regiert worden sein. Es ist ein wunderbarer Ansatz, diese Befunde in direkten Bezug zum Herzstück des europäischen Selbstverständnisses zu setzen, zur Aufklärung.

Kondiaronk vom Volk der Huronen wird zum Kronzeugen der Autoren, er war es bereits für die Aufklärer: Unter dem Namen Adario trat er in dem 1704 veröffentlichten Bestseller „Dialogues avec le sauvage Adario“ des Barons de Lahontan auf. Graeber und Wengrow machen von Anfang an klar, in welcher Rolle sie ihn sehen: als „amerikanischen Intellektuellen“. Als Intellektuellen definieren sie „alle, die sich gewohnheitsmäßig über abstrakte Gedanken streiten“.

Kondiaronk war vor dem Hintergrund des eigenen Götter- als Ahnenhimmels sehr empfänglich für die Absurditäten des Glaubens an den christlichen Eingott. Und mit dem Blick des Fremden erkannte er, was wohl alle amerikanischen Ureinwohner wahrnahmen, die europäische Gesellschaften je mit eigenen Augen sahen: Im Vergleich zu uns lebt ihr wie Sklaven!

Hauptschuldiger Geld

Wie kann man zuschauen, wenn ein Mensch auf offener Straße verhungert? Nur Europäer können das. Und Kondiaronk identifizierte auch den Hauptschuldigen dieser Gabe: das Geld, das alle menschlichen Verhältnisse bestimmt.

Schade, dass niemand dem Huronen-Diplomaten Kondiaronk Thomas Hobbes’ „Leviathan“ vorgelesen hat. Hobbes hat das Urbild der Geschichtserzählung geschaffen, das bis heute gilt: Der Mensch ist ein egoistisches Wesen, das nur durch starke Institutionen zu zähmen ist. Und Adam Smith machte genau dort weiter und erfand den homo oeconomicus. Kondarionk und wahrscheinlich alle frühen Völker der Erde hätten Hobbes ausgelacht, und Smith gleich mit. Und dem Anarchisten Graeber dabei aus der Seele gelacht. Völlig zurecht.

Aber was ist mit dem Anti-Hobbesianer Rousseau und seiner Anarchisten-Seele? Sollte er nicht alle Sympathien der Autoren auf sich ziehen? Das Gegenteil ist der Fall. Rousseaus „eigene Erfahrungen mit sozialer Gleichheit reichten vermutlich kaum weiter als die Ausgabe gleich großer Stücke Kuchen auf einem Abendempfang“, behaupten die Autoren. Leider ist ein solcher Satz offenkundigen Unfugs kein Einzelfall.

Rousseau hat bereits seine erste Abhandlung als „Citoyen de Geneve“ unterschrieben, nicht als Hurone (was folgerichtig gewesen wäre, hätte die „indigene Kritik“ die Aufklärung auf den Plan gerufen). Wirklich ärgerlich ist, dass Graeber und Wengrow Rousseau beschuldigen, den „Mythos vom dummen Wilden“ in die Welt gesetzt zu haben, samt aller rassistischen Stereotype der Zukunft. Haben sie diesen Autor denn nie gelesen?

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Der Citoyen – das Wort bekam erst durch Rousseau seinen heutigen Klang – das war der Horizont der Aufklärung. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Für alle Huronen und ihre Freunde!, hätte Kondiaronk hinzufügen müssen: Und Tod unseren Feinden! Diese Ambivalenz der conditio humana und aller frühen Gesellschaften – Solidarität nach innen, erbitterte Feindschaft nach außen – lösen Graeber und Wengrow nicht auf.

Lieber 1000 Marterpfähle als ein manifester Staat, mögen sie sich gesagt haben. Dem muss man nicht folgen. Und überall scheint am Ende doch das so befehdete „Stufenmodell“ durch. Aber „Anfänge“ schärft unseren Sinn für die ungeheure Vielfalt beginnender Vergesellschaftung, und das ist großartig.

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