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Der Argentinier Osías

© Sopol de humo (Blow of smoke), 2019, Courtesy Osia Yanov

An diesem Samstag geht es los: Alte Geister, neue Riten – alles über die Berlin Biennale 2020

Radikaler Richtungswechsel: Die 11. Berlin Biennale gehört den Künstlern Südamerikas. Sie findet unter anderen in den Kunst-Werken und im Gropius Bau statt.

Wer zunächst das „Guidebook“ der 11. Berlin Biennale liest, könnte einen Schreck bekommen. Darin ballern die vier Kuratoren mit Begriffen und Bildern nur so um sich: „In ihren zahlreichen Mutationen setzt die Religion des Kolonialkapitalismus den kriminellen Amoklauf gegen die wachsende Mehrheit der Ungläubigen fort“, heißt es zum Kapitel in den Kunst-Werken, das sich den patriarchalen Strukturen in der Gesellschaft und ihrer Überwindung widmet. Renata Cervetto, Augustin Pérez Rubio, Lisette Lagnado und María Berríos, das Kuratorenquartett aus Südamerika, bringt rhetorisch starken Tobak mit. Aus ihren Heimatländern kennen sie dramatische Lebensumstände, die sie einen anderen, dringenderen Ton ergreifen lassen.

Diese Biennale ist emotional und empathisch wie wohl keine andere zuvor. „Der Riss beginnt im Inneren“ lautet ihr Titel, um gleich klarzustellen, dass die bestehenden Verhältnisse bereits ihre Stabilität verlieren. Das System der „weißen Väter“ wankt, zumindest besteht Hoffnung. Zugleich ist diese Biennale ein kleines Wunder: dass sie mit ihrer Abschlussausstellung, die ursprünglich für Juni vorgesehen war, überhaupt stattfindet. Auch hier machte Corona einen Strich durch die Rechnung.

Zwar hat diese Biennale, genau genommen, schon vor einem Jahr begonnen mit den drei aufeinander folgenden Workshop-Ausstellungen „experiences“ bei Ex-Rotaprint im Wedding, um das Blockbuster-Gesetz der Biennalen auszuhebeln. Doch der „Epilog“ genannte Hauptakt – nunmehr an den Standorten Kunst-Werke, Gropius-Bau, daad-Galerie und Ex-Rotaprint – war stark gefährdet. Der Großteil der Teilnehmer kommt wie die Kuratoren aus Südamerika. Nicht alle Werke konnten wie geplant reisen, wegen dem dort weithin noch geltenden Lockdown durften es schon gar nicht die Künstler.

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Vielleicht begleitet deshalb die Betrachtung ihrer Beiträge eine ganz andere Anteilnahme, ja Staunen. Ihre Werke entfalten eine Wucht und Aggression, die man geballt hier selten so erlebt hat. In der großen Halle der Kunst-Werke scheint es, als wollten die Biennale-Kuratoren einen Exorzismus betreiben. Aus der Werkserie „Bauen Sie Ihre eigene Sixtinische Kapelle“ des brasilianischen Malers Pedro Moraleido Bernardes, der sich 1999 mit gerade einmal 22 Jahren das Leben nahm, konstruierten sie einen Hochaltar. Auf seinen neo-expressiven Bildern sind Menschen, Monster, zerstückelte Kreaturen bei gewaltsamem Sex zu sehen.

Davor liegen im Kreis die zehn Gekreuzigten des in Berlin lebenden südkoreanischen Künstlers Youn-jun Tak. Er zitiert die Störmanöver christlicher Fanatiker in seiner Heimat, die auf diese Weise die jährlichen Pride-Paraden zu blockieren versuchen. Die Körper der Christusfiguren sind mit ihren anti-LGBTQI-Flyern beklebt. Die argentinische Zeichnerin Florencia Rodriguez Giles wiederum flüchtet sich in psychedelische Fantasien, in denen sich monströse weibliche Figuren lecken und masturbieren. Die in den Kunst-Werken für die Biennale erbaute Anti-Kirche ist wie ein Aufschrei. „Wir sind die Enkel*innen der Hexen, die ihr verbrannt habt“, rufen die Stimmen, so das Kuratorenteam im Guidebook.

Dabei ist auch die Berliner Malerin Galli, einst eine der "Neuen Wilden"

Hochtourig, wenn auch mit verhalteneren Tönen geht es weiter. Die Philippinin Kiri Dalena filmte ein verwaistes Geschwisterpaar beim hingebungsvollen Spiel. Dessen Eltern wurden als Süchtige in dem von der Regierung erklärten Drogenkrieg getötet. Malgorzata Mirga-Tas rekonstruiert ins Wachs Teile des 2011 von ihr geschaffene Denkmals zur Erinnerung an die 1942 in Borzecin Dolny von deutschen Soldaten ermordeten Roma. Fünf Jahre später war ihr öffentliches Denkmal mutwillig zerstört worden. Von der heute in London lebenden Kurdin Zehra Dogan ist eine in Haft gezeichnete Graphic Novel ausgestellt, die von Folter, Leid und Solidarität der Frauen im türkischen Gefängnis handelt.

Wie die Berliner Malerin Galli, die einst zu den „Neuen Wilden“ gehörte, dazwischen gefunden hat, ist zugleich ein Rätsel und Glücksfall. Starkfarbig, surreal, betont körperlich ähnlich ihren sehr viel jüngeren Kollegen rundum arbeitet auch die heute 76-Jährige. Ihr Werk gilt es unbedingt wieder zu entdecken. Den Anstoß dazu gegeben zu haben, ist schon jetzt ein Verdienst dieser Biennale. Nicola Kuhn

Im Gropius Bau wird die Logik europäischer Museen als brutale Aneignung entlarvt

Beispiel für ein alternatives Museumsprojekt, das "Museo de la Solidaridad Salvador Allende", ausgestellt im Gropius Bau.
Beispiel für ein alternatives Museumsprojekt, das "Museo de la Solidaridad Salvador Allende", ausgestellt im Gropius Bau.

© 11. Berlin Biennale

Der Gropius Bau ist im Biennale-Parcours idealerweise die dritte Station. Nachdem man sich in der daad-Galerie mit rebellischen Körpern und der Politik der Kleidung auseinandergesetzt hat, landet man hier im „umgekehrten Museum“. Gleich der erste Beitrag in den Ausstellungsräumen im zweiten Stock des Hauses gibt die Richtung vor. Die Ausstellungslogik europäischer, ethnografischer Museen wird hier als brutale Aneignung entlarvt. Die Künstlerin Sandra Gamarra Heshiki aus Lima hat in mehreren Vitrinen kleine Figurinen aus der Inka- und Vorinkazeit versammelt.

Die schweben allerdings in der Luft und sind auch sonst nicht, was man erwartet. Sie sind nämlich einfach auf Plexiglas gemalt. Umkreist man sie, um ihre Flachheit zu ergründen, sieht man, dass abwertende Begriffen wie „nativo“ oder „primitivo“ auf die Rückseiten der Figuren geschrieben sind. Heshikis Installation, zu der auch vier bildstarke, figurative Gemälde gehören, sprechen von der Abwertung, die der globale Norden dem globalen Süden angedeihen lässt. Die einen klassifizieren, benennen und befüllen ihre Glaskästen. Die anderen werden leergesaugt. Und beide haben mit diesem Erbe zu leben.

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Im gut betexteten „Guidebook“ der Berlin Biennale wird das Machtgefälle mit deutlichen Worten beschrieben. „Wie beweinen wir, was nie sein durfte“, schreiben die Kuratoren. „Die aus der Geschichte Getilgten fragen nicht, ob sie leben dürfen, und sie weigern sich zu vergessen.“ So vorbereitet, erwartet man den Schmerz, der durch Kolonisierung entstanden ist, drastisch vor Augen geführt zu bekommen. Das ist dann nicht so.

Die etwa 25 künstlerischen Positionen, die im Gropius Bau versammelt sind, thematisieren mal laut, mal leise, mal sachlich, mal handwerklich, die koloniale Gewalt und von außen aufgedrückte Kategorisierungen hinterlassen. Es kommen Gruppen zu Wort, die in der Kunstwelt und in der Gesellschaft ausgegrenzt werden: Francisco Huichaqueo, ein Filmemacher aus Chile, der als Aktivist für die Rechte der Mapuche kämpft. Barolina Xixa, eine Dragqueen aus den Anden, die in einem Musikvideo eine anmutige Choreographie inmitten einer Müllhalde aufführt.

Das Thema Mutter findet sich immer wieder in der Ausstellung

Aus dem „Museu de Arte Osório Cesar, Franco de Rocha“ in Brasilien sind Bilder von Patienten aus einer psychiatrischen Klinik zu sehen. Ein Film versucht, die besondere Verbindung zwischen Kunst und Unbewusstem zu erklären.

Das Thema „Mutter“ blitzt hier und auch an anderen Stellen auf. Sehr stark ist der Raum, in dem Bilder von Käthe Kollwitz, Zeichnungen des brasilianischen Künstlers Flávio de Carvalho, der Leifigur dieser Biennale, und der mit Video und Performance arbeitenden Belgrader Künstlerin Katarina Zdjelar zusammenkommen. De Carvalho hat die letzten Atemzüge seiner sterbenden Mutter porträtiert, die Radierungen und Drucke von Käthe Kollwitz zeigen kollektiv kämpfende Frauen und Zdjelars Video-Installation bringt mit der Dresdner Choreografin Dore Hoyer (1911-1967) noch eine weitere Feministin ins Spiel und zwar mit ihrem „Tanz für Käthe“, der hier neu interpretiert wird.

Diese Biennale ist nicht für den schnelle Blick gemacht

Großartig ist auch der politische Missstände benennende, genähte und gestickte, irre detaillierte Wandteppich des philippinischen Künstlers Cian Dayrit. Neben einer gesteppten Landkarte samt Infografik sind sogar QR-Codes enthalten, die auf Nachrichtenseiten in Facebook weiterleiten.

Diese Biennale ist nicht für den schnellen Blick gemacht. Sie begann 2019 mit einer langsamen Öffnung und auch jetzt, beim Epilog, braucht man Zeit. Das Kuratorenteam hat besonderen Wert auf die Vermittlung gelegt, auf Treffen, Gespräche und Workshops. Viele der indigenen Künstler aus südamerikanischen Ländern hätte man in Berlin treffen können, das gehört eigentlich dazu. Corona hat vieles verhindert. In der Begegnungszentrale der Biennale, bei Ex-Rotaprint in Wedding, sollte man trotzdem vorbeischauen. Dort gibt es weitere Installationen, Video-Botschaften von Künstler*innen, die nicht anreisen konnten und sicher auch viele Gespräche. Birgit Rieger
5. September bis 1. November, Kunst-Werke, daadgalerie und c/o ExRotaprint haben von Mi-Mo von 11-19 Uhr geöffnet. Gropius Bau: Mi- Mo, 10 - 19 Uhr. Weitere Infos: 11.berlinbiennale.de

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