zum Hauptinhalt
Man sieht ihn nicht vor lauter Bäumen. Der Wald – hier in einer Aufnahme aus Brandenburg – ist der mythische Ort der Deutschen schlechthin.

© dpa

Am liebsten tief im Wald: Was heißt hier Heimat?

Germanen, Gastarbeiter, Menschen auf der Flucht: ein Panorama deutscher Bilder

In einer Serie der Fotografin Candida Höfer posieren Türken vor der Kamera: Es sind die siebziger Jahre, die Einwanderung hat deutschen Großstädten ein anderes Gesicht gegeben. Geschäfte tragen türkische Namen, Lebensmittel und Dinge des Alltags werden importiert, die bald auch schon deutsche Käufer interessieren werden. Die Menschen in den Aufnahmen von Candida Höfer bauten deutsche Metzgereien zu türkischen Lebensmittelgeschäften um. In ihren Wohnzimmern hängen Atatürk-Porträts neben Gummibäumen und der Schrankwand, die auch deutsche Haushalte jener Jahre zieren.

Die als Diaprojektion präsentierte Serie „Türken in Deutschland“ zeigt, dass Deutschland nicht erst seit 1998 ein Einwanderungsland ist, als die rot-grüne Regierung erstmals laut artikulierte, was längst schon sichtbar war. Bereits mit den ersten „Gastarbeitern“ veränderte sich die deutsche Gesellschaft.

In jenen ersten Jahren der Arbeitsmigration nach Deutschland erschienen zahlreiche Ratgeber und Studien zum Umgang mit den „Ausländern“ und ihren Status als Fremde. Auch wenn viele dieser Bücher für mehr Toleranz warben, so betonten sie doch den Unterschied zwischen dem Fremden und Eigenen, das sich in Aussehen, Sprache, Religion und kultureller Differenz ausdrücke: „Der Gastarbeiter ist auch insofern anders als wir, als er sich viel direkter und unmittelbarer gegenüber anderen Menschen verhält, er zeigt seine Gefühle“, heißt es 1970 in der Broschüre „Warum brauchen wir Gastarbeiter?“.

Der Begriff „Gast“ im Kuppelwort vermittelt dabei, dass diese Menschen nur auf Zeit anwesend sind und irgendwann in ihr Herkunftsland zurückkehren. Unwahrscheinlich ist in dieser Logik, dass ihr Gastland ihnen eine Heimat sein kann. Nicht von ungefähr wird der Begriff der „Heimat“ seit den 1960er Jahren, dem Beginn der Arbeitsmigration, immer wieder aufgerufen: Fragend, zweifelnd oder stolz werden deutsche Landschaften, deutsche Sprache oder Kultur auf ihr Identifikationspotenzial befragt. 1965 etwa strahlt der Deutschlandfunk die Gesprächsreihe „Was ist deutsch?“ aus, in der Theodor W. Adorno oder Karl Jaspers um die schwierige Frage des Deutschen ringen. Noch liegt die Zeit des Nationalsozialismus nicht weit zurück, und doch kann wieder nach „dem“ Deutschen und damit auch nach Herkunft und Heimat geforscht werden.

In den 1960er Jahren unternehmen Fotografen wie René Burri oder Stefan Moses fotografische Streifzüge durch Deutschland. Während Burri für sein Fotobuch „Die Deutschen“ (1962) Alltagsszenen in West- und Ostdeutschland aufnimmt, lichtet Moses seine Deutschen unter freiem Himmel in einem provisorischen Fotostudio ab. In seiner Fotoserie für die Zeitschrift „Stern“ (1964), die den bezeichnenden Titel „Nachbarn“ trägt, zeigt er Losverkäufer, Zeitungshändler und Landärzte. Moses’ Porträtserie bildet einen Querschnitt durch die bundesdeutsche Gesellschaft ab und erscheint später unter dem Buchtitel „Deutsche“ (1980): Die Fotografierten eint die gemeinsame Herkunft.

Kinderbilder spiegeln das neue Deutschland

2012 publiziert das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ eine Ausgabe zum Thema „Was ist Heimat?“, die mit verschiedenen Titelbildern erscheint. Unter den Motiven befinden sich Landschaften, die der Fotograf Peter Bialobrzeski für seinen Bildband „Heimat“ (2005) mit der Großbildkamera fotografiert hatte. Bialobrzeskis Aufnahmen zeigen Berge, Wälder und Seen. Die Menschen sind oft verschwindend klein und längst Teil dieser beeindruckenden Landschaften geworden. Dabei handelt es sich um Perspektiven und Ausschnitte, die sich mitunter auch in Gemälden des romantischen Malers Caspar David Friedrich finden. Panoramatische Berglandschaften oder der Blick auf ein Seestück weisen also zurück auf eine künstlerische Idee des frühen 19. Jahrhunderts, als unter dem Eindruck deutsch-französischer Konflikte nationales Denken erstarkte. Friedrich hat den Wünschen nach einer deutschen Kultur ikonische Landschaftsbilder gegeben, die unsere Vorstellungen von Deutschland als Heimat bis in die Gegenwart prägen.

Heimat ist auch ein Thema für die zeitgenössische Kunst, die sich gegenwärtig intensiv mit der Frage beschäftigt, was Heimat sein könne. Häufig werden kollektive Vorstellungen von Heimat künstlerisch reflektiert und gebrochen. Der Medienkünstler Julian Rosefeldt etwa dekonstruiert in seiner Videoinstallation „Meine Heimat ist ein düsteres wolkenverhangenes Land“ (2011) traditionsreiche Deutschlandbilder. Der Wald hat im Zusammenhang mit dem Kult um die Hermannsschlacht seinen großen Auftritt. Arminius (später Hermann genannt) schlug die Römer durch ausgefeilte Guerillataktik.

Ihm zur Seite stand als Verbündeter der deutsche Wald, in dem sich die deutschen Einheiten verschanzen konnten. Aus diesem Grün sind die Deutschen nicht wieder hinausgekommen, denn noch immer hat der Wald als spezifische Topographie in der deutschen Kultur und im Alltag zentrale Bedeutung – egal ob als Schauplatz im sonntäglichen Tatort, als Kulisse der Grimm’schen Märchen oder in den 1980er Jahren im Zuge der deutschen Angst um das Waldsterben.

Rosefeldt zitiert in seinem Video Texte und Sequenzen über den Wald, sei es von Tacitus, vom ermordeten jüdischen Philosophen Theodor Lessing oder aus dem NS-Propagandafilm „Ewiger Wald“. Eine wichtige Referenz ist für den Videokünstler Elias Canettis Buch „Masse und Macht“ (1960), das die Deutschen und den Wald als Einheit denkt. Canetti floh nach dem sogenannten Anschluss Österreichs vor den Nationalsozialisten ins englische Exil. Beraubt seines Herkunftslandes und seiner Muttersprache veränderte sich sein Blick. Diese Exilerfahrung teilt er mit dem Dichter Heinrich Heine, der im 19. Jahrhundert als Emigrant ebenfalls kritisch (und zugleich wehmütig) über Deutschland schreibt. Erst aus der Ferne, so scheint es, gewinnt Heimat an Kontur, erwacht Heimweh, entwickelt sich aber auch ein kritischer Blick zurück.

Heimat ist übrigens ein Wort, das es fast nur im Deutschen gibt. Der Begriff gilt als unübersetzbar, denn das englische Home meint auch Haus, das türkische Vatan auch Vaterland. „Heimat“ ist vom germanischen „Heim“ abgeleitet, das auch Haus oder Wohnort meinte. Heimat kann auch eine Erinnerung sein, ein geliebtes Objekt, ein Duft oder ein Geräusch. Heimat enthält aber auch Kehrbilder wie die Heimatlosigkeit oder den Heimatwechsel. Heimat kann eine Kategorie sein, um andere auszuschließen.

Für sein Projekt „Heimat. Deutschland – Deine Gesichter“ fotografierte Carsten Sander 1000 Porträts. Alle Modelle posieren in derselben frontalen Haltung, haben verschiedene Haar-, Augen- und Hautfarben. Ihre Familien oder Vorfahren stammen mitunter aus dem Ausland – und doch sind sie: Deutsche. Besonders die Kinderporträts spiegeln die Vielfalt eines zukünftigen Deutschlands, in dem auch der Begriff der Heimat eine andere Konnotation erfahren wird.

Burcu Dogramaci lehrt Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von ihr ist gerade erschienen: „Heimat. Eine künstlerische Spurensuche“, Böhlau Verlag Köln 2016, 184 S., 24,99 €

Burcu Dogramaci

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false