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Vrels „Straßenszene mit Personen im Gespräch“ entstand nach 1633.

© BSGS, München / Nicole Wilhelms

Altmeister-Maler Jacobus Vrel: Die stillen Straßen von Delft

München entdeckt den Maler Jacobus Vrel. Hat er dem großen Vermeer als Vorbild gedient? Eine Ausstellung und ein Buch suchen Antworten.

Die corona-bedingte Schließung aller Museen in Sachsen traf auch die verbleibenden Wochen der Ausstellung von Werken Johannes Vermeers in Dresdens Gemäldegalerie Alte Meister. Dort war neben dem eigenen Bild des „Brieflesenden Mädchens am offenen Fenster“ als weiterer Höhepunkt das berühmte Bild eines Außenraumes, Vermeers „Straße in Delft“ zu sehen. Das Bild wird oft als erste Straßendarstellung der niederländischen Malerei bezeichnet.

Doch solche holländischen Straßen hat auch Jacobus Vrel gemalt, ein Zeitgenosse des 1632 geborenen Vermeer. Sein Name allerdings ist lediglich Kennern geläufig. Unlängst nun erwarben die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen eines seiner Gemälde für die Münchner Alte Pinakothek, seine „Straßenszene mit Personen im Gespräch“. Das Jahr der Ausführung ist unbekannt, so wie das Leben des Künstlers selbst.

Von Vrel gibt es nur ein einziges datiertes Werk, ein Interieur aus dem Jahr 1654. Das hat es zusammen mit dendrochronologischen Untersuchungen der auf Holz gemalten Bilder ermöglicht, für die weiteren, immerhin knapp 50 ihm zugeordneten Bilder einen zeitlichen Rahmen abzustecken, der sich mit der Tätigkeit des 1675 verstorbenen Vermeer deckt, jedoch früher als diese ansetzt.

Vrel hat etliche Straßenszenen gemalt. Das hat zu der Hypothese geführt, er als der früher Tätige könnte Vermeer zu diesem Themenkreis angeregt haben. Der berühmte Vermeer und sein geheimnisvoller Kollege: Das ist der Stoff, aus dem Legenden gesponnen werden.

Den Bildern selbst auf den Grund zu gehen, war hingegen die Absicht, die Bernd Ebert, den Kurator der niederländischen Malerei an der Alten Pinakothek, zur Vorbereitung einer Ausstellung des Gesamtwerks veranlasst hat, der ersten Ausstellung von Vrels Œuvre überhaupt. Sie musste aufgrund der Corona-Restriktionen im Leihverkehr abgeblasen werden. Was zum Glück vorliegt, ist eine Monografie zu Vrel, die das in München gezeigte Gemälde begleitet. Sie ist das Ergebnis eines gemeinsamen Forschungsvorhabens der Alten Pinakothek mit dem Mauritshuis in Den Haag und der Fondation Custodia in Paris, die als weitere Stationen der Retrospektive vorgesehen waren und dies 2023 auch nachholen wollen. In München ist allein das mit Hilfe der Ernst von Siemens Kunststiftung erworbene Gemälde zu besichtigen.

Brauntöne mit roten Akzenten

Vrel, über dessen Leben nichts bekannt ist, hat Straßenszenen gemalt, die sich freilich nicht lokalisieren lassen, ferner Interieurs in Räumen teils mit, teils ohne Fenster; einmal das Innere einer Kirche sowie eine Landschaft mit Figuren. Vrels Palette ist stark reduziert, sie umfasst hauptsächlich Brauntöne mit wenigen roten Akzenten. Selbst wo, selten genug, ein blauer Himmel über seinen Ansichten leuchtet, sind die Straßen und Häuser eher düster wie an einem wolkenverhangenen Tag; „verschattet“ mag man nicht sagen, denn gerade Schatten gibt es auf den Bildern nicht.

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Eine eigentümliche Freudlosigkeit liegt darauf, und rätselhaft scheinen besonders diejenigen Interieurs, in denen eine Frau, den Rücken zum Betrachter gekehrt, durch ein geschlossenes Fenster schaut, hinter dem sich schemenhaft eine weitere Person, ein Kind vielleicht, abzeichnet. Alle Frauen sind sittsam beschäftigt, wie es sich für das calvinistische Holland geziemt, und die vier ähnlichen Interieurs, die eine sitzende Frau vor einem Alkoven zeigen, lassen einen Kranken erkennen, an dessen Bettstatt sie wacht.

Anspielungen und Mahnungen

„Eine teils beklemmende Stille kennzeichnet Vrels Momentaufnahmen, die mit gängigen Deutungsmustern kaum zu entschlüsseln sind“, heißt es in der Monografie. Das ist zu verstehen als Hinweis auf die vielfältigen Anspielungen und moralischen Mahnungen, die der holländischen Malerei des 17. Jahrhunderts zu eigen sind und die nicht zuletzt ihre Faszination auch für ein heutiges Publikum ausmachen. Nichts davon bei Vrel.

Ein ganz anderer Vergleich drängt sich auf, den Projektmitarbeiterin Karin Leonhard im Katalogbuch so formuliert: „Die Dominanz der Leere in Vrels Gemälden, die ausdruckslosen Figuren und kahlen Wände, die wie Projektionsflächen für innerlich aufsteigende, nicht gezeigte Bilder wirken, werfen ein vorausschauendes Licht auf die weitere Entwicklung der Innenraummalerei des 19. Jahrhunderts, die sich an ein bürgerliches, der Erkundung des Seelenlebens verpflichtetes Publikum wendet.“

Nun ist es so eine Sache mit vermeintlichen Vorläufern in der Kunst; sie werden meist ex post konstruiert. Vielleicht sollte man sich mit dem Hinweis begnügen, dass der Protestantismus der Niederlande die Konzentration auf den Einzelnen und dessen Tun und Treiben befördert, ja in den Mittelpunkt moralphilosophischer und ebenso künstlerischer Betrachtung gerückt hat.

[München, Alte Pinakothek, Obergeschoss Saal IX, bis 27. Februar. Katalogbuch im Hirmer Verlag, 39,90 €.]

Der karge Kirchenraum in dem einzigen derartigen Gemälde Vrels zeigt eine Gemeinde von Einzelpersonen, die allein das konzentrierte Zuhören unter dem von hoher Kanzel predigenden Pfarrer eint. Das ist geradezu eine Schlüsselszene. Man hätte dieses und die anderen Werke Vrels gerne im Zusammenhang mit der Münchner Erwerbung gesehen. Sie markieren neben den Gemälden Vermeers, an dessen Meisterschaft sie nicht heranreichen, einen Aspekt der niederländischen Malerei, der gleichberechtigt neben den bisweilen deftigen Genreszenen dieses „Goldenen Jahrhunderts“ steht. Bernhard Schulz

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