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Strenger Blick, große Stimme. Nur auf Fotos gibt sich Charlotte Day Wilson sehr unnahbar.

© Othello Grey

„Alpha“ von Charlotte Day Wilson: Schwerkraftwanderung mit Aussicht

Umgeben von einer Aura der Erhabenheit: Der Sängerin Charlotte Day Wilson gelingt auf ihrem Debütalbum „Alpha“ eine beglückende Verschränkung von Soul und Folk.

„Alpha“ ist bei „Stone Woman/The Orchard“ erschienen

Musikgenuss gehorcht ähnlichen Spielregeln wie Saisongemüse. Das wusste schon Vivaldi. Der Hochsommer ist daher die falsche Jahreszeit für schwermütigen Soul. Es sei denn, man kann das Ende der sonnengefluteten Banalität am Badestrand kaum noch erwarten. Charlotte Day Wilson macht Musik für diesen Moment, wenn wir das erste Mal wieder die Heizung aufdrehen müssen. Ihr Debütalbum „Alpha“ nistet sich zwar in den Hörgängen ein, doch man hat dabei den Geruch von nassem Laub in der Nase, spürt die Kühle eines Oktobermorgens auf der Haut und die erste glänzend-braune Kastanie in der Tasche.

Die Frucht aus der Familie der Seifenbaumgewächse liefert ein treffliches Bild für die kanadische Neo-Soul-Sängerin. Bei der Kastanie muss die ledrige, bestachelte Hülle auf den Boden fallen, um den Samen zu entlassen. Erst nach dem Sturz gibt sie den von einer edlen Maserung gezeichneten Rundkörper frei. Diese seltene Methode der Fortpflanzung bezeichnen Botaniker übrigens als Schwerkraftwanderung.

Was wiederum das künstlerische Schaffen der 1993 geborenen Wilson hervorragend umschreibt. Sie gibt sich auf den ersten Blick verpanzert, unnahbar. Es existiert kein Foto von ihr mit einem Lächeln, stets fixiert sie den Betrachter mit strengem Blick. In ihrer Musik aber berichtet sie emotional von Zerrissenheit, von menschlichen Abstürzen, die etwas aufsprengen, einen Kern freilegen, der neues Wachstum erst ermöglicht. Erlebnisse, die die queere Sängerin in ihrer Community häufig macht.

Ihre Tour war ausverkauft - ohne Album

Charlotte Day Wilson wuchs in Toronto in einem musikbegeisterten Haushalt auf, wo Platten von den Beatles und Motown liefen. Ihr Vorhaben Altsaxofon zu studieren, gab sie wieder auf. „Ich konnte es wirklich nicht ertragen, sieben Stunden am Tag in einem Raum ohne Fenster lange Töne zu üben und meinen Mundstellung zu verbessern“, erzählt sie. Heute führt sie kein Instrument mehr an ihre Lippen. Ihre samtig-warme Stimme transportiert Tiefe und Leidenschaft für ein ganzes Orchester.

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Schon im Opener „Strangers“ empfängt sie uns mit ihrem kraftvoll strahlenden Organ, das auf einem Bett aus A Cappella-Gesängen ruht. Umgeben von einer Aura der Erhabenheit, die durch das Album geleitet, „als wollte Charlotte Day Wilson ihr riesiges gebrochenes Herz im Elefantentempo über die Alpen tragen“, wie Musikjournalist André Boße schreibt.

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Liebe passiert, Beziehung ist Arbeit. Das hatte Wilson schon mit Mitte Zwanzig verstanden, als sie 2016 ihren Song „Work“ veröffentlichte. Eine zeitlos-schöne Hymne über emotionale Mühen in Partnerschaften, der ihr nicht nur Aufmerksamkeit in Streamingdiensten bescherte, sondern auch in Werbeclips und Netflix-Serien zu hören war. Weitere Bekanntheit erlangte sie durch die Kollaboration mit der jazzigen Instrumentalgruppe BadBadNotGood. Sie teilte die Bühne mit Künstler:innen wie Angel Olsen, Local Natives, Feist, Haim und Rhye. Ihre Headliner- Tour in Nordamerika und Europa war 2018 ausverkauft.

Auch das elektronische Soundkorsett steht Wilson hervorragend

In der Zwischenzeit veröffentlichte Wilson mehrere EPs und Singles, pflegte aber stets ein gesundes Misstrauen gegenüber den Spielregeln der Musikindustrie, wehrte sich gegen die Idee einer LP. Erst mit 28 Jahren veröffentlicht die Kanadierin nun das Debütalbum – selbstverständlich auf ihrem eigenen Label.

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„Alpha“ ist eine beglückende Verschränkung von Soul und Folk. Meist dominieren akustische Gitarren, doch auch das elektronische Soundkorsett steht Wilson hervorragend. Das anschwellende „If I Could“ ist ein früher Höhepunkt des entschleunigten, souligen Storytellings. In der Gospelnummer „Mountains“ begibt sie sich begleitet von Klatschen auf die Suche nach Erlösung. Die hitverdächtigsten Lieder aber hat sie sich – wider jede Marktlogik – für die zweite Hälfte aufgehoben. Die treibende Single „Take Care Of You“ mit Gastsängerin Syd und das betörende „Keep Moving“, das sich von einer Ballade in einen Disco-Pop-Song verwandelt.

Dass die Pandemie zwischenzeitlich die große Pause-Taste drückte, war für die Sängerin ein glücklicher Umstand. Das Album sei zur geplanten Veröffentlichung im vergangenen Jahr ohnehin nicht fertig gewesen. Die Multi-Instrumentalistin zog sich also nochmal zurück und feilte. Es hat sich gelohnt: Die minimalistische Produktion hüllt den seelischen Kraftakt von Charlotte Day Wilson in ein würdiges Klanggewand. Der Herbst, er kommt ja ganz bestimmt. Auch die Kastanien werden fallen. Und wir gehen dann mit ihnen und Charlotte Day Wilson auf Schwerkraftwanderung.

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