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Die Neubauten bestehen 40 Jahre nach ihrer Gründung aus Jochen Arbeit, Rudolf Moser, Blixa Bargeld, N.U. Unruh, Alexander Hacke.

© Mote Sinabel

"Alles in Allem" von den Einstürzenden Neubauten: Der Wedding als Lautmalerei

Späte Heimkehr, sanfter Lärm: Das Album „Alles in Allem“ ist das bislang zugänglichste Werk der Einstürzenden Neubauten. Die schönsten Songs handeln von Berlin.

Schön im engeren Sinn ist Berlin nie gewesen. Interessant, vielleicht sogar liebenswert ist die Stadt aber trotzdem, gerade weil sie so unaufgeräumt, zusammengeschustert und mitgenommen wirkt. Berlin hat Narben, in denen sich so deutlich wie in kaum einer anderen Großstadt die Spuren der Geschichte zeigen.

„Grazer Damm, Grazer Damm / Vom Trümmerberg bis zur Stadtautobahn / Kachelöfen, Waschküche unterm Dach / Luftschutzkeller in allen Häusern“ sprechsingt Blixa Bargeld in einem der besten Stücke des gerade erschienenen Albums „Alles in Allem“ (Potomak) seiner Band Einstürzende Neubauten. Am Grazer Damm in Schöneberg ist der Sänger aufgewachsen, „Grazer Damm“ ist eine düster-unheimliche, von schweren Trommelschlägen und einer unheilvoll hallenden Westerngitarre begleitete Erinnerungsballade. Eine Kindheitsskizze in sechseinhalb Minuten.

Briketts vom Senat

Von Briketts, die der Senat für schlechte Zeiten einlagert, ist die Rede, vom Bruder, mit dem der Ich-Erzähler am Fenster steht, während die kleine Schwester schläft. Von einem Mann, der vom Dach fällt – ist es ein Astronaut oder ein Selbstmörder ? –, von explodierenden Gasöfen und anderen Schrecken. Großartig ist, wie sich der Refrain „Gra-zer Damm“ im Bam-Bam der Trommel spiegelt, am Ende klirren Scherben, und Bargeld flüstert zärtlich: „Frie-de-nau“.

Andere Titel der Platten lauten „Am Landwehrkanal“, „Wedding“ und „Tempelhof“. Autobiografisches mischt sich mit Traumbildern, Nostalgie mit Lebensbilanz. „Alles in Allem“, das erste reguläre Studioalbum der Einstürzenden Neubauten seit „Alles wieder offen“ von 2007, ist ihr bislang zugänglichstes Werk.

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Die lärmende Experimentierlust aus den Anfängen der Band im West-Berlin der achtziger Jahre ist einem ruhigeren, auf klassischem Rockinstrumentarium beruhenden Klangbild gewichen. Bargelds Lyrics sind narrativer geworden, seine Stimme spreizt sich nicht mehr so eitel, die Poesie ist nicht mehr so überdeterminiert und aufdringlich wie in manchen früheren Songs. Man kann nicht ewig avantgardistisch sein, nicht einmal in Berlin. Die Schrottplätze, auf denen der Percussionist N. U. Unruh einst seine Lärmgeräte zusammenklaubte, sind längst nicht mehr frei zugänglich.

„Ich hab unser Lied frisch renoviert / die Wände verputzt, einen neuen Ton ausprobiert“, reimt Bargeld in „Möbliertes Lied“, einer Art Industrial-Chanson mit sanft pumpendem Beat und schmatzenden, dengelnden, brodelnden Störgeräuschen. In „Taschen“ singt er zu Streichern, Glockengeklöppel und Synthiegestöhn vom Suchen und Landen, Schwimmen und Ertrinken.

Die raschelnden, an klatschende Händen erinnernden Rhythmus hat die Band mit Hilfe von so genannten „Polenkoffern“ aufgenommen. Als die Mauer noch stand, waren solche Kunststofftaschen, mit denen sich auch schwere Lasten tragen lassen, auf dem Flohmarkt am Potsdamer Platz zu haben, damals noch eine Brache. Heute finden sie sich überall, wo Menschen auf der Flucht sind.

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„Wir leben hier schon nicht mehr, schon lange nicht“, heißt es im Stück „Zivilisatorisches Missgeschick“, das mit Kettensägengesplatter und Metallgehämmer noch einmal die alte Krachmaschine ins Laufen bringt. West-Berlin gibt es nicht mehr, die Stadt ist eine andere geworden, seitdem die Einstürzenden Neubauten ihre ersten Stücke im Hohlraum einer Steglitzer Autobahnbrücke aufgenommen hat. Blixa Bargeld, der in der Punk- und Hausbesetzerära seine Postadresse für einige Zeit im legendären Café M. an der Schöneberger Goltzstraße hatte, ist inzwischen 61. Er hat einige Jahre in San Francisco und China verbracht, nun lebt er wieder in seiner Geburtsstadt.

Flakbunker in den Rehbergen

Die Stücke der Platte knüpfen aneinander an, kommentieren sich, fallen einander ins Wort. „Wedding“ beginnt mit Fieldrecordings, man hört Fahrgeräusche und Kinderlachen. Dann setzt sanft der Bass von Alexander Hacke ein, und Bargeld gibt knappe geografische Erläuterungen: „Von Mitte aus nach Norden / Vom Osten in den Westen“. Der Text besteht nur aus wenigen Zeilen, mit „48 Stufen, bis auf 70 Meter über Normalnull“ verweist der Sänger wohl auf den alten Flakbunker in den Rehbergen. Vielleicht geht es um den Krieg, vielleicht um die Gentrifizierung. Der Refrain lautet schlicht: „Wedding, Wedding“, daran hängt Bargeld noch „Baby“ und ein „Ding, Ding, Ding“. Wedding ist nicht nur ein Ort, es ist auch pure Lautmalerei.

„Alles in Allem“, ein Album voller Assoziationen, handelt tatsächlich von allem, aber immer wieder auch von Berlin. Es setzt eine lange Tradition von Lobliedern und Hassgesängen auf die Stadt fort, die von Marlene Dietrich bis zu Ideal und Peter Fox reicht.

In der fröhlich schunkelnden Hymne „Am Landwehrkanal“, schieben sich die Zeitebenen ineinander. Der Takt tröpfelt und swingt, Bargeld besingt mit einer Stimme, die an Rio Reiser erinnert, das behäbig vorbeifließende Wasser. „Ich war nicht dabei, damals bei Rosa“, fährt er fort, dazu wimmert ein Akkordeon wie von Element of Crime. Vor hundert Jahren, im Januar 1919, wurde Rosa Luxemburg ermordet und an der Lichtensteinbrücke in den Kanal geworfen.

„Wir hatten tausend Ideen und alle waren gut“, weiß die kämpferische Schlussparole. Es kommt aufs Weitermachen an. Punk ist nicht tot.

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