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Ein Maßkrug mit Bier.

© Andreas Gebert/dpa

Alkoholverzicht zum Jahresanfang: Warum der „Dry January“ problematisch ist

Im Januar verzichten, den Rest des Jahres bechern. Die Idee des „Dry January“ entpolitisiert das Problem des Alkoholmissbrauchs in Deutschland. Ein Kommentar.

Es gab eine Zeit, da dachte ich, dass ich mein Seelenheil in der Straight-Edge-Bewegung finde. Seit den 1980er Jahren existiert diese Gegenkultur, die auf Drogenkonsum verzichtet, um der Selbstzerstörung in der Punkszene etwas entgegenzusetzen. Erkennungssymbol ist ein aufgemaltes „X“ auf dem Handrücken. Eine größere Provokation gegen die Saufkultur auf dem Dorf, als ein Malzbier im Kirmeszelt zu bestellen, gab es nicht. Diesem exklusiven Zirkel der Nonkonformität anzugehören, fühlte sich wahnsinnig avantgardistisch an.

Erst später realisierte ich, dass sich da ein Sektenkult herausgebildet hatte, der einen obskuren Menschenschlag anzog. Muskelbepackte Kerle, die oberkörperfrei auf Konzerten rummackerten. „Kill everyone with a beer in his hand, cause if you drink you’re not a man“, sang die Bostoner Band Slapshot. Es kam vor, dass „Straight Edger“ rauchende oder biertrinkende Menschen verprügelten.

Weniger militant, aber nicht minder penetrant ist die temporäre Erweckungsbewegung, die seit circa zehn Jahren am Neujahrstag ihre Auferstehung feiert: „Dry January“. Nein, hier geht es ausnahmsweise mal nicht um das Klima und den wieder mal viel zu warmen Winter: Mit einem alkoholfreien Monat wollen zahlreiche Menschen gesund ins neue Jahr starten.

Alkoholkonsum kann 200 Krankheiten auslösen

Nach der Glühweineskalation auf Weihnachtsmärkten und den schäumenden Strömen von Silvestersekt klingt das zunächst nach keiner schlechten Idee. Mehr als zehn Liter reinen Alkohols pro Kopf trinken die Deutschen jedes Jahr. Das Doppelte des weltweiten Durchschnitts. 200 Krankheiten kann Alkoholkonsum auslösen: Gehirn- und Herzmuskelschäden. Leberzirrhose und Krebs.

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Knapp 60 Milliarden Euro werden hierzulande für die Behandlung von Alkoholkrankheiten ausgegeben, drei Milliarden kommen durch die Alkoholsteuer rein. Da schadet ein wenig Bedenkzeit sicher nicht. Kein Kater, keine Müdigkeit, erhöhte Leistungsfähigkeit. Die Organe regenerieren. Und nach einem Monat weiß man dann auch, ob man ein Suchtproblem hat.

Doch nicht wenige der Teilzeittrockenen nutzen den abstinenten Januar als Ablasshandel, um dann das restliche Jahr sorglos zu bechern. Noch problematischer ist, dass der „Dry January“ als Konzept der individuellen Selbstoptimierung die gesellschaftspolitische Dimension des Alkoholmissbrauchs zu verdecken droht. In vielen europäischen Ländern sterben ärmere und weniger gebildete Menschen deutlich häufiger an Alkohol als wohlhabende und besser gebildete Trinker. Und plötzlich klinge ich dann doch wieder wie der 19-jährige moralisierende Punk mit dem schwarzen Kreuz auf dem Handrücken.

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