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Alexander von Humboldt (Mitte, stehend) und Aimé Bonpland (links) in den Anden, 1810.

© mauritius images

Alexander von Humboldt: Der preußische Kolumbus

Alexander von Humboldt plant die große Expedition. Doch der Weg nach Übersee ist versperrt, in Europa herrscht Krieg. Auszug aus einer neuen Biografie

Als hätte er darauf gewartet. Am 19. November 1796 stirbt Marie-Elisabeth von Humboldt nach einem langem Krebsleiden mit 55 Jahren in Tegel. Alexander empfindet, als er die Todesnachricht erhält, vor allem Erleichterung. Er ist 27 Jahre alt, es ist der erste Schritt in die ersehnte Freiheit. Der zweite folgt, als er zum Jahresende den preußischen Staatsdienst im Bergbau quittiert. Die Erbschaft, rund 90 000 Taler, verleiht ihm Flügel. Die Umrechnung in heutigen Geldwert, mit gewaltigen Kaufkraftunterschieden, ergibt rund 2 bis 3 Millionen Euro. Mit dem Erbe wird ihm ein neues Leben geschenkt.

Lange schon spricht Alexander von Humboldt von der großen Reise „außerhalb Europas“. Wissenschaftliche Instrumente werden angeschafft, der künftige Weltreisende absolviert ein umfangreiches Trainingsprogramm, zunächst in Österreich. In Wien studiert er Pflanzen aus Übersee im Botanischen Garten, von Salzburg geht es in die Alpen, wo er mit dem Geologen Leopold von Buch endlose meteorologische und magnetische Messreihen exerziert, fünf Monate lang in Berghütten haust ohne jeden Komfort. Humboldt ist frei, aber Europa ist es nicht.

Ein klassischer Ausflug in den Süden, wo er die Vulkane untersuchen will, den Ätna und den Vesuv, scheitert an Napoleons Einmarsch in Italien. Frankreich zieht neue Grenzen in Europa, und Humboldt beginnt sich im Kreis zu drehen. „Die politische Wendung der Dinge ist aber so geworden, dass für jetzt die Alpen nicht zu passieren sind“, schreibt Humboldt und kapriziert sich, alles ist besser als Stillstand, auf eine Expedition nach Ägypten, wozu ihn ein reicher und spleeniger Engländer eingeladen hat.

Napoléons Ägypten-Feldzug vereitelt die geplante Nil-Reise

Lord Bristol stellt eine Reisegruppe mit diversen Geliebten und Archäologen zusammen. Er will sich am Nil amüsieren und, wie damals üblich, antike Kunstschätze einsammeln. Humboldt träumt sogleich von Ausflügen nach Syrien und Palästina, aber es wird wieder nichts. Der Weg ist versperrt. Napoleon bricht im Mai 1798 mit einem Invasionsheer nach Ägypten auf, mit hunderten von Wissenschaftlern und Kunstexperten, die das Land nach Kräften ausplündern und dokumentieren; mittendrin Dominique-Vivant Denon, der erste Direktor im Louvre. In Kairo gründen die Franzosen ein Ägyptisches Institut. Nach dem Feldzug macht sich eine Heerschar von 2000 wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Mitarbeitern an die Edition der „Description de l'Egypte“. Sie erscheint bis 1828 in 23 Bänden. Die Arbeit an dieser Enzyklopädie mit rund 3000 Abbildungen zieht sich über zwanzig Jahre hin, 400 Kupferstecher sind daran beteiligt, eine Staatsaktion. Humboldts riesenhafte Reisepublikationen, das Werk eines Privatmanns, werden eines Tages vergleichbare Dimensionen erreichen.

Die ägyptischen Pyramiden bekommt er nicht zu sehen, auf ihn warten die Monumente der Maya und der Azteken und der Inka. Der merkwürdige Lord wird in Oberitalien von der französischen Polizei verhaftet, wegen angeblicher Spionage für England. Die Nilfahrt fällt aus.

Humboldt-Standbild vor der Berliner Humboldt - Universität
Humboldt-Standbild vor der Berliner Humboldt - Universität

© Doris Spiekermann-Klaas

So vieles hängt beim Vorspiel zur großen amerikanischen Reise Humboldts vom Zufall ab. Jahrelang hat Alexander sich systematisch präpariert. Dabei bleibt er spontan, bereit für jede Gelegenheit, die sich ihm zum Aufbruch bietet. Es hätte anders kommen, es hätte ihn in andere Teile der Welt verschlagen können: nach Afrika, eine Zeitlang war auch das eine Option. Die Karibik, Amerika, ist das Ziel seiner Wünsche, doch die eigentliche Destination ist die Ferne, die Weite, bald wird er auch von Asien träumen, das Jahrzehnte zuvor sein Mentor und Freund Georg Forster bereist hat.

Die Zeit vor der Abfahrt nach Lateinamerika lässt sich als komplizierte, wacklige Versuchsanordnung betrachten, im Ergebnis offen, was den Zeitpunkt, die Route, die Bedingungen der Expedition angeht. Ein Glücksspiel, das Humboldt sich dank seines Vermögens leisten kann.

Er geht im Mai 1798 nach Paris, dort lebt jetzt sein Bruder Wilhelm von Humboldt mit seiner Familie. Paris ist das intellektuelle Zentrum Europas, wenn nicht der Welt, hierher kommen Männer, die am großen Rad drehen wollen. Alexander entwickelt schnell seine Netzwerke, hält in der Akademie der Wissenschaften, dem „Institut“, Vorträge über Gase in der Atmosphäre und zeigt vor Publikum seine galvanischen Experimente. Die Idee einer „medizinischen Geografie“ treibt ihn um, ein ungeheuer moderner Gedanke: Wie wirken sich Klima und Ernährung auf die Gesundheit des Menschen aus? Und wie verändert der Mensch die natürlichen Bedingungen?

Da hebt sich am Horizont der Vorhang: Ganz Paris spricht von der Weltumseglung, die, in Humboldts eigenen Worten, „das Direktorium unter Anführung des Kapitän Baudin seit einigen Monaten dekretiert hatte. Die Expedition sollte Buenos Aires, das Feuerland und die ganze amerikanische Westküste von Valparaiso bis zum Isthmus von Panama berühren, viele Inseln der Südsee, Neuholland (=Australien) und Madagaskar besuchen und um das Kap der Guten Hoffnung zurückkehren.“ Humboldt erhält die Erlaubnis, „mich mit allen meinen Instrumenten einzuschiffen, mit dem Versprechen, die Schiffe verlassen zu dürfen und da zu bleiben, wo ich tiefer in das Land einzudringen wünschte.“

In Paris wartet der nächste Fehlschlag auf ihn

Er wartet vier Monate auf den Startschuss, dann wird die Sache auf unbestimmte Zeit verschoben; zu teuer und zu gefährlich in Zeiten des Kriegs.

Humboldt wohnt im Hotel Boston in der Rue du Vieux-Colombier. Saint-Germain ist sein Quartier, später noch über viele Jahre. Hier befinden sich die wichtigsten wissenschaftlichen Einrichtungen, zu Fuß gut zu erreichen für den Mann, der seine Zeit niemals verschwendet. Aber es wartet der nächste Fehlschlag: Humboldt und sein neuer Freund Aimé Bonpland machen sich im Oktober 1798 auf den Weg nach Marseille. Eine schwedische Fregatte soll sie nach Algier bringen, ein neutrales Schiff, das die Engländer, die auf französische Masten im Mittelmeer lauern, würden passieren lassen. Die Fregatte kommt nicht. Wieder hat er Monate ausgeharrt, vergebens. Die Idee, sich auf einem kleineren Boot nach Tunis einzuschiffen, mit all dem schweren wissenschaftlichen Gerät, platzt ebenso. Sie erhalten Nachricht, dass in Nordafrika französische Staatsbürger verfolgt werden.

Aimé Bonpland, 25, vier Jahre jünger als Humboldt, Arztsohn aus La Rochelle, hat in Paris Medizin studiert, sein Lieblingsfach aber ist die Botanik. Auch Bonpland war für die Baudin-Weltumseglung eingeschrieben. Sie müssen sich von Anfang an verstanden haben; gemeinsame Interessen, wissenschaftlich und politisch. Bonpland ist der Mann, mit dem Humboldt in den kommenden Jahren einige tausend Kilometer zurückgelegt haben wird, durch Dick und Dünn, Eis und Gluthitze. Bonpland ist derjenige, der auf so vielen Humboldt-Darstellungen der Südamerikareise an seiner Seite steht, vielmehr in seinem Schatten, „der so viele Schicksale mit mir geteilt hat.“

Notgedrungen reisen Humboldt und Bonpland nach Spanien

Nachdem sich etliche Pläne und Einladungen zerschlagen haben, will Humboldt mit Bonpland nun auf Umwegen nach Nordafrika. Die Reise führt die beiden jungen Herren aus Verlegenheit zunächst auf dem Landweg von Südfrankreich nach Spanien, das nun gerade nicht bekannt ist für seine Offenheit Fremden gegenüber und in einer schweren Krise steckt. Englische Kriegsschiffe sperren die Seewege in die Kolonien, die Krone ist bankrott und auf französische Hilfe angewiesen, König Karl IV. gilt als machtlos, seine Gattin Luisa Maria und ihr Geliebter herrschen über ein Reich, das bessere Tage gesehen hat.

Bonpland und Humboldt reiten durch das schlecht oder gar nicht kartografierte Spanien und nehmen Messungen vor. Dabei wird die Landschaft im Höhenprofil dargestellt, eine wissenschaftliche Innovation en passant. Sie haben ja im Moment nichts Besseres vor. Sie treiben anthropogeografische Studien. Ein Land in der Summe der natürlichen Erscheinungen zu betrachten und verorten, auch das ist neu. Auf dem Weg von Barcelona nach Madrid, wo sie Ende Februar 1799 eintreffen, arbeitet Humboldt an seinen Verfahren der Erderkundung. Die spanischen Bauern betrachten die Sextanten und Barometer als Teufelszeug, bewerfen die „Ketzer“ mit Steinen, verjagen die Reisenden.

Spanien, außerhalb der großen Städte noch im Mittelalter verhaftet, besitzt seit dem frühen 18. Jahrhundert eine ausgezeichnete pflanzenkundliche Tradition. Das hängt mit dem Reichtum der überseeischen Besitzungen zusammen. Im Botanischen Garten von Madrid, den er häufig besucht, fasst er den Entschluss, die Sache offensiv anzugehen. „Seit fünf Tagen bin ich hier und schwelge in allen Pflanzen des südlichen Amerikas“, schreibt er in einem Brief an Reinhard von Haeften, seinen geliebten Freund in Franken, mit dem er Kontakt hält. Auch das ein Humboldt’sches Charakteristikum: wie er die Menschen in der Heimat über seine Schritte ins Unbekannte informiert, so weit das mit den damaligen Kommunikationsmitteln möglich ist. Das gehört zur Selbstdarstellung und zur Ruhmesanhäufung, auch in dieser Disziplin ist er ein Großer. Sein Blick geht nach vorn und nach ganz oben, und was jetzt geschieht, gleicht einem Wunder. Humboldt bekommt eine Audienz beim König und der Königin am Hof in Aranjuez.

Blick in die Reisetagebücher Alexander von Humboldts von seiner Südamerika-Expedition
Blick in die Reisetagebücher Alexander von Humboldts von seiner Südamerika-Expedition

© Thilo Rückeis

Dass er spanisch spricht, macht Eindruck. Der Preuße, unterstützt von einem sächsischen Diplomaten, entfaltet sein unglaubliches Geschick, die eigenen Interessen und Wünsche als vorteilhaft für die andere Seite darzustellen – als hätte der Hof ihn eingeladen und nicht er sich selbst höflich aufgedrängt und als Berater empfohlen. Die Spanier ahnen, dass dieser junge Deutsche ihnen von großem Nutzen sein kann. Er und sein „Sekretär“ Bonpland beabsichtigen, in den spanischen Kolonien in Westindien geologisch-botanische Studien zu betreiben. Humboldts Hinweis auf seine Tätigkeit als Bergwerksfachmann gibt den Ausschlag: Spanien braucht Geld, die Minen in Amerika bringen nicht mehr genug Kapital ein. Ein internationaler Spezialist könnte die Dinge in Übersee befördern, den schickt der Himmel.

Humboldt legt den Spaniern eine „Denkschrift“ in eigener Sache vor, die zwischen Unterwürfigkeit und Selbstlob schwankt und seine Bergbau-Expertise unterstreicht. Der junge Herr, schon so erfahren, verfasst ein exzellentes Bewerbungsschreiben mit einem Lebenslauf, der nicht wirklich geschönt, aber geschickt komponiert ist. Er legt einen meisterhaften Auftritt hin, um Schutz und Zustimmung von „Seiner katholischen Majestät für eine Reise nach Amerika zu erhalten.“

Fünf Jahre wird die Reise über den amerikanischen Kontinent dauern

Sie soll über Puerto Rico, Kuba, Mexiko, Kolumbien (damals Neu-Granada), Peru, Chile, Argentinien bis zu den Philippinen führen. Das ist der ursprüngliche Plan. Die Messinstrumente werden katalogisiert, damit nichts wegkommt, und Bonpland würde im Falle von Humboldts Tod weiterarbeiten dürfen, damit nicht alles verloren wäre. Humboldt denkt an das kleinste Detail und lässt aus Preußen mehr Geld kommen. Er wird die große Tour aus eigenen Mitteln finanzieren – eine einzigartige Mischung von Abenteuer und Vorbedacht, Kalkuliertheit und unwägbarem Risiko. Humboldt ist so leidenschaftlich wie berechnend. Ein Sezierer und Ästhet. Forschung und Poesie bedeuten für ihn keinen Widerspruch.

1787, kurz vor der Französischen Revolution, erlebte in Hamburg Friedrich Schillers Drama „Don Karlos, Infant von Spanien“ seine Uraufführung; Schauplätze sind Aranjuez und Madrid. Tyrannei oder Aufklärung, Macht und Religion, Hoffart und Courage: Im Stück fällt der berühmte Satz des Marquis Posa, der das Intrigenspiel mit seinem Leben bezahlt: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit.“ Humboldt hat mehr Erfolg mit seinem Geniestreich. Er erbittet Reisefreiheit, und sie bekommen die Pässe.

„Nie hatte die spanische Regierung einem Fremden größeres Vertrauen bewiesen“: Er hat zu frohlocken allen Grund. Es steht da schwarz auf weiß. Er segelt mit dem Schutz der spanischen Krone nach Amerika, „um seine bergmännischen Studien fortzusetzen“, wie es dort heißt, „und für den Fortschritt der Naturwissenschaften wertvolle Sammlungen, Beobachtungen und Entdeckungen zu machen.“

Der preußische Kolumbus macht sich auf den Weg, die neue Welt noch einmal zu entdecken, mit neuen Augen. Fünf Jahre wird die Reise durch Süd-, Mittel- und am Ende auch Nordamerika dauern. Sie prägt das gesamte Werk Alexander von Humboldts. Aus dieser Ressource schöpft er zeitlebens. Es ist ein geglückter Kulturaustausch, die jungen amerikanischen Nationen verdanken ihm viel. Humboldt hilft ihnen, sich selbst zu finden.

Dieser Text ist ein – leicht veränderter – Vorabdruck aus der Biografie „Alexander von Humboldt. Der Preuße und die neuen Welten“ von Rüdiger Schaper, die am 12.3.2018 im Siedler Verlag erscheint (280 Seiten, mit Abbildungen, 20 €).

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