zum Hauptinhalt
Alexander Kluge ist Weltbürger. Geboren wurde er in Halberstadt.

© picture alliance / Britta Pedersen

Alexander Kluges 90. Geburtstag: Muskeln der Einbildungskraft

Im Labyrinth der Geschichte und der Gegenwart: Der Enzyklopädist, Schriftsteller, Filmemacher und Medientheoretiker Alexander Kluge wird 90 Jahre alt.

Von

In seinem 2015 veröffentlichten Buch „Kongs große Stunde“ gibt es eine Geschichte, in der Alexander Kluge seine Geburt kurzerhand um gut anderthalb Jahrzehnte vorverlegt. Die Geschichte heißt „Mein Vater trifft Gottfried Benn in einer Nachtstunde“. Im ersten Weltkrieg soll es zu dieser Begegnung gekommen sein. Der angehende Arzt, der Kluges Vater Ernst zu dem Zeitpunkt ist – er hat da gerade erst sein Physikum absolviert –, trifft als „Unterfeldarzt“ in der Kantine eines Hospitals einen „Dichter“ und trinkt mit diesem die Nacht durch.

Dabei lässt Ernst Kluge den mutmaßlichen Benn unter anderem wissen, auch er würde dichten und schreiben. Das aber ist eine Schwindelei. Zu mehr als einem Tagebuch und einem Manuskript von 250 Seiten über den Ersten Weltkrieg langt es auch später nicht, als Ernst Kluge bis zu seinem Tod als Arzt mit eigener Praxis in Halberstadt arbeitet. Alexander Kluge beendet die Benn-Story mit den Worten: „Manchmal glaube ich, dass ich zur Wiedergutmachung der Übertreibung meines Vaters in jener Nacht geboren und zum Autor geworden bin.“

Sein Prosadebüt veröffentlich er 1962

Obwohl es möglich gewesen wäre, weil Ernst Kluge und Benn beide erwiesenermaßen als Ärzte oder Arzthelfer im Ersten Weltkrieg waren, kann man davon ausgehen, dass Alexander Kluge sich diese Geschichte ausgedacht hat. Ein Autor jedoch ist er geworden, ein großer, vielfach mit Literaturpreisen ausgezeichneter Autor sogar, beginnend drei Jahrzehnte nach seiner tatsächlichen Geburt 1932 in Halberstadt mit dem 1962 veröffentlichten Prosadebüt „Lebensläufe“.

Und Kluge ist bekanntermaßen noch mehr geworden: Jurist, Filmemacher, Medientheoretiker, Kunstwissenschaftler und Sozialphilosoph, der durch die Schule der Kritischen Theorie gegangen ist. Doch Kluge hat sich stets als poetischer Sidekick von Adorno und Horkheimer und später Niklas Luhmann und Jürgen Habermas verstanden. Im Vergleich zu diesen und womöglich ganz in deren Sinn nahm er lieber „die weniger offizielle Stellung eines Erzählers“ ein.

Ein Wanderer zwischen Fiktion und Dokumentation

Die Vertrauenswürdigkeit von Büchern stehe bei ihm vor allen anderen Medien, bekannte er in seiner Georg-Büchner-Preisrede 2003, diese seien „Netzwerke über 2000 Jahre“ und „kein Luxus, kein Freizeitbedarf, sondern notwendiges Überlebensmittel.“ So stellt für Kluge das Erzählen das Nonplusultra dar, das Erzählen von wahren und weniger wahren, eben erfundenen Geschichten. Wie zum Beispiel der von dem Treffen seines Vaters mit Gottfried Benn.

Alexander Kluge ist ein Wanderer zwischen Fiktion und Dokumentation. Er verbindet in seinen Büchern Sachlichkeit und Empathie und gebraucht dabei wissenschaftliches und historisches Material als Vorlage für seine fiktiven Räume. Die Zeitgeschichte sei „die Instanz, die Fiktionen herstellt“, so Kluge 1983 in seiner Dankesrede für den Heinrich-Böll-Preis. Dazu kommt, dass er bei seinem Wandern und Umherschweifen Zusammenhänge herstellt, die auf den ersten Blick nicht erkennbar sind. Kluge bewegt sich auf vielen Plateaus, ohne Angst vor Abstürzen.

"Was ich vorfinde, entflammt mich"

In seinem jüngsten Buch, dem „Buch der Kommentare“ (dem er ein weiteres mit dem Titel „Zirkuskommentar“ dazu gesellt hat, beide bei Suhrkamp erschienen) erinnert er sich an seine Zeit als Jura-Student 1956 und was für ihn Lesen und schreiben heißt: Sammeln. „Es steht im Gegensatz zu dem Postulat, dass ein Autor das, was er schreibt, aus dem Innern schöpft. Der inneren Stimme des Autors folgend, schreibe ich Sätze, die aus mir stammen. In Wahrheit aber entflammt mich, was ich als schon Gesagtes vorfinde. Verblüffende Funde. Was ich im Innern vorfinde, wäre mir zu viel ’Wiederholung’“.

So hat Kluge es von Beginn an mit seinem Buch über die „Lebensläufe“ von Tätern und Opfern des Zweiten Weltkriegs gehalten, über die Bruch- und Zerreißstellen dieser Lebensläufe. Oder mit dem Stalingrad-Roman „Schlachtbeschreibung“, einem aus vielen Quellen montierten Kriegspanorama. Und in sogenannten Erzählbänden wie seinen 166 Liebesgeschichten („Das Labyrinth der Zärtlichkeit“), den 48 Geschichten für Fritz Bauer oder dem grandiosen Buch über den „30. April 1945“. Aus hunderten von Perspektiven schildert Kluge die Ereignisse des Tages, an dem Hitler sich erschoss und die Westbindung der Deutschen begann. Auch dieses Buch der Versuch einer Chronik der Zusammenhänge.

Einmal quer durch die Menschheitsgeschichte

Nicht anders verhält es sich mit dem „Buch der Kommentare“. Dieses steckt einmal mehr voller verblüffender, seltsamer Funde und Querverweise. Wie so häufig bei Kluge geht es quer durch die Menschheitsgeschichte. Da widmet er sich der neuen Universitätsfreiheit im 12. und 13. Jahrhundert, da erklärt er die Erfahrungen von Generationen in 90-Jahresstrecken („zwischen Barbarossas Taufe und dem Jahre 2022 liegen zehn solcher 90-Jahres-Erzählstrecken“), da erzählt er von der Entstehung von Jürgen Habermas’ jüngst veröffentlichten Buch, der „Geschichte der Philosophie“, und da spielt die Corona-Pandemie eine wesentliche Rolle und die Shiga-Kruse-Ruhr im Herbst 1943 in Halberstadt eine nicht ganz so wesentliche.

Die „Arbeitsform der Kommentierung“ liege näher bei der Idee des Sammelns als bei der Idee des Gestaltens, schreibt Kluge einleitend. Damit erklärt er, dass dieses Buch thematisch weniger auf einen Nenner zu bringen ist als etwa das über die Liebe oder den 30. April 1945. Doch im Grunde erläutert er so auch das Formprinzip all seiner Veröffentlichungen: überraschend verknüpfend, anekdotisch, multimedial, auch selbstreferenziell mit den am Ende aufgeführten Verweisen auf andere seiner Bücher.

Diese lassen sich häufig nur schwer stringent lesen, dafür sind sie zu sprunghaft, zu kleinteilig, zu aberrierend. Und dafür ist nicht immer auf Anhieb nachvollziehbar, was und zu welchem Zweck Kluge hier in Zusammenhänge schmeißt und aus anderen reißt. Doch wer sich darauf einlässt, spürt schnell, wie die enzyklopädische Erzählweise im einzelnen stets neue Erkenntnisse zu Tage fördert. Und manchmal resultiert daraus auch: Vergnügen, Lesespaß, Entdeckerfreuden.

Loblied auf den Pilotfisch

Am Ende seines Kommentarbuchs singt Kluge ein kleines Loblied auf den Pilotfisch als „Wappentier der Intelligenz“, das sich gut als ein Selbstporträt lesen lässt. Pilotfische sind kleine Fische, die in der Regel Haien, Rochen, Meeresschildkröten und Quallen Geleit geben, ihnen die Richtung weisen, die Haut reinigen und anderweitig nützen. Die Evolution habe bewiesen, welchen Wert der Pilotfisch für den „irrtumsfähigen Riesenkörper der Raubfische“ besitze, so Kluge. Ähnlich verhalte es sich auch mit den „Quanten der Intelligenz“, schlussfolgert er:  „unberechenbar unterwegs, kaum muskulär, kleinteilig, Glückssucher, allerdings auch Navigatoren.“

Das Problem jedoch, eine Urangst: Schnell und unvermutet können diese kleinen Fische durch eine einzige versehentliche Schluckbewegung im Innern der Großen verschwinden. Ebenso kann es der Intelligenz ergehen, beispielsweise im Abgrund der Märkte, im  Wust der Algorithmen, mit dem Tod eines einzelnen Menschen. Alexander Kluge stemmt sich gegen dieses Verschwinden der Intelligenz, mit seinem erzählerischen Werk, mit einer Prosa, die bei allem Anekdotenreichtum ein poetisches Urvertrauen auszeichnet. Gerrit Bartels

Alexander Kluge bei den Filmfestspielen in Venedig 2007.
Alexander Kluge bei den Filmfestspielen in Venedig 2007.

© picture-alliance/ dpa

Lange war diese Stimme vielen Menschen vertrauter als das dazugehörige Gesicht. Ihr heller, gepresster, vor Neugier leicht atemloser Klang hat schon den großen Heiner Müller in einen sanften Schlummer der Gerechten entsandt: Im Gespräch nickte der einmal über seinem angekauten Zigarrenstummel kurz weg. Das Ideen-Sparring zwischen Kluge und Müller gehörte in den neunziger Jahren zu den Sternstunden des deutschen Privatfernsehens, wo man ihnen um Mitternacht unvermittelt beim Zappen durch die Sender begegnen konnte.

Dieser Stimme da aus dem Off hörte man die diebische Freude am klugen und manchmal auch noch so abwegigen Gedankengang an; in den Gesprächen mit Helge Schneider, dem Unikum Peter Berling oder Christoph Schlingensief trieb das Fabulieren die schönsten Blüten.

„Ich habe in mir eine Stimme, und die ist identisch mit dem Menschen, der dreizehn Jahre alt ist“, hat Alexander Kluge kürzlich gesagt. Er bezog das auf seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg. Die Feststellung gilt jedoch genauso für diese kindliche Begeisterung, die im 90. Lebensjahr noch nicht erloschen ist.

Den Goldenen Löwen in Venedig erhält er 1968

Kluge ist eine wandelnde Enzyklopädie des Menschheitsgedächtnisses, aber der erste Satz, den diese Stimme in der Kinogeschichte hinterlassen hat, stammt von „Struwwelpeter“-Autor Heinrich Hoffmann: „Ein Mammut, das im Eise steckt, hat unser Walther hier entdeckt“, rezitiert der Erzähler Kluge. Zu hören ist das Kindergedicht in „Abschied von gestern“, der 1966 auf dem Filmfestival in Venedig mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet wurde. (Der Goldene folgt zwei Jahre später für „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“) Kluges Regiedebüt ging damals ein ungeheurer Rummel voraus, es war der langersehnte erste Spielfilm eines Unterzeichners des Oberhausener Manifests, mit dem die Jungspunde 1962 „Papas Kino“ für tot erklärt hatten.

„Abschied von gestern“ ist der Nullpunkt des deutschen Kinos. Die Spiel- und Dokumentarszenen ergänzen sich zu einem filmischen Essay über die gesellschaftliche Kälte in der Bundesrepublik – am Beispiel einer jungen Frau, von Kluges Schwester Alexandra gespielt. Die hybride Form, die er später in „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“, „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“ und „Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit“ mit Archivbildern weiter entwickelt, wird zu Kluges Markenzeichen.

Seine Schwester Alexandra steht für ihn vor der Kamera

Der Stil entspricht seinem Denken, das sich wie ein Netz über die Welt legt: nicht analytisch, sondern tastend; versponnen und anekdotisch. Seine Bilder sind vom Text her gedacht (als Text, den es zu entschlüsseln gilt, versteht Kluge auch die Wirklichkeit). Trotzdem verfügt er über eine wunderbare Intuition für das Performative.

Kluge entdeckt Alfred Edel und Hannelore Hoger als „unbezähmbare Leni Peickert“ für die Kamera; seine 2017 verstorbene Schwester Alexandra war vielleicht der einzig ebenbürtige Nouvelle-Vague-Star des deutschen Films.

Alexander Kluge ist das Phantom der bundesdeutschen Kultur- und Mediengeschichte. Immer tauchte er in neuen Zusammenhängen auf, in der Gruppe 47, bei den „Oberhausenern“ und schließlich 1987 bei der Gründung des Privatfernsehens. Mit seiner Produktionsfirma DCTP erstreitet er Sendelizenzen von RTL, Sat1 und Vox, weil sich die Privaten nicht um ihren im Landesmediengesetz festgelegten Kulturauftrag kümmern.

Kluge kapert das junge Privatfernsehen

Der Deal erweist sich als Kuckucksei. Der Regisseur Kluge gehört zu den Mitbegründern des deutschen Autorenfilms, der Medienanwalt Kluge revolutioniert das deutsche Fernsehen mit Kulturmagazinen wie „10 vor 11“ oder „News & Stories“. Die Frage „Warum soll es nicht ein ,Fernsehen der Autoren’ geben können?“ war nur scheinbar eine rhetorische. Die praktische Umsetzung brachte damals RTL-Chef Helmut Thoma auf die Palme, der Kluges Programm „Zwölftonmusik im Zirkus“ nannte.

Kluges Wissen schichtet sich nicht, es wächst rhizomatisch. Eine Materialsammlung, deren Hypertextualität sich vor zehn Jahren, in der Video-Anthologie „Nachrichten aus der ideologischen Antike“, auch perfekt für das nicht-lineare, inzwischen obsolete DVD-Format eignete. Das Neue hat Kluge schon immer begeistert, er liebt Herausforderungen – und stellt seine Gesprächspartner vor ebensolche.

Das Phänomenale an Kluge ist, dass er nie den Anschluss verloren hat. Dem Kino bleibt er bis heute treu, auch dank eines neuen Mitstreiters, der seine Faszination für digitale Filmtechnik, politische Interventionen (1980 drehte Kluge mit Volker Schlöndorff und Stefan Aust „Der Kandidat“, um die Kanzlerkandidatur von Franz Josef Strauß zu verhindern) und das freie Assoziieren teilt. Mit dem philippinischen Guerillafilmer Khavn verlegte er zuletzt den Orpheus-Mythos in die Slums von Manila. „Verwirrung stärkt die Muskeln der Einbildungskraft“, so hat er seine Methode mal erklärt. Mit seinen 90 Jahren ist Alexander Kluge der beste Beweis für die Wirksamkeit dieses Workouts. Andreas Busche

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false