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Künstler und Aktivist. Jon Batiste spielte bei den Black-Lives-Matter-Demonstrationen im Juni 2020 in New York.

© Louis Browne

Album von Jon Batiste: „We Are“ zeigt die heilende Kraft schwarzer Musik

Jon Batiste ist Talkshow-Bandleader und hat den Soundtrack für den Pixar-Film „Soul“ geschrieben. Mit dem Pianisten hat der Jazz seinen perfekten Botschafter gefunden.

Von Andreas Busche

Auf dieses religiöse Pathos, das sich in Amerika in politischen Reden oft so glaubensbekenntnishaft in den Vordergrund schiebt, reagieren wir Europäer, zumal im protestantischen Deutschland, prinzipiell ein wenig allergisch. Man hat das gerade erst wieder im Januar bei Amanda Gormans Inaugurationsgedicht „The Hill We Climb“ gemerkt.

Religion spielt in der US-Politik – gut zu erkennen etwa am Einfluss der Evangelikalen bei den Republikanern – schon immer eine größere Rolle, auch in der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung fungierten die schwarzen Kirchen als wichtiges soziales Bindeglied.

Es ist also gut möglich, dass eine Zeile wie „We are the chosen ones“ („Wir sind die Auserwählten“) hierzulande als Kitsch abgetan wird. Für den amerikanischen Jazzmusiker Jon Batiste hat dieser Satz allerdings eine gesellschaftliche Dimension.

„We Are“ heißt das fünfte Studioalbum des gelernten Pianisten, auf dem er sich erstmals von seinen Jazz-Wurzeln entfernt. Irgendwo zwischen Hip-Hop, Soul, Funk und Gospel sucht Batiste nach der verbindenden Formel für ein neues gesellschaftliches Modell. Sein blendendes Falsett, das an Raphael Saadiq erinnert, trägt dieses Friedensangebot über die Stimmkraft einer ganzen Chorgemeinde: „The ghetto is full of stars/ Bless them, shine from afar / On days when it’s hard, and always / Nana knows how to sing / And sooth the soul / From summer to fall, and always“.

Die heilende Wirkung von Musik war schon immer das Thema von Jon Batiste, der in den USA inzwischen auch ein kleiner Fernsehstar ist: als Bandleader und musikalischer Sidekick von Talkshow-Moderator Stephen Colbert.

Er tritt auf Black-Lives-Matter-Demos auf

Doch Öffentlichkeit ist für Batiste kein Selbstzweck, er sieht sich mit seiner Rolle in der Verantwortung. Eine frühe Version des Titelstücks „We Are“ entstand bereits im Juni 2020, damals spielte Batiste auf einer friedlichen Demonstration der Künstler:innenvereinigung „Sing for Hope“ gegen die Ermordung von George Floyd. „Ich hatte das Gefühl, dass die Menschen die Botschaft in dieser schweren Zeit brauchten“, erinnerte sich Batiste kürzlich in einem Interview.

„We Are“ erscheint an einem interessanten Punkt in der Karriere des 33-Jährigen, der eine wandelnde Jazz-Enzyklopädie ist – was ihn bei so unterschiedlichen Künstlern wie Stevie Wonder, Willie Nelson, Lenny Kravitz und Billie Joel gerade zu einem der gefragtesten Musiker seiner Generation macht. Die Black-Lives-Matter-Proteste des vergangenen Jahres haben sein Profil geschärft.

Sein Label Verve kündigt ihn inzwischen auch als „Aktivisten“ an – und neuerdings sogar als Golden-Globe-Gewinner. Für den Soundtrack zum Pixar-Animationsfilm „Soul“ wurde Batiste Ende Februar zusammen mit seinen musikalischen Partnern Trent Reznor und Atticus Ross ausgezeichnet, gerade erhielten sie auch eine Oscar-Nominierung.

Jazz-Markenbotschafter für eine junge Generation

Ähnlich wie vor einigen Jahren der Saxofonist Kamasi Washington gilt Batiste im Moment sozusagen als Jazz-Markenbotschafter für eine junge Generation von Musikfans. Batiste sieht in dem Pixar-Film die perfekte Zeitkapsel, um „Jazz zurück in das öffentliche Bewusstsein zu bringen“, wie er diese Woche im „Atwood Magazine“ erzählte. „Jazz wird als Narrativ zu oft in der Vergangenheit verortet.“

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In dieser Hinsicht versteht sich Batiste als Pädagoge. „Soul“ erzählt auf intuitive, kindgerechte Weise, wie die Seelen Verstorbener durch die Menschheitsgeschichte wandern. Auch Jazz ist, als genuine Diaspora-Musik, das Medium einer tradierten Vergangenheit.

Auf „We Are“ verbindet Batiste Stationen seiner Biografie mit seinen Einflüssen zu einem sehr persönlichen Album. Diese Ahnenreihe bezieht sich nicht nur auf die Familie – mit acht Jahren spielte Jon in der Batiste Brothers Band, dafür unterstützt ihn sein Vater heute im Folkblues „Cry“ am Bass –, es geht ihm auch darum, die Verbindungslinien schwarzer Kultur wieder sichtbar zu machen.

„I Need You“ hat das Zeug zum Sommerhit

Für „We Are“ rekrutierte er die Marchingband seiner High School St. Augustine in New Orleans, die Anfang der Fünfziger zu den ersten schwarzen Eliteschulen im Süden gehörte. Für Batiste führte der Weg später von St. Augustine zum renommierten New Yorker Konservatorium Juilliard.

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Dem amerikanischen Radiosender „Jazz FM“ erzählte Baptiste vor einigen Wochen, warum er sich reif für ein Album wie „We Are“ fühlt: „Ich bin jetzt in dem Alter, in dem ich besser verstehe, wer ich bin. Auch Miles Davis’ ,Kind of Blue’ und John Coltranes ,A Love Supreme’ entstanden, als sie in ihren Dreißigern waren.“ Der Satz ist weder kokett noch überheblich gemeint, er zeugt nur von einem gesunden Verhältnis zur Geschichte.

Der Blues der schwarzen Farmhelfer, zu denen noch sein Urgroßvater gehörte, hat in „We Are“ genauso Spuren hinterlassen wie der Hip-Hop-affizierte Pop eines Pharrell Williams.

Optimismus als eine "spirituelle Übung“

Dürfte man sich dieses Jahr einen Sommerhit im Geiste von „Happy“ wünschen, kann die Wahl eigentlich nur auf „I Need You“ fallen, das mit einer Länge von 2 Minuten 37 Sekunden zudem absolut radiotauglich ist. Das Video dieser ersten Album-Auskopplung (eine Tanzeinlage in einer Galerie) ist auch – für alle, die Batiste noch nicht als Talkshow-Bandleader kennen – die schönste Einführung in dieses sonnige Gemüt.

Aus diesem ansteckenden Optimismus schöpfen so manche Songs auf „We Are“, zum Beispiel die schwitzende R’n’B-Nummer „Freedom“ mit Soul-Legende Mavis Staples. Oder das an die Scat-Tradition angelehnte Afropunkstück „Whachutalkinbout“, in dem sich Batiste als talentierter Rapper empfiehlt.

Wenn er dann aber erklären soll, woher er diesen unerschütterlichen Optimismus nimmt, sagt er schon mal Sätze, die in europäischen Ohren wieder hochgradig esoterisch klingen. Batiste nennt seine positive Einstellung eine „spirituelle Übung“, die in dem Glauben verwurzelt sei, dass „wir alle göttliche Wesen“ sind. Das kann man dann einfach mal so stehen lassen. Vielleicht macht Musik uns doch zu besseren Menschen. (Jon Batiste: We Are (Verve/Universal)

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