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Tonnenschwerer Tanz. Die Skulpturen „Martin“ (r.) und „Strength“ (l.) sind in diesem Jahr entstanden.

© Jens Ziehe / Galerie

Ai Weiweis Berliner Abschiedsausstellung: Ein monumentaler letzter Gruß

Wie bei seiner ersten Ausstellung 2011 in der Galerie Neugerriemschneider fehlt der Künstler wieder. Diesmal schult er seinen Sohn in Cambridge ein.

Es ist ein schwerer letzter Gruß aus Berlin. Tonnen von Eisen liegen auf dem schwarzen Boden, und wenn die daraus geformten Skulpturen etwas weniger monumental wären, könnte man glatt von Luftwurzeln sprechen. Bloß der Schöpfer der „Roots“ fehlt an diesem Tag, an dem ein erster Blick auf Ai Weiweis dritte Einzelausstellung in der Galerie Neugerriemschneider möglich ist. Sein Sohn werde gerade in Cambridge eingeschult, heißt es, zur offiziellen Eröffnung sei er jedoch auf jeden Fall zurück.

Sein Atelier in Prenzlauer Berg behält Ai Weiwei

Das Wort Cambridge: Es erinnert daran, dass sich der Künstler zum Umzug nach Großbritannien entschlossen und einige Wellen verursacht hat, als er den Weggang aus Berlin mit kritischen Worten gen Deutschland verband. Intoleranz, gepaart mit Opportunismus, lautet seine Diagnose. Ob sie allein für Ai Weiweis Entscheidung verantwortlich ist, bleibt letztlich unklar. Sein Atelier in Prenzlauer Berg will er halten, und eine Ausstellung wie die jetzige dokumentiert die Weltläufigkeit eines Künstlers, der überall und nirgends zu Hause ist. Die Vorbilder jener Arbeiten, die wie urzeitliche Skelette längst verschwundener Kreaturen aussehen, hat er auf Reisen in den Regenwäldern von Bahia entdeckt. Es handelt sich um die Wurzeln alter Pequi-Bäume, deren morbide Schönheit einen fast sofort an die brennende Fauna in Brasilien denken lässt.

Tatsächlich aber sind die von Ai Weiwei verwendeten Bäume abgestorben. Sie hatten Zeit, sich zu entwickeln, sind Zeitspeicher ihres Jahrhunderts – und werden mit Hilfe lokaler wie chinesischer Handwerker skulptural transformiert. Denn auch wenn die rostroten Formationen bei Neugerriemschneider die reliefhafte Oberfläche von Holz besitzen: Sie sind aus einem industriellen Werkstoff gemacht.

Diese Überführung vom naturhaften in einen artifiziellen Zustand ist typisch für Ai Weiwei. Im Fall der „Roots“ schließt sich noch seine konstruktive Arbeit an. Er kombiniert die Wurzeln, setzt sie mithilfe wuchtiger Eisenträger zusammen und schafft assoziative Skulpturen mit Titeln wie „Martin“, „Palace“ oder „Fly“ (Preise auf Anfrage). Dabei bezieht sich Ai auf ein Gedicht von Ai Qing, der 1940 über das Wurzelwerk von Bäumen schrieb, die sich unsichtbar für uns unter der Erde umklammern. „Roots“ geben dieser poetischen Idee eine Form.

Mit solchen Arbeiten trifft der chinesische Künstler einen Nerv. Seine große Retrospektive in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, die Anfang September zu Ende ging, wollten über 200 000 Besucher sehen. In Düsseldorf versammelten sich all die hochpolitischen Werke, mit denen Ai Weiwei in der Vergangenheit bekannt geworden ist. So wie „Straight“ aus über 160 Tonnen Armierungseisen, die an das Erdbeben 2008 in Sichuan erinnern, bei dem 5000 Kinder starben, weil ihre Schulen schlecht gebaut waren.

Ai Weiwei übt Kritik an der Zerstörung des Regenwalds

Das Eisen der „Roots“ wirkt harmlos gegen die Anklage von „Straight“. Dennoch üben auch die zu ästhetischen Gebilden montierten Wurzeln Kritik an der Ignoranz, mit der im Regenwald zerstört wird, was unwiederbringlich ist. Nur geschieht es hier stiller und über den Umweg der Schönheit: Ai Weiwei macht die Bäume in seinen Skulpturen unsterblich und erinnert dadurch erst recht daran, wie verletzbar das Original ist.

Mit Bäumen rückte er auch schon zu seiner ersten Ausstellung in der Galerie Neugerriemschneider an. Damals waren es echte Wurzeln, zu Hybriden montiert, die plötzlich wie kahle Äste wirkten. Das Material bleibt, bloß der Umgang mit ihm verändert sich sukzessive, dieser Eindruck drängt sich im Vergleich auf.

„Where is Ai Weiwei?“ hing 2011 als Banner an der Hausfassade

Und noch eine Erinnerung wird wach. Als die Ausstellung im Frühjahr 2011 zum Berliner Gallery Weekend eröffnete, fehlte Ai Weiwei komplett. Kurz zuvor hatte ihn die chinesische Regierung verschleppen lassen, niemand wusste, wo er sich aufhielt und was passieren würde. „Where is Ai Weiwei?“, diese Frage hing als Banner an der Hausfassade, die großen „Trees“ und die Porzellanskulpturen „Rocks“ wirkten wie ein Fanal. Ist es Zufall, dass nun, wo er sich zum Wegzug entschieden hat, seine Kunst in derselben Kombination noch einmal auftaucht?

„Remains“ heißt eine Arbeit aus Porzellan, „Wave“ eine andere von 2015, die an ein Stück gefrorenes Wasser erinnert. In Wahrheit zeigt sie einen Tsunami im Miniaturformat. Eine wuchtige und dennoch fragile Plastik, die in der ehemaligen kaiserlichen Porzellanmanufaktur von Jingdezhen entstanden ist. Ihre aufwendige Herstellung korrespondiert mit der Ausstellung selbst. Denn auch wenn sich die Schau auf zwölf Arbeiten beschränkt, ahnt man den ungeheuren Aufwand, den die Galerie im Hintergrund dafür betrieben hat.

[Galerie Neugerriemschneider, Linienstr. 155; bis 19. Oktober, Di–Sa 11–18 Uhr]

Dass „Roots“ kurz vor der Berlin Art Week eröffnet, die kommende Woche beginnt, steht für die Bedeutung, die die Galeristen Tim Neuger und Burkhard Riemschneider dem Kunstherbst der Stadt beimessen. Denn die Schau von Ai Weiwei zählt schon jetzt unzweifelhaft zu ihren Highlights. Zugleich mag sie ein Grund für die diesjährige Abwesenheit von Neugerriemschneider auf der Kunstmesse Art Berlin sein, die ebenfalls nächste Woche stattfindet. Was bedauerlich ist, weil die Galerie bislang auch dort für Gewicht sorgte. Doch die Konzentration in diesem Jahr auf Ais neuste Baumskulpturen am eigenen Standort zeigt, was eine Galerie im Idealfall zu leisten vermag.

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