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Kremlkritiker Alexej Nawalny in der Berliner Charité, kurz nachdem er mit Nervengift angegriffen wurde.

© Daria Nawalny/privat/Instagram/dpa

Agenthriller "Das perfekte Gift": Wie Russlands Geheimdienst Abtrünnige jagt

Sergej Lebedew hat seinen Spionagethriller „Das perfekte Gift“ eng an der Wirklichkeit entlang geschrieben. Die Parallelen zum Fall Nadalny sind verblüffend.

Der Einbruch des Schreckens in das Idyll ist eine Sache von Sekundenbruchteilen. Eben noch hat Wyrin auf der Restaurant-Terrasse den Zauber des glitzernden Lichts im Kastanienlaub, des arglosen Geplauders an den Nebentischen genossen.

Dann fühlt er, ganz plötzlich, einen Stich am Nacken. Wohl von einer Wespe, denkt er, und schluckt eine Pille, weil er allergisch ist gegen das Insektengift. Aber das Medikament wirkt nicht, er steht auf, taumelt, kann nicht um Hilfe rufen, sein Hals ist zugeschwollen. Dann fällt ihm der Mann ein, den er aus dem Augenwinkel hat weghuschen sehen. „Notarzt“, krächzt Wyrin. „Polizei ... ein Anschlag ... Gift ... wurde vergiftet.“ Und sackt in sich zusammen und ist tot.

Ein Mord als Warnhinweis

Die Suspense-Szene ist nur die Ouvertüre zu Sergej Lebedews Roman „Das perfekte Gift“, ein Warnhinweis. Niemand entgeht der Rache des russischen Geheimdienstes, selbst wenn er – wie dieser Wyrin – vor dreißig Jahren im Westen untergetaucht ist. Wyrin war Agent und hat andere Agenten verraten. Sein Vergehen ist in Akten notiert und, so die Regel der Henker, „Papier will Blut“. Zuletzt haben das der Überläufer Skripal und der Dissident Nawalny zu spüren bekommen, die mit Nervenkampfstoffen vergiftet wurden.

Lebedews Fiktion, die im russischen Original 2020 herauskam, ist nah an der Wirklichkeit entlang geschrieben, das macht sie so beklemmend. Sein Spionagethriller führt, ähnlich wie John le Carrés Klassiker um den Top-Geheimdienstler Smiley, tief hinein in eine Schattenwelt, die durchtränkt ist von Angst und Paranoia. Vertraute können sich als Verräter erweisen, der gefährlichste Feind steht immer schon hinter dir. Nur, dass Lebedew die Whodunit-Rätsel des Genres wenig interessieren, stattdessen zeigt er, wie ein totalitäres Regime Seelen deformiert und vergiftet.

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Seine beiden Protagonisten, die Katz und Maus miteinander spielen, ähneln sich in ihrer absoluten Skrupellosigkeit. Der KGB-Offizier Kalitin, der in einer abgeschotteten Geheimstadt chemische Kampfstoffe entwickelte, hat sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in die ostdeutsche Provinz abgesetzt. Mitgenommen hat er eine Probe seiner letzten Kreation, von ihm als „allerhöchste Substanz“ gefeiert. Deren tödliche Wirkung hatte er an „Gliederpuppen“ getestet, ein zynischer Euphemismus für Strafgefangene.

Auslöschung beginnt mit der Sprache

Ihm auf den Fersen ist KGB-Oberstleutnant Scherschnjow, ein Veteran des Tschetschenienkriegs. Dort hat er Gefangene in „namenlose Puppen“ verwandelt, denen er mittels Folter „die unerbittliche Sprache des Schmerzes“ beibrachte. Um Menschen ohne Gewissensbisse töten zu können, muss man ihnen zuvor alles Menschliche nehmen, was mit den Begriffen beginnt.

[Sergej Lebedew: Das perfekte Gift. Roman. Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2021. 256 Seiten, 22 €]

Für Scherschnjow ist Kalitin bloß ein „Objekt“, das es auszuschalten gilt. Dem Abtrünnigen setzt er auf derselben Route nach, die der zur Flucht nutzte. Im Gepäck hat er ein Flakon mit einem Gift, das „spurlos und unauffindbar“ wirken soll. Vielleicht handelt es sich um den Stoff, den Kalitin einst erschuf, von ihm „Debütant“ getauft, weil er noch nie eingesetzt wurde. Der Showdown findet in einem abgelegenen Bergdorf statt, er wird buchstäblich atemberaubend.

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