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Engagement im öffentlichen Raum. Der Schriftsteller Heinrich Böll, der Philosoph Theodor W. Adorno und Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld (v.l.) unterstützen den Protest gegen die Notstandsgesetze. Eine Veranstaltung im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main am 28. Mai 1968.

© Manfred Rehm/p-a/dpa

Adorno zum 50. Todestag: Die Vernunft der Verrückten

Was hat uns die Kritische Theorie noch zu sagen? Zum 50. Todestag von Theodor W. Adorno, des vielseitigsten Denkers der Frankfurter Schule, erscheint ein verblüffend aktueller Vortrag über Rechtsradikalismus.

Von Gregor Dotzauer

Im Auf und Ab der philosophischen Strömungen erhebt auch die Kritische Theorie immer wieder ihr gestrenges Haupt. Am stolzesten reckt sie es seit jeher in Frankfurt am Main, wo ihr Max Horkheimer Anfang der 1930er Jahre im Rahmen des Instituts für Sozialforschung die Aufgabe einer Unruhestifterin wider den Quietismus der herkömmlichen Philosophie zuwies. Von der Mischung aus Marxscher Gesellschaftsinterpretation, Hegelscher Begriffsdialektik und Freudscher Psychoanalyse, wie sie die „Dialektik der Aufklärung“ prägt, eines ihrer im amerikanischen Exil zusammen mit Theodor W. Adorno verfassten Hauptwerke, hat indes vor allem der ideologiekritische Zug überlebt.

Nicht nur die alljährlichen Adorno-Vorlesungen an der Goethe-Universität, das Aushängeschild ihrer Vitalität, haben sich in viele Themenfelder hinein geöffnet. Seit 2002 haben so unterschiedliche Denker und Denkerinnen wie die Philosophin Judith Butler, die Soziologin Eva Illouz, der Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt oder der Germanist Albrecht Koschorke Motive der Kritischen Theorie weitergesponnen. Im Vorfeld von Adornos 50. Todestag am 6. August, zu dem heute auch ein Vortrag über Rechtsradikalismus von ungewöhnlicher Aktualität erscheint, ging es dieses Jahr mit Peter E. Gordon zurück zu den Quellen: Der in Harvard lehrende Ideenhistoriker interpretierte Adorno im Hinblick auf dessen Verständnis von Materialismus, Metaphysik und Ästhetik.

Die Urenkel sind schon am Zuge

In Berlin hält insbesondere die Philosophin Rahel Jaeggi, die als langjährige Mitarbeiterin von Axel Honneth, der über seinen Lehrer, den ehemaligen Adorno-Assistenten Jürgen Habermas, bereits die Urenkelgeneration der Kritischen Theorie repräsentiert, die Fahne hoch. An der Humboldt-Universität hat sie ein Center for Humanities and Social Change eingerichtet. Die Hoffnung auf Veränderung des Bestehenden trägt es schon im Titel.

Adorno selbst hat diesen Impetus wohl nie deutlicher als im sogenannten Positivismusstreit mit Karl R. Popper formuliert. In den Sozialwissenschaften, erklärte er, gebe es keine isolierten, rein empirisch erfassbaren Probleme, sondern nur ein auf die Totalität von Gesellschaft und ihrer ideologischen Grundlagen gerichtetes Erkenntnisinteresse. Welche politischen Handlungsanweisungen daraus zu ziehen sind, war allerdings schon zu Zeiten der Studentenbewegung umstritten. „Wer nur den lieben Adorno lässt walten“, spotteten Aktivisten, die sich von dem Philosophen zu revolutionären Taten aufgefordert fühlten, „der wird den Kapitalismus ein Leben lang behalten.“

Aber ist der handzahme Sozialdemokratismus, mit dem der 88-jährige Kanadier Charles Taylor auf Einladung von Rahel Jaeggi bei den ersten Walter Benjamin Lectures an der Humboldt-Universität den weltweiten Erschöpfungszuständen des parlamentarischen Liberalismus zu Leibe rückte, eine Alternative? Während die Stadt Mitte Juni unter der Sommerhitze ächzte und der Emil-Fischer-Hörsaal aus allen Nähten platzte, sprach Taylor, durch seine Bekenntnisse zum Kommunitarismus als Kämpfer gegen die atomistischen Tendenzen moderner Gesellschaften ausgewiesen, drei Abende lang über „Demokratie und ihre Krisen“.

Globale Krise, einfach Krise

Dabei bemühte er, als gäbe es zwischen Jair Bolsonaros Brasilien und Viktor Orbáns Ungarn keinen Unterschied, all jene Stichworte, die jede gute Zeitung differenzierter ausbuchstabiert: die global wachsende Verteilungsungerechtigkeit; den Rückzug des Sozialstaats; den Mangel an gesellschaftlichem Zusammenhalt; das Misstrauen gegen kosmopolitische Eliten; die Groll erzeugende Marginalisierung reaktionärer Positionen im Namen demokratisch legitimierter Mehrheiten; das Aufflackern von Nationalismus und Überfremdungsängsten.

Der Kontrast zur Radikalität von Kritischer Theorie war so eklatant wie zum geschichtsphilosophischen Messianismus des Namenspatrons. Walter Benjamin, als literarischer Essayist und Kulturdiagnostiker eine Jahrhundertfigur, blieb als politischer Theoretiker aus gutem Grund immer ein Satellit der Frankfurter Schule – wenn auch ein wichtiger. Der englische Journalist Stuart Jeffries würdigt seine Rolle in dem für September angekündigten Buch „Grand Hotel Abgrund – Die Frankfurter Schule und ihre Zeit“ (Klett-Cotta) mit Verve.

Wie scharf das Instrumentarium der Kritischen Theorie noch schneidet, zeigt nun ausgerechnet das erwähnte, 52 Jahre alte Fundstück. Adornos 1967 auf Einladung des Verbands Sozialistischer Studenten Österreichs in Wien gehaltener Vortrag über „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ (Suhrkamp Verlag, 90 Seiten, 10 €) liest sich in vielem wie ein Kommentar zum Aufstieg der AfD.

Brückenschlag zu Björn Höcke

Der Historiker Volker Weiß warnt in seinem den historischen und intellektuellen Kontext sorgfältig erschließenden Nachwort zu Recht davor, die zeitliche Distanz aus den Augen zu verlieren, schlägt aber selbst die Brücke zu Björn Höcke. Mit dem Band „Die autoritäre Revolte“ (Klett-Cotta) veröffentlichte Weiß zuletzt ein leicht lesbares Standardwerk zur Geschichte der Neuen Rechten.

Schon Adorno setzt in seinem erstmals transkribierten Vortrag alles daran, die Schichten von Weimarer Republik, Nationalsozialismus und früher Bundesrepublik auseinanderzuhalten. 22 Jahre nach Kriegsende und drei Jahre nach Gründung der NPD und deren Einzug in mehrere Landesparlamente diagnostizierte er nicht einfach einen Bodensatz unbelehrbarer Geister. Er entdeckte in den Formen eines „pathischen“ Nationalismus eine Verführbarkeit, in die auch aktuelle Faktoren hineinspielen, etwa die Angst vor dem „Gespenst der technologischen Arbeitslosigkeit“. Heute geistert es als Sorge um den Verlust der eigenen Stelle in Zeiten der KI-Automatisierung umher.

Adorno bietet keine geschlossene Deutung rechtsradikaler Versuchungen, aber eine Fülle pointierter Beobachtungen. Sie führen locker fort, was er 1959 in dem perfekt ausformulierten Vortrag „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“ begann. Und sie knüpfen an die Exilforschung zur autoritären Persönlichkeit an, neben deren psychoanalytischen Erkenntnissen die materialistischen Erklärungen zur „Konzentrationstendenz des Kapitals“ in den Hintergrund rücken. Einmal mehr insistiert er darauf, dass „sogenannte Massenbewegungen faschistischen Stils mit Wahnsystemen eine sehr tiefe strukturelle Bedeutung haben“.

Die Paranoiker am Rand

Im lunatic fringe, dem ins Paranoide ausfransenden Rand, den US-Präsident Theodore Roosevelt 1913 als unvermeidliche Begleiterscheinung jeder Protestbewegung sprichwörtlich machte, vermutet er einen „unbewussten Wunsch nach Unheil, nach Katastrophe“. Wer kein Interesse habe, die gesellschaftliche Basis zu verändern, „der will aus seiner eigenen sozialen Situation heraus den Untergang, nur eben dann nicht den Untergang der eigenen Gruppe, sondern wenn möglich den Untergang des Ganzen.“

Er billigt dem sich darin äußernden Wahn aber durchaus Erfolgschancen zu. Denn in ihm verknüpft sich „eine außerordentliche Perfektion der Mittel“ mit „Blindheit, ja Abstrusität der Zwecke“. Diese „Konstellation von rationalen Mitteln und irrationalen Zwecken“ sieht er sogar als Charakteristikum „der zivilisatorischen Gesamttendenz“. Die Propaganda rechter Gruppierungen, das ist eine seiner aufregendsten Thesen, zeichne sich dadurch aus, dass sie „wie einst bei den Nazis geradezu die Sache selbst“ sei, sie bilde die „Substanz der Politik“. Das lässt sich in hohem Maß auch von der AfD behaupten.

Sie versteht sich insbesondere in Gestalt ihres bürgerlich wirkenden Spitzenpersonals auf eine manipulative Rhetorik, etwa eine zur „hochentwickelten Technik gesteigerte Form der Anspielung“ oder eine Verkehrung der Perspektive: „Man beruft sich immer auf die wahre Demokratie und schilt die anderen antidemokratisch.“ Bei alledem ist Adorno bewusst, „dass der Rechtsradikalismus kein psychologisches und ideologisches Problem ist, sondern ein höchst reales und politisches“. Deshalb müsse man sich ihm auch politisch stellen – und mit einer „durchschlagenden Kraft der Vernunft, mit der wirklich unideologischen Wahrheit dem entgegenarbeiten“. Mit diesem Appell ist er beim großen Projekt der Kritischen Theorie angelangt.

Es gibt nicht nur einen Adorno

Der Vortrag darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er nur einen von vielen Adornos präsentiert. Daneben gibt es den Musiktheoretiker, der in seiner „Philosophie der neuen Musik“ bei aller Begeisterung für Arnold Schönbergs historisch unausweichliches Zwölftonverfahren auch die Sackgassen eines reinen Fortschrittsdenkens benannte. Den Prosastilisten der „Minima Moralia“ und den Verfasser der „Ästhetischen Theorie“, der am Rätselcharakter aller Kunst festhielt. Schließlich den Anwalt der „Negativen Dialektik“, die die Welt mit dem „Nichtidentischen“ bekanntmachte, einer Art Einhorn der Kritischen Theorie: Niemand hat es je gesehen, aber es ist der Inbegriff eines Denkens, das sich der regierenden Warenförmigkeit entzieht.

Nicht alle Adornos sind von unverminderter Aktualität. Bei diesem hier jedoch handelt es sich um einen, der viel zu wenig bekannt ist und womöglich am meisten fehlt: ein hellwacher, zeitgeschichtlich beschlagener öffentlicher Intellektueller, der weiß, was eine richtig verstandene philosophische Herangehensweise zur Tagespolitik beitragen kann.

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