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Teil des Bilderatlas: Das Gemälde von Filippino Lippi aus der Berliner Gemäldegalerie, „Allegorie der Musik (Die Muse Erato)“, um 1500. 

© SMB, Gemäldegalerie/Jörg P. Anders

Aby Warburgs „Bilderatlas“: Reisen durch Raum und Zeit

Der Kunsthistoriker und Ethnologe Aby Warburg griff für seinen „Bilderatlas“ auf Werke der Berliner Museen zurück. Die Ausstellungen müssen leider noch warten.

Unter den Ideen und Forschungsansätzen Aby Warburgs ist wohl der folgenreichste der vom Fortleben bestimmter Bilder oder Motive durch Räume und Zeiten hindurch. Der Kunsthistoriker und ebenso Ethnologe Warburg sprach denn auch von „Bilderfahrzeugen“ und meinte das beinahe wörtlich, wenn er etwa von den in Flandern gewebten Bildteppichen „im stattlichen Bürgerhause der Medici“ des Jahres 1475 sprach. 

Warburg (1866–1929) wollte seine Forschungen zu diesem Problemfeld visuell systematisieren und ersann dazu den „Bilderatlas“, dem er den Namen der griechischen Göttin der Erinnerung und Mutter der Musen gab, „Mnemosyne“.

Seiner Überzeugung gemäß, dass sich visuell gefasste Vorstellungen über die Zeiten hinweg in ganz unterschiedlichen Formen äußern können, verteilte er Bildmaterial auf großen, mit schwarzem Stoff bespannten Tafeln. Diese Abbildungen reichten von Reproduktionen von Kunstwerken bis zu aktuellen Zeitungsfotos und Werbeschriften. 

Eine genaue Anzahl dieser Bildtafeln und der darauf angehefteten Abbildungen ist nicht überliefert, da Warburg den Atlas als work in progress verstand und nach den Erfordernissen beispielsweise der in seiner Privatbibliothek gehaltenen Vorträge änderte und ergänzte. 

Über eintausend Abbildungen

Dass der Eingang zu dieser Bibliothek im Türsturz das eingemeißelte Wort „Mnemosyne“ in griechischer Schrift trug, unterstreicht nur die Bedeutung, die Warburg selbst seinem Vorhaben gab, ehe er es durch seinen Tod 1929 unabgeschlossen hinterließ.

Unter den Vorlagen, die Warburg in seinen weit über eintausend Abbildungen zur Hand hatte, befand sich eine größere Anzahl von Kunstwerken aus den Sammlungen der Staatlichen Museen Berlin. 

Da nun das Haus der Kulturen der Welt (HKW) seit Anfang April eine Ausstellung mit dem erstmals aus dem – in London befindlichen – Nachlass Warburgs rekonstruierten Bilderatlas zeigen wollte, erarbeiteten die Staatlichen Museen parallel dazu eine Ausstellung der Berliner Atlas-Werke, die in den Räumen der Gemäldegalerie gezeigt werden sollte und nun gleichfalls nicht zu besuchen ist. 

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Wohl aber zu sehen, zumindest im kleineren Format des Katalogs, der zum Auftakt der Ausstellung unter dem Titel „Zwischen Kosmos und Pathos“ vorlag. Das HKW allerdings hat seinen Part gleich ins kommende Jahr verschoben, auch war der vorgesehene Kommentarband zum Bilderatlas ohnehin erst für den Herbst avisiert. Immerhin der rekonstruierte Bilderatlas liegt im Format eines tatsächlichen Atlas vor, wenn auch bislang nur im Internet.

Ein wenig erstaunt die Mühe schon, mit der das Unternehmen der Rekonstruktion betrieben und beworben wird. Denn es lagen seit jeher Abbildungen des Atlas in einer Fassung letzter Hand vor – jene Fotografien, die von den 63 der bis 79 durchnummerierten Tafeln dieses Stadiums posthum angefertigt und dem für den Druck vorgesehenen Leipziger Verlag Teubner übersandt worden waren. 

Daraus ergibt sich die Gesamtzahl von 971 bekannten Abbildungen auf allen Tafeln. Deren Vorlagen sind großenteils von Martin Warnke, dem inzwischen verstorbenen Hamburger Kunsthistoriker, für den im Jahr 2000 von ihm herausgegebenen Band innerhalb der gesammelten Schriften Warburgs identifiziert worden. Dieser Band, bislang die autoritative Bildquelle, umfasst die in gestochen scharfen Fotografien überlieferten 60 Tafeln. 

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Was die Ausstellung im HKW hinzufügen soll(te), sind die originalen Abbildungen selbst, die sich in dem riesigen, mittlerweile 400 000 Abbildungen umfassenden Bestand der Fotothek des Londoner Warburg Institute verbargen und die von Roberto Ohrt und Axel Heil, den Kuratoren des HKW, in jahrelanger Suche denn auch gefunden worden sind.

Dass Warburg Werbeprospekte, Zeitungsausschnitte und Briefmarken als Belegmaterial ebenso schätzte wie Kunstwerke, denen naturgemäß sein Hauptinteresse galt, hat nicht wenig zu der Faszination beigetragen, die von Warburgs Werk seit der umfassenden Wiederentdeckung dieses Oeuvres ausging und -geht. 

Dabei sollte nicht übersehen werden, wie Warburg selbst sein Projekt betitelte: „Mnemosyne. Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance“. 

Der komplizierte Titel zeigt insbesondere, wie Warburg von seinem ursprünglichen, seit der Sandro Botticelli gewidmeten Dissertation des Jahres 1892 bearbeiteten Forschungsfeld zum Verhältnis von Antike und Renaissance immer weiter ausschritt und unter anderem am Zeitgeschehen des Jahres 1929 Anteil nahm, insofern es sich in der politischen Ikonografie von Staatsakten zeigte. 

Bildervorrat aller Zeiten neu zusammengestellt

Daraus nämlich erklärt sich Tafel 78 mit Zeitungsfotos rund um die Unterzeichnung der Lateranverträge durch Vertreter des Vatikans und den italienischen Ministerpräsidenten Mussolini.

Was Warburg mit den Bilderarrangements jeweils zeigen und erläutern wollte, bleibt „weitestgehend den Augen und der Interpretation ihrer Betrachter*innen überlassen“, schreibt Jörg Völlnagel, gemeinsam mit Neville Rowley Kurator der Ausstellung in der Gemäldegalerie, in dem sehr schönen, farbig illustrierten Katalog. 

Völlnagel nennt den Bilderatlas „einen Beitrag zum Feld des vergleichenden Sehens und der Ableitung von Argumentationssträngen aus Reihen und Konstellationen von Bildern jedweder Art“. Ebendies macht Warburg, wenn er das Nachleben der in der Antike vorgeprägten Gesten und Haltungen – er nennt sie „Pathosformeln“ – bis in die Werbeplakate und Briefmarken seiner Zeit verfolgt; um wie viel mehr in den Staatsakten seiner eigenen Gegenwart.

Die Faszination, die Warburgs Bilderatlas oder besser gesagt sein Konzept ausübt, liegt wohl in dem Angebot, den Bildervorrat aller Zeiten neu zusammenzustellen, statt eine unverrückbare Entwicklung der visuellen Kultur zu behaupten. 

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Doch nichts lag Warburg ferner als beliebiges Kombinieren; ihm war das Vergleichen feinster Einzelheiten Methode: „Der liebe Gott steckt im Detail“, pflegte er zu sagen. Die „florentinische Nymphe“, deren nachantike Wiederkehr er zuerst bei Ghirlandaio ausmacht, findet Warburg schließlich auf französischen Briefmarken von 1904 ebenso wieder wie auf dem Werbeblatt „Eßt Fisch“ von 1927. 

Dass im Bilderatlas Dürers berühmter Kupferstich „Melencolia I“ von 1514 nicht fehlt, versteht sich fast von selbst, ist doch die geflügelte und bekränzte Hauptfigur die Personifikation der Melancholie, die Warburg selbst ein Leben lang begleitete.

Es ist ein Jammer, dass die Ausstellung der Berliner Gemäldegalerie sich zeitlich an die des HKW bindet und ins kommende Jahr verschoben wird. Erst dann wird es möglich sein, dem Bauprinzip von Aby Warburgs Bilderatlas anhand der originalen Kunstwerke auf die Spur zu kommen. 

[Aby Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne. Hrsg. v. Martin Warnke. De Gruyter, Berlin. 4. Aufl. 2012. 140 S., 109,95 €.
Zwischen Kosmos und Pathos. Berliner Werke aus Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne. Hrsg. v. Neville Rowley und Jörg Völlnagel. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2020. 120 S., m. zahlr. Abbildungen, 29 €.]

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