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Pommes mit Mayo. Kathrin Angerer und Henry Hübchen in der Castorf-Inszenierung „Die Weber“ von 1997.

© David Baltzer/Zenit

Abschied von der Volksbühne (Teil 3): Extrem und sehr bequem

Meine Jahre mit Castorf & Co.: Letzter Teil unserer Serie zum Abschied von einem Vierteljahrhundert Volksbühne.

Das Rad will nicht. Will nicht weg. Zwei Kräne zerren an den Speichen, die Füße sind angegraben, das Räuberrad steht. Mittwochabend auf dem Rosa-Luxemburg-Platz. Eisern Volksbühne.

Führt Frank Castorf hier Regie? Der joviale, leicht maliziöse Einsatzleiter von der Polizei, ist das nicht Henry Hübchen? Der dicke Typ vom Fuhrunternehmen, das ist doch Hendrik Arnst? Und das muss Milan Peschel sein, der sehr ernsthafte und hilflos wirkende Vorarbeiter, der die Ausgräber anführt. Toller Auftritt vor der Volksbühne. Historisch. Nach gut zwei Stunden wird der Kidnapping-Versuch abgebrochen. Der Platz, die Kneipen, die Anwohner am Fenster applaudieren. Der Kran-Chef verbeugt sich.

Am Rad drehen

Das Rad soll aus dem Boden gezogen werden und zum Festival nach Avignon reisen. Darauf haben sich die Kulturverwaltung, Frank Castorf und die Erben von Bert Neumann, dem Rad-Erfinder, geeinigt. Das hat alles seine Komik. Niemand hat das Rad gefragt. Oder das Riesenmonster, mit dem es unterirdisch verwachsen ist. Klare Botschaft: Die Volksbühne bleibt.

War das nicht längst klar? Herbert Fritsch geht an die Schaubühne, Castorf arbeitet am Berliner Ensemble und René Pollesch am Deutsche Theater. Der Dampfer sinkt. Niemand geht unter.

Am Ende bleibt die Farce. Es ist alles gesagt und getan, von allen. Erschöpfung macht sich breit, es ist sehr spät geworden. Alles schmerzt. Selbst die Scheinwerfer haben genug gesehen, wollen sich verdunkeln. Es reicht jetzt wirklich.

Höhepunkte nach Mitternacht

Das ist der Moment, in dem eine Inszenierung von Frank Castorf zum Leben erwacht. In der fünften oder sechsten Stunde, es geht auf Mitternacht. Da taucht Herbert Fritsch auf – es muss „Der Idiot“ nach Dostojewski gewesen sein – und die wilde Post geht ab. Der Schalter wird umgelegt. Ein irrer Energiestrom schießt durch das Haus, reißt Zuschauer und Künstler mit. Und nachher wird die Nacht erst richtig lang, mit den fiesen Bouletten und viel Bier in der Kantine oder dem wundervollen, teuren Rotwein im Schwarzenraben. Wenn Bühne und Kantine kongruent sind, dann nennt man das Theaterglück.

So war das, damals. So haben es viele Fans auch in diesen letzten Tagen der Volksbühnen-Menschheit bei den Abschiedsmessen wieder und wieder erlebt. Ich gestehe: Es macht ein wenig neidisch. Warum bin ich nicht fähig zu solchen Gefühlsstürmen? Habe ich die Volksbühne nicht geliebt? Aber wie! Nur ist die Liebe irgendwann erkaltet, vielleicht nach fünfzehn Jahren. Danach war es aber nicht aus. Es gab immer mal wieder Sex mit der Ex. Das hat man bei Frank Castorf gelernt – nichts, aber auch gar nichts ist heilig. Zerstörung bringt Lust. Verrat ist eine feine Sache und Theater eine Art Rock’n’ Roll. Dass man es sich im Chaos bequem machen kann, im volksbühneneigenen Dauerspaßbetrieb, war eine fantastische Erfahrung. Irgendwann brüllten die Akteure nur noch.

Schule der Freiheit

Ich dachte, die Volksbühne sei eine Schule der Freiheit und der Distanz und des hedonistischen Zynismus. Ein Irrtum. Die Haltungen verfestigten sich. Die Volksbühne wurde eine Glaubensfrage. Wie lange willst du diesen Castorf noch stützen, wurde ich gefragt. Und bei anderer Gelegenheit hieß es: Warum wollen Sie Castorf aus der Stadt jagen? Immer nur Freund oder Feind. Die Volksbühne selbst hat Künstler aus ihren Reihen fies vertrieben. Nachher kamen sie fast alle wieder. Das schweißt zusammen.

Bei einer Volksbühnenpremiere hat mir der damalige Chefdramaturg Matthias Lilienthal einmal einen Abgeordneten von der SPD vorgestellt, der sich für Kultur interessiert. Der Politiker hieß Klaus Wowereit. André Schmitz war zu der Zeit Verwaltungsdirektor des Hauses. Verständlich, dass die beiden in späteren Funktionen Castorf & Co. nicht wehtun wollten. Selbst in den bleiernen Jahren, als niemand mehr etwas auf die Zukunft der Castorf-Bühne gab, haben sie eine Ablösung nie ernstlich erwogen.

Der Einzige, der über solche Dinge sprach, war Castorf selbst. Wowereit und Schmitz haben den Dolchstoß ihren Nachfolgern Müller und Renner überlassen. Die ahnten nicht, was auf sie zukam. Und Chris Dercon wusste auch nicht, was ihn in Berlin erwartet – das verrückteste Theater der Welt. Schwer angeschlagen, gefährlich produktiv, geliebt. Je ungeschickter und arroganter sich die Neuen anstellten, umso stärker kam die Volksbühne wieder auf. An diesem Samstag ist endgültig Schluss. Erstmal.

Die Stadt an die Wand gespielt

Am Ende bleibt die Farce. Sie gab von Anfang an den Ton an. Castorf & Co. wurden 1991 in ein marodes Haus gesteckt, um es für die Schließung vorzubereiten oder zu reüssieren. Wer konnte ahnen, dass die Truppe die ganze Stadt an die Wand spielen würde, das ganze System? Das ist der entscheidende Punkt: Castorf hat das System Staatstheater ins Extrem getrieben. Ästhetisch und organisatorisch. „Die Räuber“, „Die Weber“, „Die Nibelungen“, die „Rheinischen Rebellen“ und vor allem „Pension Schöller/Schlacht“: Am Ende des kaputten 20. Jahrhunderts, der Zeit der Weltkriege, der Massenvernichtungswaffen, der industriellen Völkermorde hat Castorf eine Sprache gefunden, die den totalitären Schrecken ebenso transportierte wie die Lust am Untergang der DDR und die Skepsis gegenüber dem Westen. Castorfs rotzige Philosophie zeigte, was mit Menschen passiert, die Nationalsozialismus und Stalinismus durch- und mitmachen. Zirkusartisten ohne Netz. Komödianten mit Kalaschnikow. Vaudeville und Voodoo. Kalauer und Klassik. Egal, wir kommen klar. Eines Tages, mit Dostojewski, begann sich Castorf als eine Art Panslawist zu zeigen. Er hat durchaus etwas von einem Oligarchen. Seit einiger Zeit zieht ihn Frankreich an.

Die Selbstherrlichkeit und Selbstbedienungsmentalität der Intendantenkönige hat er nicht erfunden. Das sind Errungenschaften des westdeutschen Theatersystems der siebziger Jahre. Die Rebellen damals haben Reibach gemacht. Und Castorf, der große Eklektiker, hat schnell begriffen, wie das System funktioniert.

Nöliger Typ aus dem Osten

Ich habe Frank Castorf zum ersten Mal 1988 in West-Berlin bei einer Heiner-Müller-Werkschau im alten Hebbel-Theater erlebt: einen nöligen, im Gespräch blitzschnell zuschlagenden Typen aus dem Osten. Er sah bei Müller stalinistische Tendenzen. Könnte man zur Not manchmal so sagen. Über beide.

Die große Projektion. Das Räuber-Rad soll auf Reisen gehen.
Die große Projektion. Das Räuber-Rad soll auf Reisen gehen.

© Kai-Uwe Heinrich

Heiner Müller ist seit zwanzig Jahren tot. Mit ihm begann das große Berliner Theatersterben. Ihm folgten Einar Schleef, Jürgen Gosch, Dimiter Gotscheff, Christoph Schlingensief. Für viele stirbt jetzt auch die Volksbühne. Man muss aber sagen: Sie hat so lange gelebt wie kein Theater je zuvor. Die große Zeit der alten Schaubühne dauerte zehn Jahre, vielleicht sogar weniger. Wechsel und kleine Tode, große Abschiede gehören zum Theater. Auch diese Regel hat Castorf außer Kraft gesetzt. Sein Mentor Frank Baumbauer, Intendant in Basel, Hamburg und München, sagte immer: Sieben, acht Jahre, und genug. Er hat sich daran gehalten.

Castorf hatte großes Glück. Es geht eigentlich jetzt zu viel um ihn. Über lange Phasen war er ja gar nicht anwesend. Zu ihm kamen die großartigsten Schauspieler und Regisseure. Christoph Marthaler gehört dazu. Die Volksbühne muss als Gesamtbetrieb gewürdigt werden. Es gab dort einmal so viele tolle Persönlichkeiten, dass man sich seinen Lieblingskünstler aussuchen konnte.

Schlingensief inszenierte keine Farcen

Das war für mich Herbert Fritsch, inzwischen ein einzigartiger Regisseur. Und spät, aber nicht zu spät ist mir die Kunst des Christoph Schlingensief nahe gekommen. Da war er im Grunde schon weg von der Volksbühne, auf dem Weg nach Ouagadougou in sein Operndorf. Schlingensief war der Einzige, der keine Farcen inszenierte. Das heißt: Fritsch, der gern die Rampensau spielt, wäre bei ihm beinahe von einer herabfallenden Schweinehälfte erschlagen worden. Eine gute Farce ist eine Tragödie.

Die Volksbühne bleibt unser Theaterleben. Von – bis, das variiert. Das kann uns keiner nehmen. In 25 Jahren gab es eine Menge Regierende Bürgermeister, Kultursenatoren, Staatssekretäre. Allein die Intendanten halten sich überdurchschnittlich lang. Kultur ist das Konservative, der Halt in einem unangenehm schnell wachsenden Berlin. Aus den Theaterzertrümmerern sind die Bewahrer geworden. Der versuchte Rad-Abbau vom Mittwoch war als Kundgebung unter dem Titel „Wer hat das Recht auf Stadt?“ bei der Polizei angemeldet.

Zusammen kalt geworden

Wenn ich an den Bauzäunen jetzt die Plakate mit den Volksbühnen-Schauspielern sehe, denke ich: Man hätte vielleicht doch zusammen alt werden können. Und dann fällt mir ein, in einem Wolfram-Koch-Moment blitzartiger Erleuchtung: Wir sind ja schon alt. Und mir fällt Bertolt Brechts Gedicht „Der Radwechsel“ ein. Für Frank Castorf, aber auch für Chris Dercon. Blick zurück, nach vorn:

Ich sitze am Straßenhang.

Der Fahrer wechselt das Rad.

Ich bin nicht gern, wo ich herkomme.

Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre.

Warum sehe ich den Radwechsel

mit Ungeduld?

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