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Auf alle Herausforderungen galt das Militär in Israel als unausweichliche Antwort – sogar aktuell im Kampf gegen das Coronavirus. 

© David Furst/AFP

75. Jahrestag der deutschen Kapitulation: Israel sollte über sein Selbstverständnis diskutieren

Gründet sich der jüdische Staat auf universelle Werte der Gleichberechtigung – oder stützt er sich vor allem auf die eigene Stärke? Ein Gastbeitrag.

Kaum zu glauben, aber des Sieges über Nazi-Deutschland gedenkt man in Israel offiziell erst seit 2017; allerdings nicht am 8. Mai, sondern einen Tag später. „Entdeckt“ wurde der Siegestag im Jahr 1991, mit dem Beginn der Masseneinwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion nach Israel. 

1945, als das Land Israel/Palästina noch britisches Mandatsgebiet war, wurde am 8. Mai gebührend gefeiert, im neu gegründeten Staat Israel blieb dieser Gedenktag im offiziellen Kalender unerwähnt. Erstens, weil für die israelische Bevölkerung der Krieg praktisch mit der deutschen Niederlage in Nordafrika 1942-43 zu Ende ging. 

Und zweitens, weil aus jüdisch-israelischer Sicht das relevante historische Ereignis nicht der Krieg, sondern die Shoah war. Der Shoah-Gedenktag im April zählt seit 1951 zu den wichtigsten Gedenktagen in Israel.

Paradoxerweise kam es in der Gedenkkultur Israels zu einer „Abkopplung“ der Erinnerung an den Weltkrieg von der Erinnerung an die Shoah. Die Narrative der beiden Geschehnisse werden unterschiedlichen Zusammenhängen zugeordnet. 

Fehlende Debatte um Zusammenhang zwischen Krieg und Shoah

Die Shoah wird in Israel im Kontext der langen Geschichte von Verfolgung und Antisemitismus wahrgenommen, während der Weltkrieg im Sinne der „Westanbindung“ historisch konstruiert wurde.

Feldmarschall Montgomerys Sieg in El Alamein und die Landung in der Normandie bildeten lange den Höhepunkt, bis die Erinnerung an den 9. Mai im Jahr 2017 gesetzlich verankert wurde. Im folgenden Jahr wurde ein weiteres Gesetz verabschiedet, das den 9. Mai zum „Tag der mit der Kapitulation Nazi-Deutschlands erfolgten Befreiung und Rettung des jüdischen Volkes“ deklariert. 

Eine Debatte um den Zusammenhang zwischen Krieg und Shoah blieb jedoch aus. An den seit etwa 75 Jahren in Israel geltenden „Lehren aus der Shoah“ war nicht mehr zu rütteln. Bereits am 9. Mai 1945 fasste die damals wichtigste hebräische Zeitung Davar die Lehre aus dem Krieg zusammen: „Nur weil das jüdische Volk land- und staatenlos war, konnte der Versuch unternommen werden, es zu vernichten.“ 

Und einen Tag später: „Unser Schicksal in Europa (nur in Europa?) ist besiegelt. Es gibt keine Zukunft außerhalb des Landes Israel… ohne die politische Selbstständigkeit im Vaterland“.

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Dies war die Grundlage für die Akzente, die seitdem gesetzt werden: Staatlichkeit, Nationalismus, Militär als Garanten des Überlebens des Volkes. Während die Europäer nach 1945 auf die Überwindung des Nationalismus setzten und das Projekt EU lancierten.

Und während die Welt sich für den Aufbau von transnationalen Unternehmen wie UN, Weltbank, WHO einsetzte und internationale Kooperationen anstrebte, steuerte die jüdisch-israelische Gesellschaft immer stärker in die entgegengesetzte Richtung. 

Die Devise lautet: alle Ziele im Alleingang zu verfolgen, weil „die Welt“ ohnehin „uns“ gegenüber gleichgültig oder gar antisemitisch eingestellt sei. Auf alle Herausforderungen, darunter existenzielle Bedrohungen für das Land, galt das Militär als unausweichliche Antwort. Das trifft jetzt auch aktuell im Kampf gegen das Coronavirus zu.

So erklärt sich die in Israel völlig andere Auslegung der Parole „Nie Wieder!“ als im deutschen Sprachgebrauch. Dass die Erben der Täter die Warnung „Nie wieder“ vor allem im Sinne von „Nie wieder Täter sein“ interpretieren, während die Erben der Opfer intuitiv „Nie wieder Opfer sein“ verstehen, leuchtet ein. 

Israel nicht immer in der Opferrolle

Sich auch nach 1945 immer als (mindestens potenzielles) Opfer zu betrachten, half dem Staat Israel, dieses „Nie Wieder“ in der kollektiven Erinnerung zu verankern.

Dass aber die universelle Lehre aus der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – für Menschenrechte und gegen Willkür und Gewalt – bei den Erben der Opfer in den Hintergrund rückt, ist paradox; auch weil sich Israel nicht in jeder Situation in der Opferrolle befindet. 

Wenn Zurückhaltung und Kompromissbereitschaft als Zeichen der Schwäche und Ohnmacht empfunden werden, bleibt vom „Nie Wieder“ und von der Würde des Menschen wenig übrig.

Tiefe Skepsis gegenüber der EU

Dabei geht es um mehr als nur eine Gefühlslage, es geht um Politik. Israel blickt auch deshalb mit tiefer Skepsis auf die EU, weil diese transnational eingestellt ist. Man ist voller Schadenfreude, wenn das „Experiment EU“ ins Wanken gerät – wie schon beim Brexit, der Flüchtlingsproblematik und momentan im Umgang mit dem Virus. 

Diese Haltung führt dazu, dass europäische Proteste gegen Israels Palästina-Politik mit dem Vorwurf gekontert werden, sie seien Ausdruck antiisraelischer Ressentiments, ja eines altbekannten Antisemitismus. 

Diese Skepsis geht weit über ein gerechtfertigtes Maß an Misstrauen gegenüber jenen Europäern hinaus, die Werte wie Menschenwürde oder den Schutz von Minderheiten nicht verinnerlicht haben oder nicht begreifen wollen, wie schmal der Grat zwischen Mitläufern und „harten“ Tätern vor 75 Jahren war. Und weiter bleibt.

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Es geht nicht nur um den Gegensatz zwischen den Erben der Täter und den Erben der Opfer. Israels „Lehren aus der Geschichte“ unterscheiden sich auch erheblich von denen der Juden in den Diasporas. Die israelische Überzeugung, dass die Macht, die vom Staat Israel ausgeht, die entscheidende Antwort auf die „Judenfrage“ ist, führte bisweilen zur Bevormundung der Diaspora-Juden. 

Dabei sollte nicht vergessen werden, dass noch immer gut die Hälfte der jüdischen Bevölkerung weltweit in der Diaspora beheimatet ist. Ihr Selbstverständnis gründet sich eher auf die Gleichberechtigung der Juden und die Abwehr von Rassismus, nicht auf die militärische Stärke Israels.

Eine Meinungsumfrage ergab einen interessanten Einblick in die Kluft zwischen Juden in Israel und in Amerika hinsichtlich der Lehren aus der Vergangenheit. Die Frage nach der Essenz der jüdischen Identität beantworteten 69 Prozent der amerikanischen Juden mit „moralisch handeln“. 

Abschiebung afrikanischer Geflüchteter

Nur 47 Prozent der Israelis denken so. Für 56 Prozent der amerikanischen Juden, aber nur für 27 Prozent der israelischen Juden gehört das Eintreten für Gerechtigkeit und Gleichheit zum Wesen des Judentums.

Dass es sich dabei nicht um eine theoretische Frage handelt, geht aus der Antwort auf die konkrete Frage zum Umgang mit afrikanischen Geflüchteten in Israel hervor: Während Israels Politik die Abschiebung Geflüchteter verlangt, befürworten die amerikanischen Juden die Asyl-Lösung. 

Da die Erinnerung an die Vertreibung von Juden während der NS-Zeit eine gemeinsame jüdische sein sollte, stellt sich die Frage nach der eigentlichen Bedeutung des 9. Mai und seiner Verortung in der israelischen Gedenkkultur.

75 Jahre nach Ende des Krieges ist es schwierig, israelische Juden an die universellen Werte im Gedenken an das Ende des Weltkrieges zu erinnern. 

Leider scheinen heute sogar viele Europäer von Zweifeln an der liberalen Demokratie, an der Überwindung des Nationalismus und der internationalen Zusammenarbeit befallen zu sein. Diese regressive Haltung ist leider kein guter Grund für Israelis, ihre „Lehren aus der Geschichte" zu überdenken".

Shimon Stein war von 2001 bis 2007 Israels Botschafter in Deutschland und ist zur Zeit Senior Fellow am Institut für Nationale Sicherheit Studien (INSS) an der Tel Aviv Universität. Moshe Zimmermann ist Professor emeritus an der Hebräischen Universität, Jerusalem.

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