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Seit zehn Jahren dirigiert Claudio Abbado das von ihm gegründete Lucerne Festival Orchestra.

© Georg Anderhub, Lucerne Festival

75 Jahre Lucerne Festival: Sternstunden mit Claudio Abbado

Seit 1938 gibt es das Klassik-Festival in Luzern am Vierwaldstättersee. Zum 75-jährigen Jubiläum wurde jetzt ausgiebig gefeiert - natürlich auch mit Claudio Abbado, der 1966 erstmalig in Luzern dirigierte und seit zehn Jahren mit seinem Lucerne Festival Orchestra allsommerlich Höhepunkte zum Programm beisteuert.

Europas Jugend hatte gerade die Barrikaden erklommen, als der junge Dirigent Claudio Abbado 1968 im vornehmen Luzerner Hotel Schweizerhof nächtigte. Ein Auftritt bei den Musikfestwochen stand an, mit dem Londoner Philharmonia Orchestra und seinem Freund Daniel Barenboim. Auch im Schweizerhof wehte der Geist des Aufruhrs, seit dort Musik-Revolutionär Richard Wagner 1859 seinen "Tristan" vollendet hatte. Und Abbado sollte als neuer Musikchef der Scala bald mit Uraufführungen und Fabrikkonzerten das Mailänder Opernpublikum wachrütteln.

Sein ehemaliges Zimmer mit Blick auf den Vierwaldstättersee ziert inzwischen der Ausspruch "Kultur ist Reichtum – und nicht umgekehrt". Was der Dirigent im Protest gegen die Sparpolitik in Italien verkündete, wird in diesem Sommer zur idealen Steilvorlage für das Lucerne Festival. Dessen 75. Jubiläum steht nämlich unter dem Motto "Viva la revolución". Und was wäre wohl revolutionärer, als wie einst die Surrealisten Kunst und Alltag zu verschmelzen? Abbado bezeichnete Kultur einmal als gesellschaftliches Gemeingut, das allen so zugänglich sein sollte wie Wasser.

Nicht jeder hat Gelegenheit, als Hotelgast im frisch renovierten Abbado-Zimmer einer seiner Rachmaninow-Aufnahmen zu lauschen. Dafür bot das Festival am Jubiläumstag der gesamten Stadt Konzerte bei freiem Eintritt. Weniger egalitär war es am 25. August 1938 zugegangen, als Arturo Toscanini mit einem "Concert de Gala" im Park der Wagner-Villa Tribschen vor illustrem Publikum die Festwochen begründete. In Zeiten von Nazi-Diktatur und Faschismus mied der Dirigent seine Heimat Italien ebenso wie die Festspiele in Bayreuth und Salzburg. In der Schweiz fand er für sein neues Elite-Orchester aus Solisten und Kammermusikern ein politisch neutrales Terrain.

Toscaninis Klangkörper war Vorbild für das heutige Lucerne Festival Orchestra, das vor zehn Jahren von Abbado und dem Festspielintendanten Michael Haefliger gegründet wurde. International bekannte Solisten wie die Klarinettistin Sabine Meyer, der Trompeter Reinhold Friedrich, der Bratscher Wolfram Christ, der Oboist Lucas Macías Navarro oder der Flötist Jacques Zoon musizieren gemeinsam mit Kammerensembles wie dem Hagen Quartett oder dem Leipziger Streichquartett. Die Basis bildet das von Abbado mit begründete Mahler Chamber Orchestra.

Wagners 'Siegfried'-Idyll, das Toscanini 1938 am Entstehungsort aufführen ließ, durfte im Jubiläumsprogramm des Festivalorchesters nicht fehlen. Abends ging es weiter mit Mozart und Rossini, an Stelle von Abbado hob sein Assistent Gustavo Gimeno den Taktstock. Gimeno, von Haus aus Schlagzeuger, bekam in dieser Disziplin Konkurrenz von dem österreichischen Perkussionisten Martin Grubinger, der im Freien eine Salsa-Session abhielt. Die ebenfalls zehn Jahre alte Festival-Akademie von Pierre Boulez für Nachwuchsmusiker und –dirigenten bot Zeitgenössisches von Steve Reich und Olivier Messiaen. Auch die Hornisten der Berliner Philharmoniker sowie Ensembles der Wiener Philharmoniker und des Royal Concertgebouw Orchestra feierten mit.

Die Ausgelassenheit der Jubiläumsfeier wich andächtiger Konzentration, als Abbado am nächsten Abend mit seinem Orchester die diesjährige Festival-Residenz beschloss. In Jean Nouvels weißem Konzertsaal war eine melancholische Abschiedsstimmung spürbar, als Schuberts unvollendete Siebte Sinfonie und das Fragment von Bruckners Neunter Sinfonie erklangen. Wie zuvor schon im ersten Konzert bei Beethovens 'Eroica' fallen auch bei der 'Unvollendeten' die deutlich langsameren Tempi Abbados auf. Nach dem düsteren Beginn der tiefen Streichern führt er mit einer fast schmerzhaften Intensität durch das Werk, ohne die Kontraste überzubetonen. Trotz der Brüche wirkt die Sinfonie unter seinem Dirigat als organisches Ganzes, bis zum zarten Ausklang.

Von Bruckners Neunter Sinfonie, einem der großen sinfonischen Meisterwerke der Spätromantik, dirigiert Abbado nur die drei Sätze, die der Komponist vor seinem Tod vollenden konnte. Wie bei anderen Luzerner Aufführungen zeigt sich auch hier, welch unverbrüchliche Einheit Orchester und Dirigent bilden. Neben den vorzüglichen Streichern sorgen die Bläser-Solisten durch ihr kammermusikalisches Zusammenspiel für eine künstlerische Sternstunde. Hingebungsvoll folgen die Musiker den verhaltenen Gesten des Dirigenten, der selbst dem dämonisch-hämmernden Scherzo seine gewohnte Schärfe nimmt. Zum emotionalen Höhepunkt gerät das von starken Dissonanzen geprägte Adagio, das wie Schuberts "Unvollendete" im Pianissimo ausklingt. Atemloses Ausharren im Konzertsaal, bis Abbado die Stille nach dem Schluss unterbricht. Mit stehenden Ovationen feiert das Publikum den 80-Jährigen, der nach dem ihn überaus fordernden Konzert in einer berührenden Geste die Hand aufs Herz legt.

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