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Sieg Mandaag 1945 in Bergen-Belsen.

© George Rodger/The LIFE Picture Collection/Getty Images

75 Jahre Befreiung von Bergen-Belsen: Grauenvolle Wirklichkeit der Leichenberge

Vor 75 Jahren befreiten die Alliierten das KZ Bergen-Belsen. Die Berichte britischer Reporter über die dortigen Zustände wurden zunächst für unglaubwürdig gehalten.

„Dieser Tag in Belsen war der schrecklichste in meinem Leben“, bekannte Kriegsreporter Richard Dimbleby vor 75 Jahren in seinem BBC-Bericht über die Befreiung des Konzentrationslagers in der Lüneburger Heide. 

Er hatte sich seit Jahren an sämtlichen Kriegsschauplätzen aufgehalten und den Radiohörern das Geschehen aus Afrika oder der Normandie erklärt. Aber was der erfahrene BBC-Mann am 17. April 1945 in Bergen-Belsen sah, das zwei Tage zuvor von englischen Soldaten befreit worden war, raubte ihm den Atem. 

Sein Bericht wurde denn auch zunächst kassiert, zu unglaubwürdig klang das den Radioleuten in London. Nach 24 Stunden wurde er dann doch gesendet und machte Rundfunkgeschichte.

Zu geschwächt für Befreiungsjubel

Was hatte Dimbleby und allen, die das Lager betraten, die Sprache verschlagen? Die Leichenberge, der Dreck, die verhungerten, ausgemergelten Überlebenden, die Kinder. Als die Engländer am 15. April mit einem Panzer ins Lager hereinfuhren, wurden sie kaum bejubelt. 

Zu schwach und krank waren die 60.000 Insassen, so von Fleckfieber, Typhus, Tuberkulose und Hunger gezeichnet, dass bis Ende April 9000 und im Mai und Juni weitere 4000 Lagerinsassen starben. Insgesamt kamen in Bergen-Belsen über 50.000 Menschen ums Leben.

Erst 1943 aus einem Kriegsgefangenenlager in ein KZ verwandelt, war der Ort für 10.000 Menschen gedacht, doch durch immer mehr Zugänge aus den Niederlanden und von den Todesmärschen aus den Lagern im Osten stieg die Zahl der Insassen auf 60.000 an, ohne dass die sanitären Einrichtungen auch nur annähernd mitwuchsen.

Zwei weibliche Überlebende am 15. April 1945 im befreiten KZ Bergen-Belsen.
Zwei weibliche Überlebende am 15. April 1945 im befreiten KZ Bergen-Belsen.

© Reinhard Schultz/imago

Da das Lager zuvor nicht, wie die meisten, von der SS geräumt worden war, wurden die Befreier in Echtzeit Zeugen der unerhörten Überfüllung und Verwahrlosung des Ortes und der Apathie der notdürftig in Lumpen gehüllten Menschen. Keiner war darauf vorbereitet, alle waren fassungslos.  

Britische Fotographen und Kamerateams haben den Horror eingefangen und dokumentiert. Doch ebenso wie bei Dimblebys Reportage hat sich die BBC lange Zeit gescheut das Filmmaterial dem Publikum zuzumuten.  

Auch 3500 Kinder wurden nach Bergen-Belsen verschleppt. Etwa 800 von ihnen wurden ermordet, sind verhungert, erfroren oder an Krankheiten eingegangen.  

Besser eine tote Mutter als keine Mutter

Unter ihnen Anne Frank und ihre Schwester Margot, Hetty Verolme, Autorin von „Wir Kinder von Bergen-Belsen“ oder Yvonne Koch, die aus einer tschechischen Klosterschule, in der ihre Eltern sie sicher versteckt glaubten, nach Bergen-Belsen verschleppt wurde. 

Sie suchte unter den Leichen nach ihrer Mutter. Besser eine tote Mutter als keine Mutter, dachte das einsame Kind. Bei der Befreiung war sie todkrank. Ein englischer Soldat fand sie und brachte sie ins Lazarett. Wieder genesen, wurde sie in Prag mit ihren Eltern vereint.

Eines dieser überlebenden Kinder war auch der Junge im obigen Foto. Sieg Mandaag, ein kleiner Junge in kurzen Hosen kommt dem Betrachter entgegen auf einem Weg, der auf seiner rechten Seite mit Leichen gesäumt ist. Der kleine Sieg schaut in die andere Richtung. 

Insassinnen ziehen nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen den Körper eines Kranken mit einer Decke.
Insassinnen ziehen nach der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen den Körper eines Kranken mit einer Decke.

© Reinhard Schultz/imago

Leichen waren die Kinder von Bergen-Belsen schon lange gewöhnt Es gab so viele, dass sie gar nicht mehr alle weggeräumt, noch in dem viel zu kleinen Krematorium verbrannt werden konnten. „Wir haben die Toten gezählt“ erinnert sich die damals 11-jährige Francine Christoph, Rechnen zum Zeitvertreib im KZ.

Der kleine Sieg wurde am 20. April von dem englischen Fotografen George Rodgers aufgenommen. Rodgers hat nach der Begegnung mit diesem überlebenden Kind die Kriegsfotografie aufgegeben. 

Sieg war das Kind eines Amsterdamer Diamantenschleifers, der mit vielen anderen Diamantenschleifern nach Bergen-Belsen verschleppt worden war. Ein Nazi hegte den aberwitzigen Plan, in Bergen-Belsen eine  Diamantenindustrie zu starten. Daraus wurde nichts. 

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Siegs Vater starb und seine Mutter kam in ein anderes KZ. Er blieb mit 53 anderen, so genannten Diamantenkindern, zurück, darunter seine ältere Schwester. Er war zart und krank, später wurde Tuberkulose diagnostiziert, die Schwester und eine liebevolle Krankenschwester Luba hielten ihn irgendwie am Leben.

Das ikonische Bild des Kindes neben den Leichenbergen landete in der berühmten Befreiungs-Ausgabe des "Life"-Magazins. Verwandte erkannten den Jungen und so kam er zu ihnen in die Niederlande. Viele Jahre später wurde er mit der Mutter zusammengeführt, die auch überlebt hatte.

Sieg, ein child survivor, war am Leben geblieben und war doch ein Leben lang gezeichnet von dem Grauen, den Ängsten, Krankheiten und Verlusten, die er erlebt hatte.  

75 Jahre später: Die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide.
75 Jahre später: Die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide.

© imago images/epd

Keinen Tag seines Lebens konnte er vergessen, was man ihm angetan hatte. Seinen eigenen Kindern antwortete er immer nur lakonisch „Ich bin am Leben“, wenn sie ihn nach dem Krieg fragten. Sieg Mandaag starb 2013.

Es gibt eine Wanderausstellung über die Kinder von Bergen-Belsen. Neben vielen Fotos, sieht man hier eine alte Stoffpuppe, dort ein Paar Handschuhe die eine russische Lagerinsassin für ein Kind aus Fäden gestrickt hatte oder auch einen Kinderschuh. Gequälte, gar ermordete Kinder treffen die Seele des Betrachters noch weit mehr als die erwachsenen Opfer. In der Schoah verloren 1,5 Millionen jüdische Kinder ihr Leben.

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