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Öffentliches Schlafen in der Rummelsberger Bucht. Angelica Domröse und Winfried Glatzeder in Heiner Carows DEFA-Produktion „Die Legende von Paul und Paula“ (1973) nach einem Drehbuch von Ulrich Plenzdorf.

© MDR/rbb/PROGRESS Film-Verleih/No

70000 Jahre Nachtlager: Naherholungsgebiet und Nahtodzone

Nadia Durrani und Brian Fagan erzählen eine menschheitliche Kulturgeschichte des Bettes.

Das Bett wirkt wie ein triviales privates Ding. Es steht zumeist im Schlafzimmer – dem am wenigsten öffentlichen Ort. Seine Kulturgeschichte zeigt indes, dass das Schlafen nur seine offensichtlichste Funktion ist – auch wenn man ein Drittel seines Lebens schläft. Man kann darüber hinaus vom Umgang mit dem Gebären erzählen, von Konversationsstilen, vom Tod – und natürlich von Sex.

Über die meiste Zeit ihres Erdendaseins haben die meisten Menschen auf dem Boden genächtigt, schreiben Nadia Durrani und Brian Fagan: eng beieinander und in der Nähe des Feuers. In ihrer „horizontalen Geschichte der Menschheit“ schreiben sie, dass die ältesten bekannten Betten in einer Höhle in Südafrika zu finden seien: „Vor etwa 70 000 Jahren hatte der Homo sapiens sie in den felsigen Boden gehauen.“ Schlafstätten hatten im Lauf der Geschichte die unterschiedlichsten Formen. Es gab Vertiefungen im Boden und erhöhte Plattformen, mit Gras gepolsterte Lager und Konstruktionen, in die Seile und Riemen eingespannt waren. Und es gab Matten, die sich zusammenrollen ließen.

[Nadia Durrani und Brian Fagan: Was im Bett geschah. Eine horizontale Geschichte der Menschheit. Aus dem Englischen von Holger Hanowell. Reclam Verlag, Ditzingen 2022. 269 S., 24 €.]

Durrani war Herausgeberin der Zeitschrift „Current World Archeology“, Fagan Professor für Anthropologie im kalifornischen Santa Barbara. Die beiden verfügen über das Wissen, um die menschliche Entwicklungsgeschichte auch aus Zeiten zu erzählen, aus denen es keine schriftlichen und bildlichen Quellen gibt.

Nächtliche Kälte und wilde Tiere: Über tausende von Jahren begleiteten sie den Schlaf. „Privatsphäre gab es nicht: Die Menschen suchten sich einen Partner, bekamen Kinder, säugten sie an der Brust, wurden krank oder starben – all das spielte sich in unmittelbarer Nähe zu den anderen Mitgliedern der Sippe ab.“

Die Liegestatt war der Ort, an dem Kinder gezeugt und geboren wurden – und in dem Frauen am Kindbettfieber erkrankten, bis die Hygieneregeln erfunden wurde. Beklemmend wirken die Passagen über das 17. und 18. Jahrhundert, als immer mehr Frauen ihre Kinder nicht mehr zuhause auf die Welt brachten, sondern in Krankenhäusern.

Kampf um den Ort der Entbindung

Dem war eine Art ideologischer Kampf vorausgegangen. Die Hebammen hatten den Frauen zuhause bei der Entbindung auf dem Geburtshocker geholfen. Die Wundärzte dagegen beschrieben Schwangerschaft und Geburt wie eine Krankheit und setzten sich im 17. Jahrhundert damit durch. Weil in den Krankenhäusern üblicherweise mehrere Frauen im selben Bett entbanden und eifrige Geburtshelfer mit blutigen Händen von einer Tat zur nächsten schritten, verbreiteten sich Epidemien. Die Sterberate der Säuglinge verzehnfachte sich.

Das Vorblatt des Buches ziert indes ein Foto der Installation „Mein Bett“, mit der die britische Künstlerin Tracey Emin Ende der Neunziger Aufsehen erregte. Sie stellte „ihr zerwühltes, unordentliches Bett nach einer Trennung zur Schau“, schreiben Durrani und Fagan, „umgeben von blutverschmierter Unterwäsche, leeren Flaschen, Zigarettenkippen und benutzten Kondomen“.

Emin holte das Bett damit zurück in die Öffentlichkeit. Privatheit, die Abgeschlossenheit des Einzelnen oder eines Paares, gibt es im modernen Sinn erst seit der Moderne. Erst im 19. Jahrhundert kamen in bürgerlichen Haushalten Schlafzimmer auf: „Bedienstete und Hausangestellte schliefen nicht mehr bei der Familie des Hausherren, noch lagen sie in der Großen Halle oder den Küchenräumen beisammen. Jeder hatte nun sein eigenes Quartier.“ Bis dahin waren die Betten dort aufgestellt, wo sie gerade gebraucht wurden.

Wohlhabende Leute ließen sich Betten bauen, die in den unteren öffentlichen Etagen standen - und in denen man auch mit Freunden lag und plauderte und sie, ganz platonisch, zur Übernachtung einlud. Schlafen war keine intime, sondern über die meiste Menschenzeit eine kollektive Angelegenheit. Allenfalls sorgten große Vorhänge um das Bett für eine gewisses Maß an Abgeschiedenheit. Doch wer sich damals auf Reisen begab, hatte sich sein Nachtlager mit mindestens einer anderen Person zu teilen, vom Einzelzimmer nicht zu reden.

Das Bett als politischer Ort

Vor allem war das Bett ein politischer Ort. Kein Herrscher hat das so zelebriert wie der französische Sonnenkönig. Ludwig XIV. soll ein ganzes Bettenlager unterhalten haben. Der Tagesbeginn, das „Lever“, wurde ebenso rituell begangen wie das Tagesende, das „Coucher“.

Alles war genau geregelt und folgte einem festen Plan. „Vom Bett aus traf Ludwig Entscheidungen, erließ Edikte und empfing diejenigen, die das Privileg genossen, dort vor den halbgöttlichen Herrscher treten zu dürfen“, so Durrani und Fagan. Der Sonnenkönig trieb damit etwas auf die Spitze, was vor und nach ihm alle Autokraten lebten: eine Existenz, die fast völlig ohne Rückzug auszukommen hatte.

Allenfalls hinter zugezogenen Bettvorhängen war die Königin oder der König nachts ganz für sich. Im Raum befanden sich immer Untergebene, die der Königin oder dem Kaiser so ziemlich jeden Handgriff abnahmen.

Die Geburt von Thronfolgern erfolgte zumindest palastöffentlich, und so war es auch mit dem Sterben. Sogar der Vollzug einer hochherrschaftlichen Ehe lief unter den Augen wichtiger Höflinge ab. Es waren die Briten, die eines dieser Rituale bis weit ins 20. Jahrhundert beibehielten: Bis zur Geburt von Prinz Charles war das Bett der Königin der Ort, an dem der Innenminister pflichtgemäß der Geburt eines Thronfolgers beiwohnte.

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Das Buch lebt vom reichen Detailwissen seiner Autoren und von ihrem humorvollen Umgang mit dem Thema. So schlagen sie den Bogen vom Sonnenkönig Ludwig XIV. bis zu Winston Churchill. Der britische Premier soll den Zweiten Weltkrieg vom Bett aus geführt haben, stets mit Zigarre, umgeben von Akten und Papieren und Mitarbeitern, denen er Aufträge verpasste.

Schade nur, dass Durrani und Fagan ihre Geschichte des Betts auf die banale These bringen, der Mensch habe im Lauf der Zeit „fast alles im Bett getan“. Da, wo das Buch kulturhistorische Ambitionen entwickelt, etwa beim Übergang des Betts vom öffentlichen in den privaten Raum, vermisst man ein wenig Überbau, wie ihn die französischen Kulturhistoriker zu errichten pflegten, etwa Philippe Ariès mit seiner Geschichte des privaten Lebens.

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