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Rororo-Visionär: Der Verlagsgründer Ernst Rowohlt. 

© picture-alliance/ dpa

70 Jahre Taschenbuch: Ein unverwüstliches Format

Am 17. Juni 1950 wurde das deutsche Taschenbuch geboren, für Deutschland geradezu revolutionär: Das von Rowohlt erfundene Medium behauptet sich und bleibt jung.

Als Fritz J. Raddatz 1953 dem Rowohlt Verlag erstmals einen Besuch abstattete, war er entsetzt darüber, wie „kümmerlich und unspektakulär“ der Sitz des Verlages damals in der Bieberstraße in Hamburg war: „Akten auf der Erde, gammelige graue Stahlmöbel, eine kettenrauchende Sekretärin, die zwischen Zeitschriftenstapeln, Kaffeetassen, aufplatzenden Kartons mit Katalogen und drei uralten, scheppernden Telefonen irrwischte“. 

Für Raddatz, der später bei Rowohlt Cheflektor und stellvertretender Verlagsleiter werden sollte, kam das als „jungem Ostmenschen im steifgebügelten Anzug aus dem HO-Maßatelier Unter den Linden“ einer „Entzauberung“ gleich. 

Aus Ost-Berliner Verlagen war er großzügigere, herrschaftlichere Ambientes gewohnt; aber auch, weil Rowohlt für ihn der ultimative Verlag im Westen war, „so bunt, so schön, so märchenfern“.

„Geniale Erfindung“

Raddatz’ Begeisterung verdankte sich natürlich Autoren wie Erich Kästner, Kurt Tucholsky, Wolfgang Borchert, Ernest Hemingway, André Gide oder Joseph Conrad, „meine Generation war geprägt von Rowohlt-Autoren, Rowohlt-Büchern“, so der 2015 verstorbene Raddatz in seinen Erinnerungen „Unruhestifter“

Er bezeichnete es als „geniale Erfindung“, dass Rowohlt als erster Verlag in Deutschland zunächst mit den Rotationsromanen im Zeitungsformat und dann mit den „rororo“-Taschenbüchern ebenjene von ihm geschätzte Literatur in großen Stückzahlen ans Publikum gebracht hatte.

Es war der 17. Juni 1950, als das deutsche Taschenbuch geboren wurde. An diesem Tag veröffentlichte Rowohlt in einer Auflage von jeweils 50.000 Exemplaren vier erste Ausgaben für 1,50 DM, und zwar Hans Falladas Roman „Kleiner Mann – was nun?“, Graham Greenes Roman „Am Abgrund des Lebens“, Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“ und Kurt Tucholskys Erzählung „Schloß Gripsholm“.

Geführt wurde der Verlag damals von Ernst Rowohlt und seinem Sohn Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, der 1949 bei einer verlegerischen Weiterbildungsreise durch die USA auf die Idee mit den „pocket books“ kam.

Für Deutschland, die Bundesrepublik, war diese Idee geradezu revolutionär. Bis dato wurde das Buch hier stets als etwas Besonderes, als Hochkulturprodukt angesehen, nicht unbedingt als grellbunte Massenware wie in den USA. 

Eine große Sehnsucht nach Büchern gab es natürlich, gerade auch nach der Literatur, die von den Nazis verbrannt, verfemt und verboten worden war, die literarische Moderne. Und: In der kargen Nachkriegszeit und den frühen fünfziger Jahren konnte sich kaum jemand für viel Geld gebundene Bücher leisten.

Laut Raddatz soll Ernst Rowohlt 1946 noch wutentbrannt auf den ersten Exemplaren der Zeitungsrotationsdrucke herumgestampft sein, angeblich mit den Worten: „So was kommt mir nicht ins Haus“. 

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Nachdem sich die ebenfalls von seinem Sohn Heinrich stammende Idee mit den Rowohlt-Rotationsromanen in den späten vierziger Jahren zunächst durchgesetzt hatte und die Nachfrage nach der Währungsreform zurückgegangen war, musste ein neues Format her. 

Das fand dann auch die Zustimmung des Vaters: „Wir drucken die Bände im Rotationsdruck, allerdings auf aufgebessertem Zeitungspapier, und lassen sie im Lumbeckverfahren binden. Das garantiert eine große Haltbarkeit des Rückens, die Bücher liegen flach auf, und da der deutsche Bücherkäufer stets gerne Halbleinenbände haben will, haben wir auch einen Halbleinenrücken angewandt.“ 

Und Ernst Rowohlt sah ein, „dass es wichtig ist, neue Leser durch billige Bücher zu gewinnen. Wir wollen Autoren aus aller Welt bringen, Hemingway, Hamsun, Balzac, Cronin, Zola, Kästner, Sinclair Lewis, Graham Greene und Flaubert“.

Die Covergestaltung war tatsächlich recht bunt (die Exemplare sehen im Vergleich mit den meisten Taschenbuchausgaben von heute natürlich großartig aus), die Schrift klein, der Satzspiegel nicht immer vorbildlich. 

Sammlerobjekt. Diese Regalwand mit Rowohlt-Taschenbüchern gehört dem Ex-Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmt. 
Sammlerobjekt. Diese Regalwand mit Rowohlt-Taschenbüchern gehört dem Ex-Bundesverkehrsminister Reinhard Klimmt. 

© imago/Becker und Bredel

Doch verkaufte der Rowohlt Verlag schon bis Ende 1950 über eine halbe Million Exemplare, bis 1952 gut drei Millionen, und als Raddatz 1953 in Hamburg aufschlug, war der Taschenbuchbereich schon ein selbstständiges Rowohlt-Tochterunternehmen.

Mehr noch als an der Aufmachung der Bücher und der Popularisierung der Literatur störte sich jedoch das bundesrepublikanische Bildungsbürgertum an der Werbung, die es in den Bänden gab und mit der nicht zuletzt der niedrige Preis gehalten werden konnte, für Zigaretten und Parfum, für Tankstellen, Pfandbriefe und vieles mehr. 

In Camus’ „Die Pest“ hieß es auf der Seite mit der Werbung: „War Algerien einst ein exotisches, fernes Reiseziel, so erfahren es heute immer mehr deutsche Touristen mit der NSU Quickly“, (die NSU Quickly war ein Moped); in Walter Jens’ Roman „Vergessene Gesichter“ warb Aral für sein „bleifreies Benzolgemisch“, „zuverlässig und temperamentvoll zu allen Jahreszeiten“, dazu gab es hinten eine Seite Werbung für Creme Mouson: „Auf der Bühne ist es wie im Leben, man ist so alt, wie man sich gibt – und wie man aussieht.“ 

1961 wurde der Deutsche Taschenbuchverlag gegründet

Und noch in einer Ausgabe von Graham Greenes Autobiografie „Eine Art Leben“ von 1980 findet sich die Schwarz-Weiß-Zeichnung einer Pariser Metrostation mit dem Satz „Wenn ich genügend Geld gespart hätte ...“ und auf der Rückseite der Verweis auf Pfandbriefe und Kommunalobligation von Banken und Sparkassen mit einem Goethe-Zitat: „Wir wollen alle Tage sparen und brauchen alle Tage mehr“.

Das Taschenbuch hatte sich durchgesetzt, andere Verlage zogen nach, und Heinrich Maria Ledig-Rowohlt, der so hieß, weil seine Mutter eine geborene Ledig war, publizierte weitere, ambitionierte Taschenbuchreihen wie „rororo aktuell“, die 1961 mit Martin Walsers „Die Alternative oder brauchen wir eine neue Regierung“ begann, oder die Rowohlt-Monografien. 

1961 gründeten elf Verlage, darunter Hanser, C. H. Beck, Piper und die DVA, den deutschen Taschenbuchverlag, kurz dtv genannt. Hier ließ sich bei der ersten Veröffentlichung, Bölls „Irisches Tagebuch“, beobachten, dass das Grelle wieder durch mehr vornehme Schlichtheit abgelöst werden sollte, bei dtv mit einer Zeichnung vor einem ansonsten weißen Hintergrund. 

Kein Freund des Taschenbuchs: Peter Suhrkamp

Trotz mehr Konkurrenz sagte Mitte der Sechziger Heinrich Maria Ledig-Rowohlt dem „Spiegel“, als es erstmals Umsatzrückgänge auf dem Taschenbuchmarkt gab, dass sein Taschenbuchverlag „zwei Drittel vom gesamten Rowohlt-Umsatz“ ausmachen würde: „Wenn es einmal zu einer ernsteren Krise im deutschen Buchgeschäft kommen sollte, wird unter Umständen das Taschenbuch der Gewinner sein.“

Wer dagegen kein Freund des Taschenbuchs war: Peter Suhrkamp. Der führte 1951 seine elegante, aus kleineren Hardcover-Ausgaben bestehende Bibliothek-Suhrkamp-Reihe mit den Worten ein, diese sei „dem wahren Bücherfreund zugedacht, jener Leser-Elite, der anzugehören das Bedürfnis aller ist, denen das gute oder erlesene Buch ein unentbehrliches Lebensgut geworden ist.“ 

Hans-Magnus Enzensberger lästerte 1959 kulturkritisch, dass „hinter den Erfordernissen der Serie der Einzeltitel“ zurücktreten müsse, für ihn ein Dilemma, das „ungemein charakteristisch für alle Branchen der Kulturindustrie“ sei.

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Weshalb Siegfried Unseld einige Widerstände bei seinen Autoren und Autorinnen zu überwinden hatte, als er Anfang der sechziger Jahre seine Edition Suhrkamp plante, die 1963 mit dem Segen von Martin Walser oder Max Frisch, aber zum Beispiel nicht von Uwe Johnson oder eben Enzensberger, eingeführt wurde, mit Brechts lilafarbenem „Das Leben des Galileo Galilei“ als Band Nummer eins.

Natürlich gebührt dem Rowohlt Verlag und seinem Verlegertandem aus Vater und Sohn die Ehre, das Taschenbuch in der Bundesrepublik salonfähig gemacht und ihm zum Durchbruch verholfen zu haben. Mit seiner Hilfe wurden zudem zahlreiche Debatten im Land angestoßen. 

Legendär (und entscheidender für die Prägung des geistigen Klimas der Bundesrepublik) ist die von Willy Fleckhaus gestaltete Edition Suhrkamp mit ihrem dem Regenbogen nachempfundenen Farbspektrum, ein Markenzeichen bis heute.

Das aber gilt nur noch für ihre Gestaltung: Die Umsätze auf dem Taschenbuchmarkt gehen zurück, teurer ist es überdies mitunter geworden, und der demnächst von Barbara Laugwitz geleitete Deutsche Taschenbuchverlag veröffentlicht seit Jahren auch gebundene Bücher, sehr erfolgreich im Übrigen. 

Das Taschenbuch dient in der Regel weiterhin der Zweitverwertung von Erfolgstiteln, wenngleich es in diesem Format ebenfalls wieder viele Originalausgaben gibt, insbesondere in der Genreliteratur.

Doch neben dem Hardcover existieren inzwischen zahlreiche weitere konkurrierende Buchformate: beispielsweise das Softcover oder Paperback, das man als „Extended version“ eines Taschenbuchs bezeichnen kann. 

Oder das Hardcover im Miniaturformat, kleiner als die Bibliothek Suhrkamp, Bücher, die oft billiger als ein Taschenbuch sind und von den Verlagen bevorzugt werden, um auf aktuelle Entwicklungen reagieren zu können; aber auch (dicke) Klassiker gibt es in gebundenen Pocketausgaben; ganz zu schweigen von den E-Books. 

Wenn aber, wie es heißt, Rowohlt an die drei Millionen Taschenbuchexemplare von Wolfgang Herrndorfs 2012 veröffentlichtem Roman „Tschick“ zu zehn Euro verkauft hat, wenn „Tschick“ selbst 2020 vor Camus’ „Die Pest“ das meistverkaufte Rowohlt-Taschenbuch ist, kann man nur sagen: unverwüstlich, dieses Format.

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