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Das ging ins Auge. In Georges Méliès' "A Trip to the Moon" von 1902 plumpst eine Rakete auf den Mond.

© imago/Cinema Publishers Collecti

50 Jahre Mondlandung: Kraterstimmung

Seit ewigen Zeiten träumen Menschen von einer Reise ins All. Die Kulturgeschichte ist voller Mondfantasien.

Von Matthias Hennig

Reisen zum Mond entwerfen Zukunftssimulationen, die zur Modellierung unserer Wirklichkeit beitragen. Als utopische Projekte geben sie – aus kosmischer Perspektive – der Welt eine neue taxonomische Ordnung. Mit dem Blick vom Weltraum wird die „kopernikanische Degradierung der Erde“ (Günther Anders) evident. Der Fantasie folgt dabei die Technik. Was Jules Verne in seinen beiden Fortsetzungsromanen „De la terre à la lune“ (1865) und „Autour de la lune“ (1869) auf der Basis der Technik seiner Zeit entwirft, wird 100 Jahre später auf verblüffend ähnliche Weise Wirklichkeit: der Start einer Rakete in Florida samt Mondumrundung sowie anschließender Wasserung einer Landekapsel im Pazifik und Rettung durch ein Schiffsteam.

Jules Vernes Hauptfiguren treten kurz nach Ende des amerikanischen Bürgerkrieges und befeuert durch neu entwickelte Artillerie- und Industrietechnik ihre Reise in einem kolossalen, in die Erde versenkten Kanonenrohr an. Verne verlängert damit ein militärisches Begehren ins Astrale; nicht anders wird acht Jahrzehnte später die Raketenentwicklung in der Weimarer Republik und im Dritten Reich (Aggregat 4 beziehungsweise V2-Rakete) die Basis amerikanischer Astronautik und ihrer Saturn-Trägerraketen bilden.

Die europäische Literatur kennt eine Fülle mit den unterschiedlichsten Transportmitteln realisierter Mondfahrten. Zu den wichtigsten dieser Fantasien zählen neben Verne Lukian von Samosatas „Wahre Geschichten“ (etwa 165/180), Ludovico Ariostos „Rasender Roland“ (1532), der seinen Verstand auf dem Mond verloren hat, Johannes Keplers „Somnium“ (1634), John Wilkins „The discovery of a world in the moone“ (1638), Rudolf Erich Raspes und Gottfried August Bürgers „Münchhausiaden“ (1785/86), Edgar Allen Poes „Hans Pfaall“ (1835) oder H.G. Wells „The First men in the moon“ (1901). Diese einflussreichen literarischen Mondreisen bilden einen Jahrhunderte überbrückenden Verkettungszusammenhang.

Krieg führen mit Rettichen und Knobläuchen

Lukians fulminante „Wahre Geschichten“ münzen die Obsession eines belebten Monds in eine fantastisch überbordende Geschichte um. Dessen rein männliche Bewohnerschaft wird aus der Wade geboren, Körperteile (wie etwa Augen) sind beliebig austauschbar, mit ballistisch eingesetzten Rettichen und Knobläuchen führt man Krieg. Die „Wahren Geschichten“ sind die literarische Initialzündung einer Weltraumkosmonautik, die sich immer wieder auf diese Inkunabel eines mit fröhlich-grotesken Lebewesen bevölkerten Mondes beziehen wird, das den Exzess der Form feiert.

Man könnte diese Strömung innerhalb der Mondfiktionen, die bis H. G. Wells oder Georges Méliès reicht, als grotesk-manieristischen Pol bezeichnen. Die auf dem Mond entdeckten „Welten“ lesen sich in dieser Tradition zudem als (oft satirisch markierte) Umkehrung kolonialer Überlegenheitsdiskurse auf der Erde. In ihr ist der Mensch ein imperfektes Tier, das sich, wie etwa der Mondreisende bei Cyrano de Bergerac, vor einem Tribunal auf dem Mond als Stellvertreter der Menschheit für die Missetaten seiner Gattungsgenossen verantworten muss. Oder er wird physisch und intellektuell entmächtigt – wie in Wells „First Men in the Moon“ – wo der Mond von der Supraintelligenz des Großen Lunar regiert wird: Er besteht aus einem enzyklopädischem Superhirn samt winzig kleinem, insektenartigem Körper und steuert alle Vorgänge im lunaren Industriestaat.

Mondreisen bereiten den Menschen auf eine Besiedlung des Kosmos vor; von der Frühen Neuzeit bis in die Moderne fungieren sie wie ein anti-koloniales Gegenmodell zu den europäischen Forschungs- und Entdeckungsreisen: Sie okkupieren den Neue-Welt-Diskurs, indem sie ihn satirisch umwenden. Sie setzen der Erforschung der Erde im Zeitalter der „zweiten Raumrevolution“ (also der Entdeckung der Meere und Kontinente durch die Seefahrt) die imaginäre Eroberung des Weltraums entgegen – als Kolonisation durch Imagination.

Raumrevolution mit kosmo-politischer Funktion

Sie stellen dabei die Unbeherrschbarkeit des Raums und den Kontrollverlust des Körpers ins Zentrum und verkehren die imaginäre Rangordnung des Kosmos, die den Menschen an dessen Spitze gestellt hatte. Diese Raumrevolution hat dabei stets auch eine kosmo-politische Funktion. Der Mensch überschreitet den finiten (Erde) zum trans-finiten Raum (Kosmos). Durch diese physische und raumlogische Degradierung seiner Existenz sieht er sich gezwungen, sich als transnationales und kosmo-politisches Wesen zu verstehen.

Wenn in der 14-minütigen Burleske des Filmpioniers Georges Méliès (Voyage dans la lune, 1902) eine Rakete im Auge des Monds landet, dieses phallische Projektil auf patriarchale Weise den (weiblichen) Mond penetriert sowie die Wissenschaftler von der Erde die als Wilde dargestellten Mondbewohner gewaltsam töten – ist genau dies Ausnahme, nicht Regel. Denn kolonisatorische Fantasien spielen in Mondfiktionen erst wieder mit dem Aufstieg der Science-Fiction in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine dominierendere Rolle.

Auffällig ist, dass lunare Zukunftssimulationen nicht nur von fiktionsbegabten Schriftstellern, sondern auch von stärker der Objektivität des Realen verpflichteten Astronomen, Raketentechnikern,Ingenieuren, Wissenschaftlern oder Laienwissenschaftlern entworfen – wie John Wilkins Traktat „The Discovery of a World in the Moone“, 1638, Otto Willi Gail „Der Schuß ins All“, 1925; oder Wernher von Braun, „Conquest of the Moon“, 1954. Beliebt beim Publikum waren auch die mit Walt Disney entstandenen Fernsehkurzfilme Wernher von Brauns wie „Man in Space“ (1955) oder „Man and the Moon“ (1955). Dies könnte man als technisch-realistischen Pol der Mondreisen bezeichnen.

Verne entwirft eine strikt im Rahmen des Wahrscheinlichen spielende Reise

Jules Verne ist der erste einer langen Reihe von Autoren, der 1869 mit dem „Voyage autour de la lune“ eine strikt im Rahmen des Wahrscheinlichen spielende Mondreise entwirft. Konsequenterweise taucht bei ihm die Idee extraterrestrischen Lebens nicht auf, seine Mondreise bleibt auf die Logik des Irdischen bezogen. Alles Bizarre hat bei ihm eine logisch erklärbare Grundlage.

Der Verlust der Körperkontrolle wird als Slapstick inszeniert, wenn die drei Astronauten durch Sauerstoffüberschuss in chaplinesker Verrenkung einen Ringelpietz im Weltraum aufführen. Oder der tote Hund nach seinem Überbordwerfen im Schlepptau der Rakete als Anhängsel mit durchs All schippert. Zwar haben seine Astronauten weder Kontrolle über ihr Raumschiff noch Funkkontakt zur Erde, doch jede Lebensgefahr wird routiniert weggelächelt. Am Ende kehren die drei Junggesellen mit Heldenstatus heim – um ihre Geschichte umgehend an eine schlagzeilenhungrige New Yorker Zeitung zu verkaufen. Als Akteure eines globalen Massenspektakels und einer Eisenbahntriumphfahrt durch die USA wächst ihnen eine Heldenpopularität zu, die sie mit dem Nimbus siegfried’schen Drachenbluts versieht, in deren Ruhmesglanz sie – von nun an scheinbar unverletzlich – strahlen können.

Mondreisen erweitern den Denkraum des Möglichen; sie entwerfen Gegenwelten, die trotz ihrer räumlichen und zeitlichen Entgrenztheit auf die uns vertraute Wirklichkeit bezogen sind. Stets bleiben sie lesbarer Kommentar zum Text der irdischen Welt. Sie spiegeln sie in einem exzentrischen Punkt außerhalb aller Hierarchien.

Mondreisen sind Experimentierfelder und Think Tanks, in denen sich die Aufbrüche in transnormale Welten im Rahmen des physikalisch Möglichen vollziehen können, in das sich fantastische und märchenhafte Züge mischen.

Mond und Mars sind die beliebtesten Sternkörper

Sie formen daher das Selbstbild von Mensch und Weltgemeinschaft im Spiegel der Zukunft, nicht zuletzt indem sie Heimat und Menschsein auf autoethnografische Weise neu entdecken. Statt an einer Ethnologie des Fremden, wie in der kolonialistischen Reiseliteratur, sind sie eher an einer Autoethnologie mittels fiktiver Fremder (Seleniten/Lunarier) interessiert.

Ganz anders etwa als bei Reisen zum Mars, wo – nomen est omen – kriegerische Komponenten, Materialschlachten und apokalyptische Konflikte zwischen Mars- und Erdmenschen im Vordergrund stehen. Mond und Mars dürften die beliebtesten extraterrestrischen Sternkörper sein, auf denen menschliche Fiktionen spielen – und die beliebtesten Fantasien der Exobiologie. Andere Planeten wie Venus oder Jupiter spielen im kollektiven Imaginären quantitativ eine untergeordnete Rolle.

Der Mond bildet einen real-imaginierten Ort: eine Struktur des Begehrens, die nah und fern zugleich ist, dem Auge wohlvertraut und in Vollmondnächten in fast greifbarer Größe vom Himmel grüßt – und doch für 99,999 Prozent der Sterblichen unerreichbar bleibt. Er wendet der Erde eine stets identische Seite zu, deren fleckige Projektionsfläche unablässigen Wandlungen unterzogen wird. Seit Lukians „Wahren Geschichten“ sind die Mondreisen weder euro- noch geozentrisch; sie sind oft genug ein Unterlegenheitsnarrativ, in dem der defiziente menschliche Körper im lebensfeindlichen Kosmos gegen überlegene Lebensformen, Intelligenzen oder Maschinen verliert.

Während die seefahrerische und aeronautische Erkundung der Erde die Relationen von Raum und Zeit durch sich ständig verbessernde logistische Netze immer kleiner und kürzer werden ließ, vergrößert die Entdeckung des Weltraums das Bewusstsein einer unendlichen Ausdehnung von Raum und Zeit. Mond- und Raumfahrt führen nicht zu einer Einhegung, sondern konfrontieren den Menschen mit der absoluten Relationslosigkeit des Raums und der Offenheit der Zeit.

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