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Unter dem Pflaster der Strand. Der 23-jährige Daniel Cohn-Bendit am 6. Mai 1968 vor der Sorbonne-Universität in Paris. Foto: AP

© picture alliance/ASSOCIATED PRES

50 Jahre Arbeiter- und Studentenrevolte: Wie sich 1968 der Pariser Mai entwickelte

Pflastersteine fliegen, Autos brennen. Millionen ziehen Mai 1968 in Frankreich auf die Straßen - und ein junger Daniel Cohn-Bendit triumphiert für einen Moment über Präsident de Gaulle. Ein Rückblick.

Plötzlich schien die Utopie für einen historischen Augenblick doch Wirklichkeit zu werden. Nicht bloß wahnhaft, sondern wahrhaft. Laut Marx und Engels hatten die Deutschen immer nur gedacht, was andere Völker real gemacht hätten. Vor allem die Franzosen mit ihrer bürgerlichen Revolution. Und im Mai 1968 sah es nun wieder so aus, als könnte Frankreichs politisches System tatsächlich einstürzen, unterm Ansturm einer nunmehr antibürgerlichen Revolte.

Was schnell zum „Pariser Mai“ erklärt wurde, in Anlehnung etwa an den zeitgleichen, aber am Ende fatalsozialistischen „Prager Frühling“, spielte als Drama vordergründig zunächst: im bürgerlich-akademischen Milieu. Genau genommen auf gut einem Quadratkilometer links der Seine im Quartier Latin – zwischen der Universität Sorbonne, dem Odéon-Theater und, leicht ironisch bemerkt, den Cafés am Boulevard Saint-Germain.

An der berühmtesten Hochschule Frankreichs zitierte ein riesiges Banner auf Französisch den Anfang von Marx/Engels’ „Kommunistischem Manifest“: „Ein Gespenst geht um in Europa ...“ An einer Hauswand stand: „Seid realistisch, verlangt das Unmögliche!“ Das war eine Variante der Wendung „L’imagination au pouvoir“/„Die Fantasie an die Macht“.

Der Triumpf eines rotschöpfigen Studentenführers

An die Macht? Tatsächlich ist die studentische Rebellion der sechziger Jahre – vom kalifornischen Berkeley bis West-Berlin, von Rom bis Frankfurt am Main – in Frankreich für kurze Zeit umgeschlagen in eine von der Neuen akademischen Linken bisher nur erträumte Revolte auch der Arbeiterschaft. Auf ihrem Höhepunkt, am 22. Mai 1968, beteiligen sich über acht Millionen Franzosen an einem Generalstreik, das größte westeuropäische Land, seine Wirtschaft und seine Regierung wirken gelähmt.

Nicht nur die Sorbonne, Frankreichs berühmteste Universität, ist von Studenten besetzt und Barrikaden sind rund ums Quartier Latin errichtet, auch die Arbeiter bei Citroën oder Renault haben es den Bürgerkindern gleichgetan. Die Sturmluft des Pariser Mais weht in vielen Teilen des Landes. Und ja, mit der Solidarisierung zwischen Gewerkschaften, Künstlern, Intellektuellen und Studenten scheinen die vielfältigen revolutionären Theorien von Marx bis Marcuse, von Mao, Che Guevara, Frantz Fanon („Die Verdammten dieser Erde“) bis hin zur politischen Philosophie Jean-Paul Sartres vom Kopf auf die Füße gestellt zu sein.

In diesen Tagen leuchtet auf einmal weltweit auch der Stern des rotschöpfigen Studentenführers Daniel (Dany) Cohn-Bendit, während sich Charles de Gaulle, der General und Staatspräsident, am 29. Mai für einen Tag und eine Nacht heimlich zu den französischen Besatzungstruppen nach Baden-Baden ausfliegen lässt. Selbst sein Premierminister (und späterer Nachfolger) Georges Pompidou wird erst hinterher erfahren, dass de Gaulle in jener Nacht das Land verlassen hat und mit seinem eisenharten Fallschirmjäger-Kollegen General Massu rechts des Rheins über den Ausnahmezustand und das Ende der Fünften Republik berät.

Ein damals gerade 23-jähriger Student sollte so mit seinen Anhängern über den großen Präsidenten triumphieren? Cohn-Bendits Vater war als jüdischer Rechtsanwalt und Trotzkist aus Berlin bereits 1933 nach Frankreich emigriert, der 1945 geborene „rote Dany“ hatte später an der hessischen Odenwaldschule sein Abitur gemacht und studierte ab 1965 Soziologie an der Pariser Vorortuniversität Nanterre. Dort bildet sich alsbald ein Zentrum des studentischen Protests, erst gegen das akademische, dann das ökonomische und politische System. Anders als in Deutschland nach dem Tod von Benno Ohnesorg 1967 oder nach dem Attentat auf Rudi Dutschke im April 1968 in West-Berlin und bei den bundesweiten Protesten etwa gegen die Springer-Presse kommt es in Frankreich auch vermehrt zu Bündnissen oder Parallelaktionen der Kopfarbeiter mit der viel beschworenen „Basis“. Mit Gewerkschaften und Werktätigen.

Ein Anlass ist dabei am 2./3. Mai 1968 die Schließung der Universität Nanterre, worauf die Pariser Studenten die Sorbonne besetzen und gegen die Einmischung des Staats protestieren. Die französische Polizei stürmt die ehrwürdige Hochschule, es kommt zu Straßenschlachten, das Quartier Latin versinkt im Tränengasnebel und es gibt viele Verletzte, fast tausend Studenten werden festgenommen. Am 4. Mai wird auch die Sorbonne offiziell geschlossen, die Unruhen in Paris und anderen Städten halten an. Als Forderungen nach Wiederöffnung der Unis und Freilassung der Inhaftierten abgelehnt werden, steigern sich die Proteste, rund 10 000 Demonstranten errichten Barrikaden im ganzen Quartier Latin, Pflastersteine fliegen, Autos brennen. Auch ein Einsatz der für ihre Brutalität gefürchteten Bereitschaftspolizei CRS in der Nacht zum 11. Mai, einem Samstag, schlägt den Aufstand trotz neuer Verletzter und Hunderter Verhaftungen nicht nieder.

Inzwischen gehen die Bilder der Revolte um die Welt, in und außerhalb Frankreichs kommt es zu Solidaritätskundgebungen und weiteren Demonstrationen, die auch von einem Teil der französischen Gewerkschaften unterstützt werden. Hierauf bricht Premierminister Pompidou eine Asienreise ab, lässt die Polizei abziehen und verkündet am 14. Mai eine Amnestie für die Verhafteten und die von Schnellgerichten bereits Verurteilten. Trotzdem demonstrieren in Paris und andernorts rund eine Million Menschen unter dem Motto „Solidarität von Arbeitern und Studenten“.

Plötzlich bricht der Protest ein

Unter dem Pflaster der Strand. Der 23-jährige Daniel Cohn-Bendit am 6. Mai 1968 vor der Sorbonne-Universität in Paris. Foto: AP
Unter dem Pflaster der Strand. Der 23-jährige Daniel Cohn-Bendit am 6. Mai 1968 vor der Sorbonne-Universität in Paris. Foto: AP

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Geht es also wirklich um, das „Gespenst des Kommunismus“? Ausgerechnet die KPF, die Kommunistische Partei Frankreichs, und ihre einflussreiche Gewerkschaft, die CGT, distanzieren sich von den Unruhen. Sie setzen auf die staatliche Ordnung – gegen die von den radikalen Studenten verfochtene oder von deren Gegnern befürchtete „Anarchie“. Doch die protestierenden „Kinder von Marx und Coca-Cola“, wie sie der Regisseur Jean-Luc Godard schon 1966 in einem Kult-Kinofilm genannt hat, sind auch die Kinder eines Teils des ansonsten eher konservativen französischen Bürgertums. Darum gibt es gesellschaftlich übergreifende Sympathien mit den jungen Rebellen, über die Bourgeoisie hinaus. Und Frankreichs intellektueller Kopf, der kurz zuvor mit dem (von ihm abgelehnten) Literaturnobelpreis ausgezeichnete Jean-Paul Sartre, ist aufseiten der Jungen, die vielfach seine Studenten, Leser, Verehrer(-innen) sind. Sartre wirft der KPF und ihrer Gewerkschaft vor, die mögliche Revolution verraten zu haben.

Aber noch ist das Schauspiel nicht vorbei. Noch glauben viele, unter dem Pflaster liege der Strand („sous les pavés la plage“), wie eine der romantischen Rebellionsparolen lautet. Die Studenten und linken Professoren, Künstler, Wissenschaftler tagen und nächtigen außer in der Sorbonne auch im nahe gelegenen Nationaltheater Odéon. Dessen Intendant, der seit dem Film „Die Kinder des Olymp“ weltberühmte Schauspieler Jean-Louis Barrault, hat dem Protest die Tore des Théâtre de France im Odéon geöffnet – und wird, bis dahin kaum vorstellbar, von de Gaulles gleichfalls illustrem Kulturminister, dem Autor André Malraux, deswegen des Amtes enthoben. Was neuen Protest erzeugt. Und am 19. Mai stürmen die Regisseure der Nouvelle Vague wie eine Orkanwoge die Filmfestspiele in Cannes, angeführt von Jean-Luc Godard, François Truffaut und Jurypräsident (!) Louis Malle, worauf das Festival abgebrochen wird.

Doch selbst manchen, die mit dem Protest und den utopischen Ideen einer gerechten, waffenlosen, klassenfreien, idealkommunistischen Gesellschaft liebäugeln, ist es in jenen Maitagen wohl auch etwas unheimlich geworden. Die Fantasie an der Macht – nicht nur einer hochkomplexen Industrienation, sondern auch einer Atommacht, die Frankreich dank de Gaulle seit 1960 war? Und wie und was wollen die Studenten überhaupt konkret, vor Anbruch des paradiesischen neuen Reichs der Freiheit?

Am 20. Mai führen Dany Cohn-Bendit und Jean-Paul Sartre in Paris ein öffentliches Gespräch. Während der altersradikale Großdenker die von der Regierung angebotenen Lohnerhöhungen für Arbeiter und Veränderungen im starr hierarchischen Universitätsbetrieb als puren „Reformismus“ verurteilt, wirkt der junge Studentenstar überraschend vorsichtig. Er sieht zwar das gaullistische „Regime“ am Ende, aber noch nicht die Vorherrschaft der bürgerlichen Gesellschaft. Seine konkreten Forderungen, etwa die Öffnung der Uni-Mensen auch für Arbeiter und Angestellte zu einem allgemeinen Menütarif von 1,40 Francs, wirken heute beim Nachlesen des Gesprächsprotokolls fast ein wenig komisch.

Wie über Nacht, wie mit Shakespeares Dramaturgie der Plötzlichkeit, ist dann Ende Mai tatsächlich alles vorbei. De Gaulle kehrt am 30. 5. 1968 zurück nach Paris, kündigt in einer Radiobotschaft an die erschütterte Nation weitere Reformen und Neuwahlen an, worauf die Politik, auch die Sozialisten des damals taktierenden und erst später kommenden Präsidenten François Mitterrand, mitsamt den Gewerkschaften zur alten Ordnung zurückkehren. Und der akute Protest bricht zusammen. Es ist, gefolgt von den russischen Panzerketten in Prag kaum drei Monate danach, der Anfang vom Ende, auch wenn von „1968“ viele gesellschaftlich-kulturelle Reformfolgen bleiben und der Marsch nicht gegen, sondern durch die Institutionen erst beginnt.

Dazu ein P. S.: Louis Malle hat 1990 in seiner wundervollen „Komödie im Mai“ das Geschehen ’68 nicht aus Pariser Sicht geschildert, sondern im Spiegel der Provinz. Das nationale, historische Schauspiel wird zum ländlichen Spektakel, als sich eine Familie aus der Großstadt auf ihrem südfranzösischen Landgut zur Beerdigung der Großmutter trifft. Doch wegen des Generalstreiks gibt es Probleme mit der Anreise, zudem streiken nun auch die Totengräber. Und weil es im Ausnahmezustand mit der kulinarischen Versorgung hapert, fängt der Familienpatriarch (Michel Piccoli) für den Leichenschmaus halbnackt im ländlichen Gewässer Flusskrebse. Mit bloßen Armen, an denen sich die kleinen roten Scherentiere festbeißen. Schmerzhaft, scherzhaft. Das ist zum großen Drama das Satyrspiel.

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