zum Hauptinhalt
Draußen vor der Tür: Derzeit können Daniel Barenboim und die Staatskapelle nicht Unter den Linden auftreten.

© Peter Adamik

450 Jahre Berliner Staatskapelle: Alte Lieder rosten nicht

Die Berliner Staatskapelle feiert ihr 450. Jubiläum, zunächst nur mit einer CD-Box. Sie versammelt grandiose Aufnahmen aus der Geschichte des Orchesters.

Die Staatskapelle ist ein stolzes Orchester. Wenn es darum geht, wer hierzulande in Sachen Klassik an der Spitze steht, akzeptieren die Musikerinnen und Musiker der Lindenoper lediglich die Berliner Philharmoniker als Konkurrenten. Künstlerisch begegnet man sich auf Augenhöhe, historisch trennen beide Ensembles Jahrhunderte. 1570 wurde die Kapelle des preußischen Herrscherhauses erstmals urkundlich erwähnt, sie ist das neuntälteste Orchester der Welt. Die Philharmoniker gibt es erst seit 1882.

Allerdings waren die Philharmoniker von Anfang an basisdemokratisch organisiert, als Zusammenschluss freier Geister, abtrünniger Mitglieder der sogenannten Bilseschen Kapelle, die sich nicht länger von einem despotischen Chefdirigenten herumkommandieren lassen wollten. Als erste deutsche Orchesterrepublik schrieben sie später Musikgeschichte.

Die Staatskapelle hingegen war stets ein Instrument der Mächtigen. Unter dem prachtliebenden brandenburgischen Kurfürsten Joachim II. Hektor wurde das Ensemble etabliert, 1580 präzisierte dessen Nachfolger Johann Georg die Pflichten der damals 12 Sänger und sechs Instrumentalisten: Sie hatten mit ihrem Klang „fleißig aufzuwarten“, und zwar „wenn und wohin sie gefordert werden“.

Der Soldatenkönig lässt die Kapelle nur noch Militärmusik spielen

Bis 1612 wächst die Zahl der Musiker auf 18, der 30-jährige Krieg dezimiert sie wieder, zu Beginn des 18. Jahrhunderts sind bei Hofe dann rund drei Dutzend Instrumentalisten angestellt. Der kulturferne Soldatenkönig löst die Kapelle auf und behält nur eine kleine Militärmusikformation, sein Sohn Friedrich dagegen ist den Tonkünsten sehr zugetan. 1742 bekommt das inzwischen 40-köpfige Orchester mit der Lindenoper sogar eine eigene Spielstätte.

Vor 200 Jahren wird mit dem Komponisten Gaspare Spontini der erste Generalmusikdirektor am preußischen Hofe bestellt, in seiner 21-jährigen Amtszeit gelingt es dem Italiener, die Kapelle auf 94 Mitglieder zu vergrößern, ab 1842 gibt es neben den Musiktheateraufführungen auch eine Konzertreihe mit Sinfonischem. Richtig berühmt wird die Hofkapelle schließlich unter der Leitung von Richard Strauss, der 1898 nach Berlin kommt und bis zum Ende des 1. Weltkriegs die ästhetische Linie Unter den Linden bestimmt.

Seit 1916 gibt es Tonaufzeichnungen des Orchesters, und die ebenfalls sehr traditionsreiche Deutsche Grammophon, für die viele der Einspielungen einst entstanden sind, feiert das Jubiläum der Staatskapelle nun mit einer repräsentativen 15-CD-Box. „Great Recordings“ lautet der englischsprachige Titel der international vermarkteten Kollektion, großartige Aufnahmen sind hier tatsächlich versammelt.

Die älteren Aufnahmen bieten Überraschungen

Das sind die Interpretationen des aktuellen Musik-Generals Daniel Barenboim sowie der beiden Ehrendirigenten Zubin Mehta und Pierre Boulez und des langjährigen Prinicipal Guest Conductor Michael Gielen, die den Fans noch frisch in den Ohren klingen. Die vier Maestri sind jeweils mit einer CD vertreten. Die ganz großen Überraschungen aber bieten die älteren Aufnahmen.

Denn die Staatskapelle, wie sie seit dem Zusammenbruch des preußischen Herrscherhauses heißt, klingt da überhaupt nicht von gestern. Schneidig dirigiert Max von Schillings 1927 das Vorspiel des „Fliegenden Holländers“, mit einem Affenzahn lässt Leo Blech vor 104 Jahren Mozarts „Figaro“-Ouvertüre abschnurren, und auch die Götter ziehen bei seiner 93 Jahre alten „Rheingold“-Interpretation auf flinkesten Füßen in Walhall ein.

1929, als Richard Strauss mit der Staatskapelle seine eigenen Tondichtungen „Till Eulenspiegel“ und „Don Quixote“ für die Ewigkeit festhält, ist die Technik noch nicht in der Lage, die Detailfülle der raffinierten Orchesterbehandlung einzufangen. Mancher Tutti-Tumult erinnert an eine Waschmaschine im Schleudergang. Wohl aber teilt sich durchs Rauschen der Schellack-Platte der Gestus mit, den der dirigierende Komponist anstrebt: Leger soll es klingen und heiter, vieles wird bewusst al fresco gezeichnet. Nicht auf Perfektion kommt es an, sondern auf die Lebendigkeit des Live-Spiels.

Die Dirigenten des frühen 20. Jahrhunderts setzen auf Vitalität

Heute wird die Staatskapelle vor allem wegen der Samtigkeit ihres Klangs bewundert. Die Dichte der musikalischen Textur wird gelobt und eine berauschende, dunkel grundierte Fülle des Wohlklangs. Während sich der Sound der Spitzenensembles weltweit immer mehr angleiche, also stromlinienförmiger werde, betonen die Fans der Staatskapelle, kultiviere dieses traditionsbewusste Berliner Orchester weiterhin die Ideale der Vorkriegszeit, eine Art kunstreligiöse Ernsthaftigkeit.

Daniel Barenboim berichtet, dass er bei seiner ersten Begegnung mit der Staatskapelle Anfang der 1990er Jahre spontan an das Klangbild des von europäischen Exilanten geprägten Israel Philharmonic Orchestra denken musste, das ihm aus seiner Kindheit vertraut war.

Umso erstaunlicher ist es, durch die CDs der Jubiläumsbox zu erleben, wie sehr die Dirigenten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf Vitalität setzen. Da geht es nicht ums weihevolle Zelebrieren, da vermitteln die überraschend schnellen Tempi Schwung und Elan. Was auch daran liegt, dass der Spielplan des Hauses Unter den Linden vor einem Jahrhundert ganz anders aufgestellt war.

Herbert von Karajan gibt sich ungestüm

Neben den schwerblütigen, spätromantischen Musikdramen, die mittlerweile das Programm dominieren, war damals nämlich das Genre der deutschen Spieloper noch höchst lebendig. Als Pendant zur italienischen opera buffa entstand ab den 1830er Jahren eine Untergattung der Oper, die beim Publikum äußerst beliebt war.

Von dem mitreißenden Charme, den Otto Nicolais „Lustige Weiber von Windsor“ in der 1929er Aufnahme unter Selmar Meyrowitz entfalten, ist auch Paul van Kempens Interpretation der „Freischütz“-Ouvertüre von 1939 geprägt: Lichter ist die Textur des Klangs, deutlich mehr Sauerstoff als heutzutage üblich durchweht hier den deutschen Wald, der kein finstrer Tann ist, sondern ein gemischtes Gehölz.

[Wenn Sie alle aktuellen Entwicklungen zur Coronavirus-Krise live auf ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere runderneuerte App, die Sie hier für Apple-Geräte herunterladen können und hier für Android-Geräte.]

Agilität, Reaktionsschnelligkeit der Musiker war für die Spieloper wichtig, die neben der immer stärker ins Sentimentale tendierenden Operette ihren festen Platz im Repertoire hatte, wie hier die Aufnahmen von Nikolaus von Rezniceks „Donna Diana“ (uraufgeführt 1894) und Ermanno Wolf-Ferraris „Il segreto di Susanna“ (1909) beweisen. Spritzig zu spielen, mit Verve, darum ging es selbst im Aufnahmestudio, nicht um technische Makellosigkeit.

Sogar Herbert von Karajan, später der Hohepriester des Schönklangs, ist bei den zwischen 1938 und 1941 entstandenen Mozart-, Verdi- und Beethoven-Mitschnitten als überraschend ungestümer, ja geradezu hemdsärmelig agierender Maestro zu erleben.

Drei Opernaufnahmen bilden den Höhepunkt

War das generelle Zeitgefühl der Menschen damals anders, ging ihr Puls schneller im hektischen Berlin, trieb der Fortschritt, der alle Bereiche des Alltagslebens in oft erschreckender Weise beschleunigte, auch die Künstler vor sich her? Oder war der Zugriff auf Oper und Sinfonik selbstverständlicher, vielleicht pragmatischer? Weil die Werke selber nicht so stark nachgereift waren, weil die Interpreten viele der Schöpfer noch persönlich kennengelernt hatten?

Drei Opernaufnahmen bilden die Höhepunkte der Jubiläumsedition, obwohl es jeweils nur Ausschnitte von ein oder zwei Akten sind. 1930 dirigiert Joseph Keilbert einen elektrisierenden „Macbeth“, Wilhelm Furtwänglers 1947er „Tristan“ berauscht durch Natürlichkeit, 1955 wird die Wiedereröffnung des Hauses mit den „Meistersingern“ gefeiert, die unter Franz Konwitschnys Leitung zu einer beglückenden Ensembleleistung werden.

Auffällig ist auch die Textverständlichkeit. Die Solisten wirken überhaupt nicht opernhaft im Ausdruck, sondern wie singende Schauspieler. Martha Mödl ist als Verdis Lady Macbeth eine flamboyante Tragödin – auf Deutsch natürlich, wie damals üblich –, Erna Schlüter und Ludwig Suthaus kommen im Liebesakt des „Tristan“ wirklich miteinander ins Gespräch, auf hinreißend mühelose Weise. Absolut ungekünstelt wirkt auch der Konversationston in den „Meistersingern“. Wagners gestelzte Dialoge fließen mit größter Selbstverständlichkeit, analog zur orchestralen Untermalung. So lebendig, so frisch erlebt man Musiktheater heute nur sehr selten, selbst Unter den Linden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false