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Das DT-Ensemble im Bühnenraum vom Franz Dittrich und Ulrich Rasche.

© Arno Declair

„4.48 Psychose“ am Deutschen Theater: Wenn die Klarheit vorbeischaut

Ulrich Rasches inszeniert Sarah Kanes „4.48 Psychose“ am Deutschen Theater Berlin. Ihm gelingt eine zeitdiagnostische, neue Lesart des Textes - ein großer Abend.

Ulrich Rasche und Sarah Kane: Das ist wahrlich keine Theater-Paarung, die auf der Hand liegt. Hier der Regisseur, der Stücke konsequent entpsychologisiert. Der sie buchstäblich verkörperlicht, indem er die Schauspieler auf gigantischen Drehscheiben oder Laufbändern abendfüllend gegen Maschinenkräfte anmarschieren lässt. Texte werden bei Rasche nicht erfühlt, sondern rhythmisch geatmet, gekeucht und geschrien.

Und auf der anderen Seite Sarah Kane, die britische Dramatikerin, die in den 90er Jahren als Vertreterin des sogenannten „In-Yer-Face-Theaters“ Kanon-Geschichte schrieb – eines Theaters, das das Publikum mit wütenden, schockierenden, vulgären Texten aufrütteln wollte. Und die sich 1999, mit 28 Jahren, in einer Londoner Klinik erhängte.

Die Uraufführung erlebte Sarah Kane nicht mehr

Ungewöhnlich ist die Kane-Rasche-Kombination vor allem deshalb, weil man bis dato schwer umhin kam, Kanes Texte unter dem Eindruck dieses Suizids zu lesen; also stark autobiografisch. Auf das Stück, mit dem Rasche jetzt sein Debüt am Deutschen Theater Berlin gibt, trifft das in besonderer Weise zu. „4.48 Psychose“ ist der letzte von Kanes insgesamt fünf Theatertexten, vollendet kurz vor ihrem Tod und posthum uraufgeführt im Jahr 2000 am Londoner Royal Court Theatre.

Es ist ein Vierzigseiter ohne Figurenauf- und -zuteilung, in dem ein verzweifeltes, buchstäblich lebensmüdes und die eigene Situation durchaus hellsichtig analysierendes Ich mit Ärzten ringt, die ihm „die angeborene Angst mit der Chemiekeule“ wegtherapieren wollen. Deren Perspektive mischt sich genauso in den Text wie Passagen, in denen sich dieses Ich in Krankenakten verobjektiviert, in denen es sich als medizinischer Untersuchungsgegenstand gleichsam von außen betrachtet: „Sertralin, 50 mg. Schlaflosigkeit verschlimmert, heftige Angstanfälle. Lofepramin, 70 mg, erhöht auf 140 mg, dann 210 mg. Gewichtszunahme 12 kg. Kurzzeitiger Gedächtnisverlust.“

Überindividuelle Dimension der Verunsicherungserfahrung

Wie dieser bis dato häufig als Bewusstseinsstrom inszenierte Text also mit Rasches Ansatz zusammengehen kann – darüber waren im Vorfeld so angeregte Spekulationen zu hören wie lange nicht in einem Theaterfoyer. Und herausgekommen ist schließlich – das lässt sich ohne Wenn und Aber sagen – auch einer der größten Abende seit langem. Möglicherweise der klügste und genaueste, den Ulrich Rasche bis dato inszeniert hat, weil ihm, reichliche zwanzig Jahre nach der Uraufführung und Kanes Tod, tatsächlich eine neue Lesart gelingt.

„4.48 Psychose“ klingt im Deutschen Theater nicht nur überraschend zeitgenössisch, ja geradezu zeitdiagnostisch. Sondern die Inszenierung legt vor allem eine überindividuelle, existenzielle Dimension in der fundamentalen Selbst-Verunsicherungserfahrung frei, die durch den biografischen Kontext verstellt war.

Flache Laufbänder dominieren das Szenario

Vieles ist wie immer bei Ulrich Rasche und alles doch ganz anders. Im Gegensatz zu der Dresdner Ágota Kristóf-Inszenierung „Das große Heft“ zum Beispiel – dem letzten großen Rasche-Abend, der in Berlin, beim Theatertreffen, zu sehen war – wirkt die Bühne geradezu abgerüstet: Statt riesiger Drehscheiben dominieren lediglich flache Laufbänder das Szenario, das der Regisseur gemeinsam mit Franz Dittrich entworfen hat.

Durch schmale Leuchtstoffröhren werden im Verlauf des Abends wechselnde Räume markiert, so dass die Schauspielerinnen und Schauspieler sowohl unendlich klein und verloren wirken können als auch hineingepresst in vergleichsweise enge Rahmen. Sie tauchen dabei in verschiedenen Konstellationen aus der dunklen Bühnentiefe auf und verschwinden wieder in ihr – analog zu jenem zentralen Augenblick um 4.48 Uhr, von dem in Kanes Text immer wieder die Rede ist: dem „Glücksmoment, wenn die Klarheit vorbeischaut“.

Drei Schauspielerinnen und sechs Schauspieler teilen sich den Text

Gerade durch den Gleichtakt, in dem die Akteure gegen die Maschinen anlaufen, ließen sich in Rasche-Arbeiten schon immer gut individuelle Unterschiede entdecken. Diesmal aber werden sie mehr als sonst zum tragenden Inszenierungskonzept. Der Regisseur verteilt den Text auf drei Schauspielerinnen und sechs Schauspieler, die jeweils überdurchschnittlich viele singuläre Sprechanteile haben, von denen man einige noch nie so großartig gesehen hat wie hier.

Es beginnt mit Katja Bürkle, Kathleen Morgeneyer und Linda Pöppel, die – schutzlos der Welt ausgesetzt und gleichzeitig entsexualisiert in fleischfarbenen Ganzkörperanzügen – dem Bühnen-Ich unterschiedliche Facetten abgewinnen: Morgeneyer zentriert den Schmerz, Bürkle den letzten mobilisierbaren Aufbäumungszorn, Pöppel die Würde der Selbsthauptbehauptungsanstrengung. Später schieben sich Therapeuten- und Patientinnen-Texte, helle und dunkle Kostüme in verschiedensten Gruppen-Anteilen klug und präzise ineinander.

Live-Musiker spielen Kompositionen von Nico van Wersch

Wenn man „4.48 Psychose“ liest, braucht man kaum eine Stunde. Rasches Abend dauert fast dreimal so lange, ohne Pause. Es sind die kürzesten 170 Minuten seit langem im Theater, was über das Schauspiel hinaus vor allem den Kompositionen Nico van Werschs und den außergewöhnlichen Live-Musikern zu verdanken ist. Die umkreisen, deutlich präsenter noch als sonst bei Rasche, die Spielenden praktisch abendfüllend auf der Drehbühne und machen „4.48 Psychose“ gleichzeitig zu einem minutiös und komplex durchstrukturierten Konzert, zu einer Art kathartischen Liturgie, einer Passionsgeschichte.

Im Zusammenspiel all dessen gelingt hier tatsächlich etwas Seltenes: Kanes Stück ist mit jedem Wort auch eine buchstäbliche Selbstbehauptung, der Kampf eines hypersensiblen und -scharfen Bewusstseins um das Recht auf seine Weltsicht, um die Deutungshoheit über den eigenen Körper und die eigene Person – gegen die ärztliche Mehrheits- und Normierungsperspektive.

Das wurde natürlich stets psychiatriekritisch und voller Empathie für die Ich-Figur gelesen, was aber noch lange nicht bedeutet, diese Figur auch tatsächlich aus der Opferperspektive herauszuholen. Genau das aber gelingt Rasche hier mit einem überdurchschnittlichen Ensemble: Ein wirklich großer, maßstabsetzender Abend!
Wieder am 25. und 26. Januar

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