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Immer unter Hochspannung: Aja (Kristina Jovanović) in Kosta Djodjevićs „Love cuts“.

© Tamara Antonović

29. Filmfestival Cottbus: Menschlichkeit und Messerstiche

Eine mutige Helferin, verlorene Jugendliche und verzweifelte Alte: Eindrücke vom 29. Festival des osteuropäischen Films in Cottbus.

Die Kindheit von Zorka Janjanin endet an einem Morgen im April 1942. Ihre Mutter weckt sie und ihre vier Geschwister mit dem Satz: „Aufstehen Kinder, wir gehen ins Lager.“ Und so kommt die damals Zehnjährige erst nach Stara Gradiška und später noch in drei weitere kroatische Lager. Ihre Familie ist serbisch-orthodox, was im von den Nationalsozialisten protegierten Ustascha-Staat schon als Deportationsgrund reicht. Weder Zorkas Eltern noch Schwestern und Brüder überleben.

Dass sie selbst dem Horror entkam, verdankt sie Diana Budisavljević, einer Österreicherin, die in Zagreb lebte und mit einem serbischen Arzt verheiratet war. Anfang der 40er Jahre startete sie eine private Organisation, die orthodoxen Frauen und Kindern in den Ustascha-Lagern half. Über 10 000 Menschen rettete sie das Leben.

Lange war fast nichts bekannt über sie, doch nun erzählt der Schwarz-Weiß-Film „Das Tagebuch der Diana Budisavljević“ in einer Mischung aus dokumentarischem Material und Spielszenen die Geschichte dieser couragierten Frau.

Regisseurin Dana Budisavljević, die weitläufig mit ihrer Heldin verwandt ist, begann 2010 mit den Arbeiten an dem Projekt, dessen Startpunkt ein Notizbuch der Retterin war. Die ersten drei Jahre waren allein der historischen Recherche gewidmet, erklärte sie bei der gut besuchten Deutschland-Premiere ihres Werkes auf dem Filmfestival Cottbus.

Jahrzehntelang gab es keine kroatischen Filme über den Zweiten Weltkrieg

Bei den Nachforschungen fand sie nicht nur zahlreiche Überlebende, von denen vier im Film zu Wort kommen, sondern auch Aufnahmen aus einem der Lager. Sie zeigen Mädchen und Jungen mit kurzgeschorenen Haaren sowie halbtot vor sich hindämmernde Kleinkinder auf dem Boden. Es sind schwer zu ertragende Szenen, die dem in der Spectrum-Reihe gezeigten „Tagebuch der Diana Budisavljević“ jedoch eine immense Wucht und Relevanz verleihen.

Auf dem Festival von Pula, wo im Sommer die Uraufführung stattfand, gewann der Film sowohl den Hauptpreis als auch den Publikums- und Kritikerpreis. Das gab es dort noch nie. Überhaupt wird das Werk in der Region mit großem Interesse aufgenommen, was wohl auch daran liegt – so mutmaßt die Regisseurin – dass es jahrzehntelang keine kroatischen Filme über den Zweiten Weltkrieg gab. In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens ist man weiterhin mit der Aufarbeitung der Zerfallskriege in den 90ern beschäftigt.

Alma Prica als Diana Budisavljević.
Alma Prica als Diana Budisavljević.

© Festival Cottbus/Hula Hop

Im Cottbuser Wettbewerb war mit Lendita Zeqirajs Langfilmdebüt „Agas Haus“ ein Beispiel dafür zu sehen, das sich mit den Folgen des Kosovokrieges beschäftigt. Angesiedelt in einem nur von Frauen bewohnten Bergdorf hat sich der neunjährige Aga (Arti Lokaj) in den Kopf gesetzt, seinen angeblich im Krieg verschollenen Vater zu finden. Er glaubt, dass er in einem serbischen Gefängnis sitzt, weshalb er die Nachbarin, die alle als Serbin beschimpfen obwohl sie Kroatin ist, immer wieder um Hilfe bei der Sprache bittet. In ihrem thematisch mit dem allerdings ungleich bewegenderen Bären-Gewinner „Grbavica“ (2006) von Jasmila Žbanić verwandten Drama, schafft die Regisseurin einen lebendigen Eindruck der Frauengemeinschaft, die sie in handgefilmten Nahaufnahmen einfängt, verliert dafür aber ihre Titelfigur immer wieder lange aus den Augen.

Irrwitzige Lügen und ein Messer im Bauch

Aga ist der jüngste von zahlreichen jungen, oftmals verloren wirkenden Protagonisten und Protagonistinnen der zwölf Wettbewerbsfilme, die alle in der Gegenwart oder der jüngeren Vergangenheit spielen. So erzählt Svetla Tsotsorkova in ihrem in der bulgarischen Provinz angesiedelten zweiten Spielfilm „Schwester“ von der Teenagerin Rayna (Monika Naydenova). Mit ihrer älteren Schwester und ihrer Mutter stellt sie Tonfiguren her, die sie an Touristen verkaufen. Aus Langeweile erzählt Rayna immer wieder irrwitzige Lügengeschichten, bis eine davon das ohnehin fragile Gleichgewicht der Familie zerstört. Wie sie nun alles daran setzt, ihren Fehler wiedergutzumachen ist packend inszeniert und macht dieses in warmen Sommerfarben gedrehte Werk zu einem würdigen Gewinner des Hauptpreises.

Im Nachbarland Serbien lebt die mit Rayna seelenverwandte Aja (Kristina Jovanović) aus Kosta Djodjevićs „Love cuts“. An einem heißen Sommertag in Belgrad hat sie Stress mit der Mutter, dem Freund und einer Gang, was zu einem Messerstich in ihrem Bauch führt. Mit einer agilen Kamera und einem guten Rhythmusgefühl verfolgt der Regisseur den atemlosen von Aggression geprägten Tag der dauerfluchenden Aja. Es ist anstrengend sie zu beobachten und wirft doch ein eindrucksvolles Schlaglicht auf junges Leben in Belgrad.)

Korrupte Polizisten in Sarajevo

Eine Art Schwesterfilm dazu ist „Full Moon“, der während einer Nacht auf einer Polizeistation in Sarajevo spielt. In einer Tour de Force des Chefinspektors (Alban Ukaj) spiegelt Regisseur und Drehbuchautor Nermin Hamzagić die staatliche Dysfunktionalität Bosniens und die Hoffnungslosigkeit seiner Bevölkerung. Das Schreckenspanorama reicht von desorientierten Jugendlichen über korrupte Polizisten, eine überarbeitete Ärztin bis hin zu einem verzweifelten Vater und einem Alten, der sich wünscht, er wäre im Krieg gefallen, um nicht mitansehen zu müssen, was aus seinem Land gemacht wurde.

Ein Toningenieur nimmt ukrainische Tierstimmen auf

Licht in den von Dramen dominierten Wettbewerb brachten Lyubov Borisova („Nanouk“) mit ihrem generationsübergreifenden Tundra-Feel-Good-Movie „Die Sonne über mir geht nicht unter“ sowie der ukrainische Regiedebütant Antonio Lukich mit seinem Mutter-Sohn-Roadmovie „Die Gedanken sind frei“, in dem ein junger Toningenieur mit einem riesigen Mikrofon durchs Land reist, um Tierstimmen aufzunehmen. Dabei gerät er immer wieder in groteske Situationen.

Als er einmal für einen Spion gehalten wird, blitzt die Erinnerung an den Krieg in der Ost-Ukraine auf. Doch wirklich politisch wird es nicht in dieser Komödie, die Lukich bei der Premiere stolz als „ersten ukrainischen Film über einen großen Typen“ vorstellte. Hauptdarsteller Andriy Lidagovskiy misst über zwei Meter, was für einige witzige Szenen sorgt. Auch in Cottbus ragte er rund um das Festivalzentrum an der Stadthalle heraus, und weil er die gleiche Frisur wie im Film trägt, dachte man immer, dass er jeden Moment sein Mikrofon hervorholt, um die komischen Filmvögel um sich herum aufzunehmen.
Der Festivalbesuch wurde vom Filmfest Cottbus unterstützt.

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