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Boris Karloffs Maske in der Verfilmung von 1932 hat das Bild von Frankenstein geprägt.

© WorldPhotos / Alamy Stock Photo

200 Jahre Frankenstein: Die Geister, die ich schuf

Vor 200 Jahren kam Mary Shelleys "Frankenstein" heraus. Damit erfand die Autorin eine Ikone der Horrorgenres – und ein Symbol für den Menschen, der die Folgen seiner Forschung nicht unter Kontrolle hat.

Im Januar 1818, erschien in London anonym der Roman „Frankenstein oder der moderne Prometheus“, der davon erzählt, wie ein Wissenschaftler ein Monster erschafft. Ob der gerade 20- jährigen Verfasserin Mary Shelley klar war, welche Wellen ihr Werk schlagen würde, bleibt offen. Wellen aber schlug es, schlägt es noch. Das halbe Marvel-Comic-Universum etwa wurzelt in Shelleys Erfindung, die das Science-Fiction-Genre überhaupt ins Leben rief. „Science- Fiction handelt nicht von der Zukunft, sondern, wie alle Erzählkunst, vom Möglichen, vom Vorstellbaren“, schreibt Fantasy-Connaisseur Dietmar Dath in seiner „Superhelden“-Monographie. Hulk, Spider-Man und diverse Widersacher sind nichts anderes als Ergebnisse von Experimenten durchgeknallter Wissenschaftler.

Oft besteht eine Personalunion von Schöpfer und Kreatur wie in Robert Louis Stevensons „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ (1886), einer beliebten Folie für psychologische Deutungen. Auch Shelleys Protagonist könnte als schizophren interpretiert werden. Horror entsteht durch Nähe zur Wirklichkeit, sei sie psychologischer oder naturwissenschaftlicher Art. In Zeiten avancierter Genforschung und Robotertechnik erscheint die Fiktion von der Wirklichkeit eingeholt. Kein Wunder, dass die Faszination für den Stoff nach wie vor floriert, wie zuletzt die britische Serie „The Frankenstein Chronicles“ (2015) zeigte. Demnächst verwandelt ein Frankenstein-Musiktheaterprojekt die Tischlerei der Deutschen Oper in ein Labor. 2015 wurde die Romanvorlage in einer BBC-Umfrage von Kritikern zu einem der 100 bedeutendsten britischen Romane gewählt. Darauf hätte man risikolos wetten können.

Die Folgen eines regnerischen Sommers

Im frühen 19. Jahrhundert lag die Idee, einen künstlichen Menschen zu kreieren, in der Luft. Der Gedanke an Prometheus, den Menschenschöpfer der antiken Mythologie, zirkulierte, als Mary Shelley, ihr Dichter-Gatte Percy und der Schriftsteller-Superstar Lord Byron samt Leibarzt Polidori (der mit dem „Vampyr“ ebenfalls eine Gattung erfand) 1816 einen Schlechtwettersommer am Genfer See verbrachten, Spukgeschichten lasen und beschlossen, in dem Genre zu reüssieren. Das besaß zwar den Hautgout des Trivialen, aber auch den Reiz, an literarische Moden anzuknüpfen, an die Schauerromane von Horace Walpole, Ann Radcliffe oder Matthew G. Lewis. Und, vor allem, an die wissenschaftlichen Errungenschaften und philosophischen Fragen, die das aufklärerische Siècle des Lumières dem jungfräulichen Jahrhundert vererbt hatte. Wissenschaft, Technik und Industrie entwickelten sich rasant, der Wille zum Wissen (Foucault) ließ ungeahnte Früchte reifen, gleichzeitig drängte die später von Adorno und Horkheimer zugespitzte Frage ins Bewusstsein, ob Aufklärung und Fortschritt wirklich besseres Leben ermöglichten oder womöglich den Keim des Verderbens bereits in sich trugen.

Auch Mary Shelley versuchte sich an einer Antwort. Einerseits erschuf sie mit Victor Frankenstein den Idealtypus eines von Wissensdrang beseelten Forschers, der keine Skrupel kennt und alles tut, um herauszufinden, was die Welt und den Menschen im Innersten zusammenhält. Andererseits führt sein Erfolg, die Erkenntnis der Beschaffenheit des Menschen und das Wissen um das Geheimnis des Lebens, direkt in den Horror. Der junge Schweizer wird zum modernen Prometheus, nur erschafft er keinen neuen Menschen, sondern das Paradigma des furchteinflößenden Monsters. Das künstliche Geschöpf besteht aus Leichenteilen, besitzt übermenschliche Kräfte und mordet im Hand- respektive Halsumdrehen. Ikonisch wurde Frankensteins Monster durch Boris Karloffs Maske in der Verfilmung von 1932. Ein freundliches Monster wäre dann auch ein Paradoxon und kein Stoff für Horror, auch wenn 60er-Jahre-Serien wie „The Addams Family“ oder „The Munsters“ diese Variante durchspielten, nur eben als Komödie. Die Verwechslung Frankensteins mit seiner Kreatur geriet fortan zur wohl geläufigsten der Literaturgeschichte.

Der Dichter selbst galt als Prometheus, als Schöpfer

Boris Karloffs Maske in der Verfilmung von 1932 hat das Bild von Frankenstein geprägt.
Boris Karloffs Maske in der Verfilmung von 1932 hat das Bild von Frankenstein geprägt.

© WorldPhotos / Alamy Stock Photo

In seinem Streben ist Frankenstein mit Faust verwandt. Zwar kommt der Naturwissenschaftler ohne Alchemie, Magie und Hexenküche aus, gerät aber nicht weniger in Teufels Küche. Die Geister, die er rief, wird er nicht los. Goethe, ein Vitalist, der an einen allem Lebendigen zugrunde liegenden Lebenssaft glaubte, lässt im „Faust II“ chemisch einen Homunkulus entstehen. Im kulturgeschichtlichen Kontext ist auch der Golem der jüdischen Mystik von Bedeutung, eine aus Lehm oder Ton erschaffene Gestalt, ausgestattet mit übermenschlichen und mörderischen Fähigkeiten wie bei Mary Shelley. Der Golem, eine Art organischer Roboter, folgt Befehlen – wie in Achim von Arnims „Isabella von Ägypten“ (1812) oder in Gustav Meyrinks populärem Roman von 1915. Einer Mythos-Variante zufolge fertigte bereits Prometheus Menschen aus Lehm. In der Literatur ist der Titan eine widersprüchliche Figur, seit der Antike Betrüger (Hesiod) oder tragischer Held (Aischylos), Symbolfigur für den Sieg über die Natur, aber auch für menschliche Hybris. Spätestens seit dem Geniekult des Sturm und Drang wird das Dichten selbst als prometheische, also schöpferische, nahezu göttliche Fähigkeit aufgefasst. Es galt, mit niemand Geringerem als Gott zu wetteifern.

Was für die Literatur gilt, gilt auch für Philosophie und Naturwissenschaften. Mitte des 18. Jahrhunderts, in Zeiten radikaler Aufklärung, verfasste der Arzt und Denker La Mettrie die Abhandlung „Der Mensch eine Maschine“ (1748), beschrieb die Seele als Resultat körperlicher Funktionen und behauptete, es gebe nur eine rein materielle Substanz. Der Erfinder de Vaucanson konstruierte zeitgleich technisch hochkomplexe Automaten. Seine Mechanische Ente schlug mit den Flügeln und besaß einen halbwegs funktionierenden Verdauungsapparat. Gott hatte sich in so einem Umfeld erübrigt – Grund für Staat und Kirche, materialistische Werke zu indizieren.

Für angenehmen Grusel gehen wir heute ins Kino

Reiz und Resonanz aber blieben gewaltig, wie Jean Pauls „Maschinenmann“, E.T.A. Hoffmanns „Automate“ und „Sandmann“ zeigen. Wenn sich auch der Schachtürke genannte Roboter Wolfgang von Kempelens als Betrug herausstellte – darin steckte ein menschlicher Spieler –, seine Wirkung aufs Publikum verfehlte er so wenig wie die Experimente des italienischen Arztes Galvani, der mit Strom Froschschenkelmuskeln zur Kontraktion brachte. Der Galvanismus galt lange als biologische Disziplin – für Frankenstein wird er zur Basis. In Hörsälen erzeugten galvanistische Experimente unter Studenten sogenannten delightful horror (Edmund Burke), also angenehme Gruselgefühle. Heute gehen wir dafür ins Kino, in Ridley Scotts Alien-Film „Prometheus“ (2012) etwa, in dem Wissenschaftler, darunter ein den Menschen überlegener Android, nach Hinweisen auf extraterrestrische Ursprünge menschlichen Lebens forschen. Die Fortsetzung Alien Covenant (2017) zeigt die Hybris des Androiden, der sich als Schöpfer des Bösen und potenzierter Frankenstein-Verschnitt geriert.

Frankensteins Produkt ist nicht „von Natur aus“ bösartig. Mary Shelley knüpft an die anthropologischen Konzepte des Zivilisationskritikers Rousseau an, der für Prometheus, als Erfinder der Wissenschaft, wenig übrig hatte. Nein, der künstliche Mensch entwickelt sich erst zur Bestie, als ihn Gesellschaft und sein Schöpfer brutal zurückweisen. Die Frage, wieweit Forschung gehen darf, wurde und wird angesichts von DNA-Entschlüsselung und künstlicher Intelligenz breit diskutiert. Shelley thematisiert sie nicht nur explizit, ihr Roman nimmt beinahe Überlegungen späterer Ethik-Kommissionen vorweg: da, wo Frankenstein seinem Geschöpf eine Partnerin kreieren soll, sein Vorhaben aber „aus moralischen Gründen“ verwirft: Es könnte die Menschheit bedrohen. Die Frage, wer das wahre Monster ist – der Wissenschaftler oder seine Kreatur –, stellt sich nach wie vor.

Mary Shelley: Frankenstein oder der moderne Prometheus. Aus dem Englischen von Alexander Pechmann. Manesse Verlag, München 2017. 464 Seiten, 22 Euro. Premiere von „Frankenstein“, Tischlerei der Deutschen Oper Berlin, 30. Januar, 20 Uhr

Tobias Schwartz

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