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Szenen aus dem Leben Kaiser Konstantins in einem Fenster im Kölner Dom:

© akg-images / Erich Lessing

1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland: Im Fluss der Geschichte

Juden leben seit der Antike auf dem Gebiet, das heute Deutschland heißt. Erstmals erwähnt werden sie in Köln, damals eine pulsierende Vielvölkerstadt. Ein Besuch am Rhein.

Das Wasser gurgelt und gluckst. Seit Vorzeiten wälzt es sich durch die Landschaft, gefühlt einen halben Kilometer breit. Jetzt, da es viel geschneit hat in den Alpen, wirkt der Rhein noch majestätischer als sonst. Der Strom, er ist Ursprung und Quelle aller Entwicklung, aller Geschichte und aller Geschichten hier in Köln. Am linken Ufer des Flusses, auf einem noch heute vorhandenen, hochwassersicheren Hügel an einem schon lange trockengefallenen Flussarm, legten die Römer einige Jahrzehnte vor Christi Geburt eine Siedlung an. Als Geburtsstadt der Aggripina, Gattin des Kaisers Claudius, wurde sie 50 n. Chr. zur Oppidum, zur Stadt erhoben. Sie hieß fortan CCAA (Colonia Claudia Ara Agrippinensium), aus dem sich einige sprachgeschichtliche Umschlingungen später das deutsche Wort „Köln“ entwickelte.

Roms Zivilisation reichte jahrhundertelang hierher. Für Forscher bietet das einen immensen Vorteil: Anders als bei den rechtsrheinischen germanischen Stämmen existieren zur Geschichte des römischen Flussufers Schriftzeugnisse. Nur deshalb wissen wir, dass in der CCAA Juden gelebt haben. Wenn 2021 „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ gefeiert werden, so ist das wahr und falsch zugleich. Falsch, weil es in der Antike natürlich kein „Deutschland“ gegeben hat. Falsch auch, weil die jüdische Geschichte der Region sicher nicht 321 begonnen hat. Wahr aber, weil aus dem Dunkel der Geschichte eine Quelle herausragt, die auf jenes Jahr datiert ist und die die Präsenz von Juden in der CCAA zweifelsfrei belegt.

Der Kaiser gestattet, dass Juden in den Stadtrat berufen werden dürfen

Kaiser Konstantin gestattet in einem Edikt von 321 die Berufung von Juden in den Stadtrat – und zwar im gesamten Imperium Romanum. Es ist der älteste bekannte Beweis für die Existenz von Juden nördlich der Alpen. Wo der Text erlassen wurde, ist unbekannt, aber gerichtet ist er an die Kölner Stadtvertreter (decurionibus Agrippiniensibus), die sich zuvor mit einer entsprechenden Anfrage an den Herrscher gewandt hatten. Wie mit so vielen historischen Schriftstücken, die nicht das rettende Zeitalter des Buchdrucks erreicht haben, ist auch dieses nicht im Original erhalten, sondern nur, weil es immer und immer wieder abgeschrieben wurde. Der oströmische Kaiser Theodosius hat alle Gesetze, die von seinen Vorgängern seit Konstantin erlassen worden waren, im „Codex Theodosianus“ sammeln lassen, der 438 publiziert wurde. Das erwähnte Edikt steht im 16. und letzten Teil dieses selbst nur fragmentarisch überlieferten Codex, und die einzige erhaltene Abschrift davon – sie entstand im 6. Jahrhundert – befindet sich in der Biblioteca Apostolica Vaticana, der Vatikanischen Bibliothek in Rom.

Was für eine Stadt war Köln im 4. Jahrhundert? Eine trubelige, so viel ist sicher. Rund 50 000 Menschen sollen zu dieser Zeit dort gelebt haben, doch tatsächlich dürften sich viel mehr in den Straßen aufgehalten haben, es war wohl ein ständiges Kommen und Gehen. Der Hafen brachte Besucher, Händler, Legionäre und Veteranen. In Köln waren zwar direkt keine Garnisonen stationiert wie in Bonn, Neuss, Xanten oder Nimwegen, doch die Verwaltungszentrale der Provinz Germania inferior befand sich hier. Die Pax Romana war lange vorbei, die Grenze ständiger Bedrohung ausgesetzt. Konstantin selbst sah Rom nicht mehr als den Mittelpunkt des Reiches an und sollte nur neun Jahre nach dem Edikt von 321, im Jahr 330, seine prachtvolle neue Hauptstadt Konstantinopel eröffnen.

Juden waren in der Antike viel freier bei der Berufsausübung

Wie und auf welchen Wegen Juden ins Rheinland kamen, wissen wir nicht. „Es liegt nahe, dass es im Zuge von Truppenbewegungen geschah“, sagt Archäologe Thomas Otten. Er ist Direktor des noch zu eröffnenden Kölner Jüdischen Museums Miqua und hat sich viel mit den spärlichen Quellen befasst, die von jüdischem Leben nördlich der Alpen zeugen – und mit der Schwierigkeit, sie zu interpretieren. So kann im Grunde jedes alttestamentarische Motiv, das gefunden wird, jüdischen oder christlichen Ursprungs sein.

Vieles bleibt Spekulation, etwa der ganze Prozess der Auswanderung der Juden aus Judäa und der Beginn der Diaspora. „Das ist historisch unheimlich schwer zu fassen“, erklärt Otten. Begann es schon mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahr 70 oder erst mit dem Bar-Kochba-Aufstand der 130er Jahre? Was wir jedoch mit einiger Sicherheit sagen können: Die Juden, die damals am Rhein lebten, müssen vergleichsweise vermögend gewesen sein. Mit der Berufung in den Stadtrat waren Pflichten und Abgaben verbunden. Der Althistoriker Werner Eck, der die Buchreihe „Geschichte der Stadt Köln“ herausgibt und den ersten Band dazu verfasst hat, vermutet, dass sie Einkünfte aus Landwirtschaft bezogen. Und hier wird es interessant: Denn das berühmte Verbot, einem zunftgebundenen Gewerbe nachzugehen – weshalb viele Juden auf die Zinswirtschaft auswichen – ist kanonisches, also kirchliches Recht. Und damit viel späteren Datums. Im antiken Köln, und damit mutmaßlich auch an anderen Orten des Reiches, scheinen Juden relativ freie, gleichberechtigte Einwohner gewesen zu sein – ein Strang von unzähligen in der bunten Vielvölkerstadt Köln.

Thomas Otten setzt sich den Bauhelm auf. Es geht hinab in den Untergrund. Vor dem Kölner Rathaus, an der Straße Obenmarspforten (die heute noch darauf verweist, dass sich hier in der antiken Stadt das „Tor des Mars“ befunden hat), liegt eine der interessantesten Ausgrabungsstätten in einer deutschen Innenstadt. Seit 2009 wird das mittelalterliche Judenviertel freigelegt, das um das Jahr 1000 entstand – also in deutlich nachantiker Zeit, aber auf teilweise römischen Grundmauern. 2024 soll hier das Museum Miqua (es hat leider einen sehr komplizierten Namen, offiziell heißt es „Miqua. LVR-Jüdisches Museum im Archäologischen Quartier Köln“, wobei LVR für Landschaftsverband Rheinland steht) eröffnen, an authentischem Ort. Staub hängt in der Luft, Arbeiter zerkleinern mit einem Presslufthammer letzte Reste eines Betonpfeilers aus den 50er Jahren. Die zentralen Bauteile des künftigen Museums, die Synagoge und die Mikwe – ein Ritualbad, das auch heute noch, wie es der Ritus vorschreibt, mit frischem Grundwasser gefüllt ist – sind schon freigelegt.

Wir blicken auf einen Abwasserkanal aus römischer Zeit, der zum Rhein führt, und in die Keller mittelalterlicher Wohnhäuser. Da steht der Ofen einer Bäckerei aus dem 19. Jahrhundert: 2000 Jahre Stadtgeschichte überlagern sich auf engstem Ort. „Christen und Juden lebten hier quasi Mauer an Mauer“, erklärt Thomas Otten. Dieses Viertel, so viel wird deutlich, war nie ein Getto. Gettos kennt das Mittelalter nicht, sie entstehen erst in der Renaissance. „Das Zusammenleben in diesem Quartier kann man sich eher wie in Chinatown vorstellen“, so Otten. Juden bildeten die Mehrheit, waren aber längst nicht unter sich. Vertrautheit, aber auch Konkurrenzdenken, Feindschaft bis hin zu Ritualmordlegenden – alles existierte nebeneinander. Bis es 1424 auseinanderflog. Nach mehreren Pogromen wurden die Juden „auf alle Ewigkeit“ aus der Stadt verbannt. Wir wissen heute, dass das nicht das Ende war, dass die Geschichte jüdischen Lebens in Köln und in ganz Deutschland weiterging. Erzählen wird sie auch eine Wanderausstellung des Miqua, die am 2. März in der Alten Synagoge in Essen eröffnet wird.

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