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Der französische Schriftsteller Marcel Proust im Alter von ca. 35 Jahren.

© imago/Leemage

100. Todestag von Marcel Proust: Der Tee, das Brot und die Pflastersteine

Eine Empfindung von Glück: Die berühmten Erinnerungskaskaden von Marcel Proust gab es schon in seinem frühen Romanessay „Gegen Saint-Beuve“.

Wer Marcel Proust begeistert liest, wieder und wieder, konzentriert sich in der Regel und durchaus zu Recht auf sein Hauptwerk, die „Recherche“, auf die Bände, die mit „Combray“ ihren Anfang nehmen und mit „Die wiedergefundene Zeit“ enden.

Das Restwerk, die vielen, vielen Briefe, die frühen Erzählungen, die Essays, der abgebrochene Romanversuch „Jean Santeuil“ und der Romanessay „Gegen Saint-Beuve“, all das ist mehr was für Spezialisten, für die obsessiven Proust-Leserinnen und -Leser.

Dabei weisen gerade die beiden letzteren Bücher, die erst lange nach Prousts Tod in den fünfziger Jahren erschienen und von diesem vor seinem Hauptwerk begonnen wurden, motivisch und thematisch schon tief in die Romanwelt der „Recherche“.

Allein bei der Lektüre der ersten Entwürfe des „Sainte-Beuve“-Essays, der Proust 1908 nach seinen Auseinandersetzungen mit dem von ihm nicht geschätzten Großkritiker immer erzählerischer und zu einem autofiktionalen Gespräch mit seiner Mutter geriet, hat man genau die Empfindungen, (so man die „Recherche“ kennt), die Proust versucht zu beschreiben, die sich für ihn als unwillkürliche Erinnerung darstellt.

Vergessene Wege

Gleich zu Beginn ist die Rede davon, dass er vom Schnee durchfroren von einem Spaziergang nach Hause zurückkehrt, zu lesen beginnt und von seiner Köchin einen Tee bekommt, den er sonst nie trinkt. Und dann beginnt der Madeleine-Moment, den alle Welt ja so gut kennt.

Nur ist es hier geröstetes Brot, das die Erinnerungskaskade auslöst: „Ich ließ das Brot in der Tasse aufweichen, und in dem Augenblick, als ich es in den Mund steckte und an meinem Gaumen die Empfindung seiner vom Teegeschmack durchdrungenen Weichheit hatte, verspürte ich eine Verwirrung, Gerüche von Geranien, von Orangenbäumen, eine Empfindung von außergewöhnlichem Licht, von Glück.“

Danach erinnert er sich an Sommer auf dem Land, an den Großvater, der immer Zwieback in seinen Tee tauchte, und dieser Zwieback im Verein mit dem jetzt genossenen Brot lässt ihn den damaligen Garten „mit seinen vergessenen Wegen“ vor Augen erstehen, „Beet auf Beet, mit all seinen Blumen in der kleinen Tasse Tee, gleich jenen japanischen Blumen, die erst im Wasser aufgehen.“

In Ruhe die Rosen betrachten

Gleich im Anschluss folgt der Pflastersteinmoment aus Venedig, der in „Die wiedergefundene Zeit“ zur Wiedervorlage kommt, der Versuch, eine Landschaft aus einem fahrenden Zug fest in den Blick zu bekommen, ein Löffelschlagen, und auch der Anblick einer Baumgruppe bei einem Spaziergang, der in „Schatten junger Mädchenblüte“ ausgearbeitet wird.

Um die Bäume in Ruhe anschauen zu können lässt Proust seine Freunde vorausgehen. Auch das kennt man hinreichend von ihm: Bei einem Besuch auf Schloss Réveillon etwa bat er Reynaldo Hahn, ihn allein zu lassen, und dieser berichtete, fünf Minuten später hätte Proust noch immer dort gestanden.

„Gegen Saint-Beuve“ (und sicher auch „Jean Santeuil“) ist also bestens als Vor- wie als Nachlektüre der „Recherche“ geeignet, und die vielen Déjà-Vues im letzteren Fall haben selbst etwas Proustisches.

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