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Die Aufführung von Mozarts "Zauberflöte" war ein Höhepunkt der Chorgeschichte.

© Mozart-Chor

100 Jahre Berliner Mozart-Chor: Vom Singen und anderen Dingen

Ein junger Musiklehrer beschließ 1922, mit Kindern und Jugendlichen zu singen. Ein Buch erzählt jetzt die bewegte Geschichte des Berliner Mozart-Chores.

Er gehört nicht zu den berühmten Berliner Chören, aber er ist einer der traditionsreichsten der Stadt. Denn er ist der älteste, sowohl konfessionslose als auch gemischte Kinder- und Jugendchor weit und breit – mindestens in Deutschland, vielleicht sogar in ganz Europa, wie Sabine Fenske in der Festschrift zum 100. Gründungsjubiläum vermutet (Von Weißensee nach Wilmersdorf. 100 Jahre Berliner Mozart-Chor“, herausgegeben von Sabine Fenske, VBB Berlin 2022, 256 Seiten, 25 Euro).

1963, anlässlich des 2000. Konzerts des Berliner Mozart-Chors, erklärte der Tagesspiegel seinen Leser:innen, warum dieses Ensemble „vielen Berlinern unbekannt geblieben“ ist. Von Anfang an habe der Gründer Erich Steffen nämlich Wert darauf gelegt, so viel wie möglich auf Reisen zu gehen: „Die Jungen und Mädchen - sie sind zwischen zehn und 21 Jahren alt - sangen in Großstädten des In- und Auslandes, standen aber auch auf knarrenden Bühnen von Dorfgasthäusern. Denn genauso wichtig, wie das musikalische Erlebnis war stets „das Kennenlernen von Land und Leuten“.

Von Anfang an wird viel gereist

Den 22-jährigen Lehrer Erich Steffen treiben nicht nur musikalische, sondern auch sozialpädagogische Überlegungen an, als er 1922 die erste Probe des Mozart-Chors an seiner Schule in Weißensee abhält. Er möchte die Jugend, die nach dem verlorenen Weltkrieg oft sich selbst überlassen ist, weil ihre Eltern existentielle Sorgen haben, von der Straße holen, ihnen eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung anbieten.

Das spricht sich schnell rum, bei der ersten Konzertreise nach Mecklenburg und Pommern ist der Mozart-Chor im Sommer 1923 schon 120 Stimmen stark. Die Mitglieder übernachten an jedem Gastspielort bei Familien. Auch das soll ihnen helfen, zu selbständigen, verantwortungsvollen Persönlichkeiten heranzureifen. Das Konzertrepertoire besteht vor allem aus Volksliedern, aber auch anspruchsvollere Chorsätze des 16. bis 20. Jahrhunderts werden gesungen, stets auswendig, damit alle Augen auf den Chorleiter und seine expressive Gestik gerichtet sein können.

Die Nazis bemächtigen sich des Chores

Von „Glockenklang aus Kinderbrust“ schwärmen die Zeitungen im ganzen Reich, vom warmen Ton des Ensembles, der beseelten Natürlichkeit des Vortrags, dem zarten Pianissimo. In der Tat betont Steffen immer wieder, dass er keine „jungen Artisten züchten“ möchte, so wie das bei den berühmten Knabenchören in Leipzig oder Dresden der Fall ist.

Der gute Ruf des Mozart-Chores weckt nach 1933 allerdings das Interesse der NS-Jugendorganisationen, Steffen möchte das Ensemble auflösen, um sich nicht vereinnahmen zu lassen, doch die Kinder wollen sich nicht trennen, treten lieber geschlossen der HJ bei. Und werden bald als „Rundfunkspielschar Deutschlandsender“ zu Radiostars, können weite Reisen unternehmen, bis nach Italien, wo sie 1942 in Florenz bei der „Kulturkundgebung der europäischen Jugend“ auftreten.

Als die Bombardierungen Berlins zunehmen, wird der Chor kollektiv im Rahmen der Kinderlandverschickung nach Küstrin an der Oder evakuiert. Ulla Köhler übernimmt dort die Betreuung der Kinder – und kann im Januar 1945 noch rechtzeitig mit ihnen per Zug zurück nach Berlin gelangen, bevor die russischen Truppen Küstrin erobern.

Der USA-Trip ist ein Höhepunkt der Chorgeschichte

Erich Steffen gerät in Gefangenschaft, kann zunächst entkommen und versucht nach Kriegsende, den Chor wieder zusammenzubringen. Dann jedoch wird er als Kollaborateur denunziert, in einem russischen Gefangenenlager interniert. 1950 ist er frei, tritt wieder in den Schuldienst ein, jetzt in Wilmersdorf, an der Volksschule am Nikolsburger Platz, und baut den Chor neu auf. Zum Probenort wird erst das Marie-Curie-Gymnasium in der Weimarischen Straße, später die Birger-Forell-Schule um die Ecke.

Beim ersten Nachkriegskonzert im Jagdschloss Grunewald wirkt als Solist ein Bariton mit, der 1940 als Knabe in den Mozart-Chor gekommen war: Hermann Prey, der bald zu den großen deutschen Opernstars gehören wird. Im Jahr darauf gehen 65 Jungen und Mädchen auch wieder als „singende Sendboten“ Berlin auf Tour, zunächst noch in Deutschland, ab 1958 dann auch im Ausland. Höhepunkt ist ein USA-Trip 1967 mit 34 Auftritten in 27 Städten. Und auch auf dem Plattenmarkt sind die Mozartianer erfolgreich: Ihr Weihnachtslieder-Album verkauft sich mehr als eine Million Mal.

Sabine Fenske leitet den Mozart-Chor seit 1996.
Sabine Fenske leitet den Mozart-Chor seit 1996.

© Mozart-Chor

Nach 52 Jahren muss Erich Steffen 1973 die Chorleitung gesundheitsbedingt abgeben, im Jahr darauf stirbt er. Sein Nachfolger wird ein Ehemaliger, Reinhard Stollreiter, der 1955 zum Mozart-Chor gestoßen war, später Posaune studierte, dann als Musikdramaturg arbeitete, Toningenieur beim SFB wurde und schließlich Professor an der Pädagogischen Hochschule Berlin. Er sorgt für neue künstlerische Qualität, so dass der Chor ab 1987 regelmäßig im frisch eröffneten Kammermusiksaal der Philharmonie auftreten kann. Das Weihnachtskonzert dort am 25. Dezember wird zum festen Termin für alle Mitglieder und ihre Familien.

1996 sagt Stollreiter Adieu, seitdem leitet Sabine Fenske die Geschicke des Chores. Sie hat jetzt auch die Chronik herausgegeben, mit vielen historischen Dokumenten und persönlichen Erinnerungen der Ehemaligen. „Vom Fünfjährigen bis zum Dreißigjährigen kommen sie alle zu mir, für die lustigsten Kinderlieder bis zur tiefernsten Motette“ schreibt sie im Jubiläumsbuch, „und ich liebe es!“ Auch Angela Merkel war höchst angetan, als sie die Mozart-Kids 2010 bei einer Weihnachtsfeier der CDU/CSU-Bundestagsfraktion erlebte. 2018 wurde der Chor auf ihren Wunsch erneut eingeladen – und wieder stimmte die Kanzlerin textsicher bei so manchem Lied ein.

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