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Eine Mahnwache erinnert an den Tod von Oury Jalloh. Der Todesfall erhielt nach der Ermordung von George Floyd neue Aufmerksamkeit.

© Christian Schroedter/Imago

Gutachten im Fall Oury Jalloh: Der Schmerz verjährt nicht

Oury Jalloh starb 2005 im Polizeigewahrsam, nun liegt das Gutachten der Untersuchung vor. Die Schuldigen kommen ungestraft davon.

Von Caroline Fetscher

Aufklärung wird es vermutlich nie geben. Zu der bitteren Erkenntnis, einer resignativen Einsicht, kommt das am Freitag vorgelegte Gutachten über den Fall des abgelehnten Asylbewerbers Oury Jalloh, der 2005 in einer Arrestzelle der Polizei in Dessau den Feuertod starb.

Unglaubhaft, fragwürdig erschien von Beginn an, was die Behörden als Fakten angeboten hatten. Ein alkoholisierter Mann, fixiert auf einem Bettgestell, soll seine Matratze selbst angezündet haben, auf der er starb? Ohne die Hände frei bewegen zu können? Es braucht keine Brandgutachter, sondern nur den Verstand von Grundschülern, um das widersinnig zu finden. Und auch dafür, dass die Feuermelder der Zelle abgeschaltet waren, fand sich keine schlüssige Erklärung.

Das 300 Seiten starke Gutachten der beiden Sonderberater des Landtags, des juristischen Experten Jerzy Montag und des früheren Münchner Generalstaatsanwalt Manfred Nötzel, gesagt, dass so gut wie alle polizeilichen Schritte und Maßnahmen von der Festnahme bis zum Tod Jallohs fehlerhaft oder rechtswidrig gewesen seien. Sonst wäre der Mann aus Sierra Leone vermutlich noch am Leben. Doch neue Ermittlungen können, nach all den Jahren, nicht aufgenommen werden.

Parallelen zu den Todesfällen in den USA

Unheimliche Parallelen weist der Fall Jalloh mit der aktuell diskutierten rassistischen Polizeigewalt in den Vereinigten Staaten auf. Immer wieder kommt es dort zu Schüssen weißer Polizeibeamter gegen Schwarze, zuletzt in der Stadt Kenosha im Bundesstaat Wisconsin. Dort schoss ein Polizist dem 29 Jahre alten Jacob Blake vor den Augen seiner Kinder siebenmal in den Rücken. Immerhin ist klar, wer die Tat beging, sie wurde auf Video festgehalten.

Aber oft bleiben Delikte am Menschen unaufgeklärt, wie im Fall Jalloh. Ob begangen aus Hass, Rassismus, anderen Ressentiments oder im Affekt – Täterinnen und Täter werden nie zur Rechenschaft gezogen. Ort der Wahrheit bleibt dann nur noch das Gewissen der Täter. Doch das Faktum enthält zumindest eine soziale, emotionale Genugtuung. Gewissen kommt von Gewissheit, von Wissen.

Den Tätern war damals und ist heute bewusst, was sie getan, unterlassen, verschleiert, bagatellisiert und vertuscht haben. Sie wissen, wo und wie sie gehandelt, misshandelt, gelogen haben. Sie leben mit dieser privaten Wahrheit jeden Tag und jede Nacht im Schlaf. Ihre Träume dürften die Angst vor der Entdeckung verarbeiten, ihre Albträume den Getöteten zum Leben erwecken, so wie die affektgeladene Dummheit der Tat und die Panik danach.

Die Täter verdrängen ihre Schuld

Mit ihrer Tat tun sich die Täterin, der Täter nämlich auch selbst etwas an. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu“, lautet der berühmte Spruch, in dem sich die Wahrheit als moralisches Postulat verkleidet: Was du anderen antust, das fügst du auch dir selbst zu. Täterinnen und Täter spalten emotional ab, während sie das Recht brechen, indem sie einen anderen Menschen quälen, foltern oder töten. Ihrer Logik folgend behaupten sie vor sich: „Der, die Andere hat es nicht besser verdient, ich bin wichtiger, mächtiger, berechtigter. Ich darf strafen, plagen, rächen.“

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Im Binnenraum der Psyche zerlegen sie sich in zwei Teile, in ein Ich und ein Anderes. Die Tat scheint zu versprechen: „Jetzt hat der, die Andere den Schmerz, das Leid, das Elend. Nicht mehr ich.“ Nahezu in allen Fällen repräsentiert das Andere einen Anteil des Ich, den dieses nicht anerkennt oder kennen will.

Pädokriminelle und Folterer wurden fast immer selber missachtet und misshandelt, Rassisten kämpfen mit Gefühlen von Minderwertigkeit, Geringschätzung und Ausgegrenztsein. Diese verleugneten Anteile projizieren sie auf „Andere“. Was man ihnen angetan hat, zahlen sie diesen heim. Und damit sich selber – dem abgespaltenen, beschädigten Gelände in der eigenen Psyche. So bleiben die Spuren des Folterns auch bei denen, die gefoltert haben, die Ängste der Opfer auch bei den Täterinnen und Tätern.

Nichts macht Oury Jalloh wieder lebendig

Wo es heißt, entkommene Täter oder Täterinnen lebten „unbehelligt und sorgenfrei“ weiter, darf man getrost annehmen, dass dem nicht so ist. Im Inneren treibt sie der Spuk um, das Grauen, das sie erlebt und weitergereicht haben. Das Abspalten, umso intensiver, je näher es der Wahrheit rückt, kostet die Psyche enorme Kraft, die für wahres, erfüllendes Glück nicht zur Verfügung steht.

Da das Selbst stets von der Ahnung dieser Abspaltung bedroht wird, entwickeln fast alle Kriminellen, sofern sie nicht vollends pathologisch sind, was Sigmund Freud das „Strafbedürfnis“ nennt. Typisches Symptom dafür ist der sprichwörtliche Drang der Rückkehr zum Tatort: Eigentlich will da jemand nachträglich erwischt werden, damit die soziale Ordnung wieder ins Lot kommt.

Im Fall Oury Jalloh wurde niemand erwischt. Der Tatort ist verkohlt, der Rauch ist verschwunden, der Tote beerdigt. Die Täter leben weiter. Aber ihr Gewissen verjährt nicht.

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