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Berlinale-Chef Dieter Kosslick.

© Mike Wolff

Dieter Kosslick: "Ich bin geübt im Desaster-Beruf"

Filmfieber in der Hauptstadt: in Kürze beginnt die Berlinale 2012. Festivalchef Dieter Kosslick spricht mit dem Tagesspiegel über Aufbrüche und Anbauten – und das Oscar-Problem.

Herr Kosslick, 2011 war ein bewegtes Jahr. Arabellion, Fukushima, Occupy: Wie schlägt sich das auf der Berlinale nieder?

Umbrüche sind ein großes Thema, vom Zwei-Minuten-Film über die Occupy-Bewegung bis zum Arabischen Frühling mit einem Dutzend Beiträgen. Wir haben sechs Veranstaltungen mit Filmschaffenden aus Ägypten, Syrien und Libanon organisiert. Auch an unserer neuen Spielstätte, dem Haus der Berliner Festspiele, zeigen wir Dokumente des Aufbruchs.

Ist das nicht ein etwas simpler Festivalreflex geworden, verwackelte Handyaufnahmen vom Tahrir-Platz zu zeigen?

Protagonisten des Aufbruchs werden da sein, vor allem Frauen, Aktivistinnen, Bloggerinnen, Journalistinnen. Wir wollen wissen, was Künstler in politisch unruhigen Zeiten ausrichten können. Was geschieht, wenn sie sich einmischen?

Zur Eröffnung läuft Benoit Jacquots Historienfilm „Les Adieux à la reine“ über den Vorabend der Französischen Revolution. Wird’s wieder ein politisches Festival?

Menschenrechtsverletzungen sind auch im Panorama Thema, etwa in zwei Filmen über die Misshandlung von Demonstranten beim G8-Gipfel in Genua. Im Wettbewerb erzählt Bence Fliegauf in „Just the Wind“ vom brutalen Umgang mit Roma im heutigen Ungarn. Wenn ich es schaffe, fahre ich diese Woche zur Protestdemonstration nach Budapest, manchmal muss auch ein Festivaldirektor auf die Straße gehen. Aber es gibt auch Genrefilme, Komödien und Thriller wie Steven Soderberghs „Haywire“ mit Antonio Banderas und Michael Fassbender.

Viele Filme erzählen aus der Sicht der Betroffenen. Klingt nach Sozialdrama.

Weil sich schwer in eine Formel fassen lässt, dass ungewöhnlich eindringlich aus persönlicher Warte erzählt wird. Das ist bei den deutschen Wettbewerbsfilmen von Christian Petzold, Hans-Christian Schmid und Matthias Glasner der Fall, aber auch bei „Rebelle“, der vom Kongo aus Sicht einer Kindersoldatin erzählt.

Apropos deutsch: Warum läuft Helmut Dietls lang erwartete Berlin-Satire „Zettl“ nicht auf der Berlinale, sondern startet jetzt, eine Woche vorher?

Wir haben angefragt, bevor er fertig war, aber der Start war bereits für vor der Berlinale geplant. Apropos München: Doris Dörries „Glück“, nach einer Geschichte aus Ferdinand von Schirachs Buch „Verbrechen“, läuft als Weltpremiere.

Worauf freuen Sie sich denn besonders?

Auf Stephen Daldrys oscarnominierte Verfilmung des 9/11-Romans „Extrem laut und unglaublich nah“. Auf Meryl Streep und ihre „Iron Lady“. Auf meine Freunde aus Italien, die Taviani-Brüder, die mit „Cesare deve morire“ am Wettbewerb teilnehmen, nachdem sie 2007 mit ihrem Film „Das Haus der Lerchen“ über den armenischen Völkermord hier waren. Auf Angelina Jolie und ihr Regiedebüt.

Und was macht Ihnen Bauchschmerzen?

Im Moment nichts. Die Oscarnominierungen sehe ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Dass acht Berlinale-Filme von 2011 und 2012 nominiert sind, ist großartig. Aber dann denke ich: Die müssen jetzt zu den Oscardinners, hoffentlich bedeutet das keine Absagen. Zum Glück bin ich als Festivaldirektor geübt im Desaster-Beruf.

An dem Dilemma, dass hochkarätige US-Filme seit der Vorverlegung der Oscars im Spätherbst starten, und die Berlinale als Marketinginstrument dafür ausgedient hat, können Sie aber nichts ändern.

Ich habe in Los Angeles mit den beiden Chefinnen der Oscar-Academy gesprochen. Die wissen genau, welche Folgen der Oscar-Termin für uns hat, und bedauern das sehr. Zur Zeit ist ja im Gespräch, dass er noch weiter vorverlegt wird.

Gut oder schlecht für die Berlinale?

Da streiten sich die Geister. Noch ist unklar, ob und wann der Termin sich ändert. Also ist es müßig, darüber zu spekulieren. Im Übrigen betrifft das vier oder fünf Filme, mehr nicht. Auch wenn die Amerikaner wichtig fürs Gesamtprofil sind.

Man muss nur ins aktuelle Kinoprogramm schauen: „The Descendants“, „J. Edgar“, Scorseses „Hugo Cabret“, der am Tag der Berlinale-Eröffnung startet, das wären tolle Festivalkandidaten gewesen.

Scorseses 3-D-Märchen über den Kinopionier Georges Méliès ist ein wunderbarer Film, der gut zur Retro „100 Jahre Babelsberg“ gepasst hätte. Scorsese wäre auch gerne gekommen, aber stellen Sie sich vor, wir hätten mit ihm eröffnet! Dann hätten die scharf gespitzten Federn im Tagesspiegel geschrieben, dass wir einen Eröffnungsfilm präsentieren, der außer in Deutschland schon überall gelaufen ist.

Es geht nicht um Schuldzuweisungen, sondern um Strukturelles. Filme kommen weltweit immer gleichzeitiger ins Kino. Ein Problem fürs Festival?

Der Spielraum wird enger. Filme können nicht mehr monatelang auf ein Festival warten. Ich habe George Clooney bei der Weltpremiere von „The Descendants“ Anfang September auf dem Telluride Festival getroffen – vor fünf Monaten. Auch um der Piraterie das Wasser abzugraben, starten Filme gern international. Wenn amerikanische Produktionen zeitgleich auch in England und dem zunehmend wichtigen Koproduktionsland Russland anlaufen, kommen sie für den Wettbewerb eines A-Festivals nicht mehr infrage, da sie außerhalb ihres Ursprungslands gelaufen sind. Je mehr der Vertrieb über Internetdownloads läuft, desto kniffliger wird das. Trotzdem kann man ein attraktives Festivalprogramm auf die Beine stellen, mit großer Hollywoodbeteiligung.

Nur die hochkarätigen europäischen Autorenfilmer, Lars von Trier, Kaurismäki oder Almodóvar wollen halt alle nach Cannes. Für Berlin sind sie verloren.

Nein, das ist falsch. Natürlich gibt es Filme, die wir wegen Cannes nicht bekommen, die Titel können wir spätestens in der zweiten Festivalwoche in der Fachpresse nachlesen. Ob die dort wirklich laufen werden, sehen wir dann erst im Mai.

Stephen Frears’ Las-Vegas-Film „Lay the Favourite“ wäre für die Berlinale rechtzeitig fertig gewesen.

Er wurde gerade in Sundance uraufgeführt. Mein alter Kumpel Stephen Frears, der amerikanische und der britische Produzent sind uns engstens verbunden. Aber es gilt nun mal die Regel, dass englischsprachige Filme, die im SundanceWettbewerb laufen, bei uns nicht in den Wettbewerb dürfen. Miranda Julys „The Future“ 2011 soll da die Ausnahme bleiben. Unser Wettbewerb ist etwas risikofreudiger als andere, dazu stehe ich.

Die Berlinale wird immer unübersichtlicher. Selbst ich als alter Festivalhase blicke vor lauter Nebenreihen kaum noch durch.

Der Kern des Festivals ist nicht unübersichtlich. Seit 62 Jahren rollen wir den roten Teppich für den Wettbewerb aus, dazu gibt’s das Forum und das Panorama, die seit 2001 bestens zusammenarbeiten. Vielleicht ist es im iPod-Zeitalter an der Zeit, am alten Tanker Berlinale etwas zu verändern. Damit haben wir vor zehn Jahren angefangen. Erfolgreich, meine ich.

Bisher haben Sie die Berlinale nicht umgebaut, sondern kräftig angebaut.

Wir sind ein Full-Service-Festival, mit neuen Reihen, die uns inzwischen weltweit nachgemacht werden, vor allem die Reihe „Generation“ und der Talent Campus, der zehn Jahre alt wird. Die Nachwuchspflege gedeiht hervorragend, das Gleiche gilt für die Filmwirtschaft als die andere Basis für jedes Festival. Unser Markt expandiert; Koproduktionsmarkt, World Cinema Fund – alles im Aufwind. Und wer das Kulinarische Kino nicht mag, braucht ja nicht hinzugehen. Die 2000 Karten dafür sind im Nu weg. Nein, für die Zukunft der Berlinale schiele ich nicht auf andere Festivals. Wie sagte Truffaut? Du kannst niemanden überholen, wenn du in seine Fußstapfen trittst.

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