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Unter Waffen. 200 000 Palästinenser leben in Hebron, 800 jüdische Siedler – und dazwischen 650 Soldaten.

© imago/ZUMA Press

Konflikt im Nahen Osten: Kein Land in Sicht

Ahmed ist 17 und in Hebron aufgewachsen – und träumt wie viele Palästinenser vom eigenen Staat. Seit Donald Trump Nahostpolitik macht, scheint der weiter weg denn je.

Auf einem Hügel in Hebron klettert Ahmed eine Leiter hinauf und zeigt der Stadt, dass die Palästinenser nicht aufgegeben haben. Unten im Tal scheint die Nachmittagssonne auf den geteilten Stadtkern mit seinen Checkpoints und Soldaten, auf israelisch und palästinensisch kontrollierte Zonen, auf gesperrte Straßen und Orte, an denen Menschen wie der 17-jährige Ahmed Azze keinen Zutritt haben. Doch hier oben weht für ihn der Wind der Freiheit. Ahmed steht auf der obersten Sprosse, umklammert einen Fahnenmast und hisst das weiß-rot-schwarzgrünfarbene Stück Nylonstoff, die palästinensische Nationalflagge. Die Männer, die unten die Leiter festhalten, stimmen die Hymne der Palästinenser an: „Mein Land, das Land meiner Großväter“, grölen sie. Und am Ende, als ob sie versuchen, es bis in die hintersten Winkel von Hebron zu brüllen: „From the river to the sea, Palestine will be free.“

Vom Fluss – gemeint ist der Jordan – bis zum Mittelmeer wird Palästina frei sein. Das würde zwar bedeuten, dass es Israel dann nicht mehr gäbe. Doch das sei nur so ein Slogan, erklärt Issa Amro, der Initiator der Veranstaltung und Gründer der palästinensischen Jugendorganisation „Youth Against Settlements“. Zunächst mal seien sie gegen die Siedler und die Soldaten, hier in Hebron und im gesamten Westjordanland.

Auf dem Hügel hat der 36-jährige Amro ein Zentrum für Jugendliche aus Hebron errichtet. Seit 2007 protestieren sie gegen die Siedler und die Besatzung, halten mit ihren Kameras fest, wenn Soldaten am Checkpoint Palästinenser schikanieren oder Jugendliche festnehmen. Messer, Pistolen, Steine – jegliche Waffen sind aber tabu. „Wird sind absolut gewaltlos“, sagt Issa, der mit seinen Freunden in Hebron groß geworden ist. Jahrelang hat man den palästinensischen Jugendlichen gesagt, dass sie irgendwann einmal einen eigenen Staat Palästina bekommen werden. Zwar nicht bis zum Mittelmeer, aber immerhin. Jahrelang war dies das Mantra beider Konfliktparteien und verschiedener internationaler Regierungen, auch der USA. Doch das scheint sich gerade zu ändern.

Trump hat mir der Forderung nach einer Zwei-Staaten-Lösung gebrochen

Als Israels Premierminister Benjamin Netanjahu vergangene Woche in Washington zu Besuch war, hat Präsident Donald Trump zu verstehen gegeben, er halte die Gründung eines Palästinenserstaates nicht für eine zwingende Voraussetzung dafür, um Frieden im Nahen Osten zu schaffen. Er empfahl Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten. „Mir gefällt diejenige Lösung, die den beiden Parteien gefällt“, sagte Trump. Er brach damit mit jener, Zwei-Staaten-Lösung genannten Forderung, die alle US-Präsidenten der vergangenen zwei Jahrzehnte immer wieder erhoben haben.

An kaum einem anderen Ort wird deutlich, wie weit diese beiden Seiten, die hier in Hebron so eng zusammenwohnen, auseinanderliegen. Während die einen nun befürchten, dass ihr Traum vom eigenen Staat zerplatzen könnte, sehen die anderen im US-Präsidenten den Messias, mit dem es nun endlich möglich scheint, die Besiedelung des Westjordanlandes weiter voranzutreiben, und später auch die Annektierung.

Mehr als 200 000 Palästinenser leben in dieser Stadt im Süden des Westjordanlandes. Und dazwischen: rund 800 jüdische Siedler, die von gut 650 Soldaten bewacht werden. Einer dieser Siedler steht an diesem Nachmittag vor dem „Grab der Patriarchen“ unten im Tal und erklärt einer Gruppe von Soldaten, dass das der Geburtsort des Judentums ist. Der Mann mit Kippa, Bart und Softshelljacke, der da spricht, ist Noam Arnon. Er lebt seit 23 Jahren in Hebron und ist einer der Sprecher der jüdischen Gemeinschaft. Und: Noam ist Stadtführer.

Keiner soll das Gefühl haben, eingesperrt zu sein

Heute ist eine Gruppe Reservisten gekommen – junge Männer, die ihren Pflichtdienst beendet haben. „Israel hat hier seinen Ursprung“, sagt Noam. Egal, von woher auf der Welt Juden kämen, gleich ihrer Kultur, ihrer Sprache, ihrer Hautfarbe, ob aus Äthiopien, Neuseeland oder dem Jemen: „Wir haben hier eine gemeinsame Mutter und einen gemeinsamen Vater“ – Abraham und Sara. Die Bibel mag mit der Geschichte von Adam und Eva anfangen, doch erst mit Abraham beginnt das Judentum. Er gilt als Stammvater, wanderte auf Gottes Geheiß ins Gelobte Land. Er, seine Frau und seine Nachfahren sollen hier beerdigt sein. Für Noam Arnon besteht also kein Zweifel daran, dass Hebron dem jüdischen Volk und damit zu Israel gehört.

Im Zeichen der Fahne. Ahmed Azze protestiert gegen Siedler und Soldaten.
Im Zeichen der Fahne. Ahmed Azze protestiert gegen Siedler und Soldaten.

© Kaufmann

Genauso könnten an diesem Ort auch die Palästinenser argumentieren. Auch ihnen, jedenfalls den Muslimen unter ihnen, bedeutet der Ort viel. Sie haben am „Grab der Patriarchen“ ihren eigenen Zugang und eine Moschee. Abraham ist auch ihr Stammvater.

Die Reservisten sind gegangen, und Noam Arnon sitzt wieder in seinem Büro. Es ist im Untergeschoss eines Hauses nahe dem „Grab der Patriarchen“ untergebracht, wo die jüdische Gemeinschaft von Hebron ihren Sitz hat. Draußen vor der Tür spielen die Jungen und Mädchen eines Kindergartens. Zwar stehen Soldaten auffällig und sichtbar vorne an der Straße. Doch der Kindergarten selbst hat keine Wachleute, keine Sicherheitstüren und Zäune. „Freiheit ist eine Sache der Erziehung“, sagt Noam Arnon. Keiner soll das Gefühl haben, eingesperrt oder in Gefahr zu sein. Und so trägt auch Arnon, anders als andere Siedler, keine Waffe bei sich. „Schließlich zahle ich Steuern. Es ist die Aufgabe des Staates, mich zu beschützen.“

Was wird aus den Palästinensern, wenn das Westjordanland eines Tages zu Israel gehört?

Arnons Büro ist klein und vollgestopft mit Büchern und Ordnern, sein Schreibtisch übersät von einem Haufen Unterlagen. Der Tisch, die Regale, die Wandfarbe: Nichts hier ist neu, alles dient nur seinem Zweck. Arnon, 62 Jahre alt, ist ein stämmiger Mann mit rundem Gesicht, der sich kein Lächeln entlocken lässt. Er wirkt mit seiner tiefen Stimme wie ein Bär, der mürrisch brummt. „Die Zwei-Staaten-Lösung war von Anfang an nur eine Phrase, leer und ohne Chance auf Verwirklichung“, sagt Arnon. Schließlich könnte niemand mit normalem Menschenverstand wollen, dass Israel den Feind direkt an seiner Grenze hat. Besser sei es, vor Ort zu sein – als Herr im Hause also – und die Lage zu kontrollieren.

Und endlich habe man nun mit Trump jemanden, dessen Team stärker pro-israelisch sei und die Rechte der Juden im Heiligen Land eher anerkenne als Israels Premierminister Netanjahu. Doch wenn das Westjordanland – Arnon nennt es Judäa und Samaria – eines Tages zu Israel gehört, was wird dann mit den Palästinensern? Verschwinden werden sie dadurch nicht. Aber das hält Arnon auch nicht für nötig. So radikal seine Vorstellungen klingen – ein böses Wort über die Palästinenser rutscht ihm so leicht nicht über die Lippen. Er spricht Arabisch und trifft sich, so erzählt er, regelmäßig mit einigen arabischen Anführern in Hebron.

Ahmed ist einer, der noch Hoffnung hat

Es störe ihn auch nicht, dass die Muslime ebenfalls zum Grab Abrahams kommen und dort in der Moschee beten, sagt er. Das Grab, die Stadt Hebron, „das hier kann und wird, so glaube ich, der Ort sein, an dem ein neues Konzept von Frieden entsteht“, sagt Arnon. Aber eben nur dann, wenn die arabische Seite einem Staat Israel zustimme. „Wenn sie dem Staat gegenüber loyal sind, können sie Bürger werden.“ Für alle anderen gebe es dann eine Greencard: eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, ohne Recht, sich am politischen System und den Wahlen beteiligen zu können. „In den USA leben auch fast 13 Millionen Menschen mit einer Greencard und Millionen andere träumen davon. Überhaupt haben die meisten Araber im Nahen Osten weniger Menschenrechte als die arabischen Bürger in Israel.“

Ahmed, der junge Flaggenhisser vom Hügel, steigt die Leiter herunter. Zurück auf dem Boden der Tatsachen erzählt er, dass er fast sein halbes Leben im Jugendzentrum verbracht habe. Mit acht Jahren sei er zum ersten Mal aufgekreuzt, habe mit den anderen Fußball gespielt. Frieden und Freiheit wünscht er sich, dass er am Checkpoint nicht mehr nur eine Nummer sei, sondern als Mensch gesehen werde und endlich durch alle Straßen seiner Heimatstadt laufen könne, auch durch die, die heute nur für Siedler zugänglich sind und von Soldaten bewacht werden.

Ahmed ist einer, der noch Hoffnung hat, vielleicht auch aufgrund seiner Arbeit bei „Youth Against Settlements“. Doch Gründer und Leiter Issa Amro weiß, dass es vielen Palästinensern in Ahmeds Alter nicht so geht. „Die Jugendlichen befinden sich in einer misslichen Lage“, sagt er. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Bewegungsfreiheit gering.

Unter israelischer Militärherrschaft sind Proteste verboten

Amro, ein rundlicher Mann in Jeans und dickem Wollpullover, sitzt auf der Couch in seinem Büro, wo er auch lebt. Neben ihm liegen Decken, abends klappt er das Schlafsofa aus. Seine Familie wohnt zwar in Hebron, doch „bei der Wahl zwischen Familie und politischem Aktivismus habe ich mich für die Politik entschieden“, sagt er. Vor ihm auf dem Tisch liegen drei Mobiltelefone, ständig klingelt eines davon, gerade ruft die palästinensische Nachrichtenagentur PNN an und bittet ihn um Stellungnahme zur aktuellen politischen Situation. Amro gilt als gemäßigte Stimme im Westjordanland, seine Worte als ausgewogen, sein Aktivismus als friedlich.

Und dennoch läuft derzeit ein Verfahren gegen ihn – unter anderem eben weil er aktiv ist, protestiert und andere dazu aufruft, mitzumachen. Unter israelischer Militärherrschaft ist das verboten. Außerdem soll er einen Soldaten beleidigt haben. Wie so viele andere Palästinenser wurde deshalb auch Amro schon verhaftet. Einer der Soldaten, der ihn mitnahm, so erzählt er, war ausgerechnet Elor Azaria: jener Mann, der gerade wieder für Schlagzeilen sorgte, weil er im vergangenen März in Hebron einen am Boden liegenden Terroristen durch einen gezielten Kopfschuss getötet hatte. Das Strafmaß hat das Gericht an diesem Vormittag verkündet: 18 Monate.

Vielleicht käme für Amro sogar eine Ein-Staaten-Lösung infrage

Amro erinnert sich an den Tag, als er selbst auf Azaria traf. „Er hat mir keine Handschellen angelegt und mir nicht die Augen verbunden, wie es manche andere Soldaten machen“, erzählt er. „Der war kein Extremer.“ Verteidigende Worte für einen Soldaten hört man auf palästinensischer Seite äußerst selten. „Es ist das System. Der Soldat hat nur Befehle ausgeführt“, sagt Amro. Er sagt, ja, für den tödlichen Schuss müsse der Mann bestraft werden, aber es sei „nicht fair, alle Schuld nur auf ihn zu laden“.

Amro ist bereit, Worte auszusprechen, die anderen Palästinensern niemals in den Sinn kommen würden. Er wiederholt nicht nur Phrasen, sondern informiert sich selbst. So hat er auch in den vergangenen Wochen verfolgt, was Trump und Netanjahu von sich gegeben haben, live auf Facebook habe er sich die Pressekonferenzen angeschaut. Vielleicht, gibt sich Amro noch einmal kompromissbereit, käme ja auch für die Palästinenser etwas anderes als eine Zwei-Staaten-Lösung infrage. Auch die Ein-Staaten-Lösung. „Aber kein Apartheidstaat, nur einer, in dem wir gleiche Rechte haben.“ Und wenn, wie beispielsweise die Siedler sich das vorstellen, dieser eine Staat Israel heißt? „Nein, niemals.“

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