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Volljährig: Klaus Sander hat den Audioverlag Edition Supposé vor 18 Jahren gegründet.

© Mike Wolff

Berliner Verlagslandschaft: "Alles ist in Bewegung"

Die Verlagslandschaft in Berlin ist im Umbruch, schon zehn Prozent aller Bücher erscheinen hier. Und der Berliner Markt ist eine Herausforderung, gleichzeitig aber auch eine riesige Chance: Hier werden Bücher gelesen, die anderswo wie Steine im Regal liegen.

Es ist mehr als zehn Jahre her, seit sich Andreas Rötzer beim Verlag Matthes und Seitz in München um die Buchhaltung gekümmert hat. Dem Verlag ging es sehr schlecht damals, doch Rötzer, der nach einer Ausbildung zum Krankenpfleger und dem Studium (Kulturwirtschaft und Philosophie) gerade seine Promotion abschloss, überlegte hin und her, während er für potenzielle Käufer die Bilanzen und Unterlagen aufbereitete. Und entschloss sich, Matthes und Seitz dann selbst an einem anderen Ort wieder aufzubauen.

Viele Jubiläen in diesem Jahr

Drei Städte standen damals auf seinem Zettel. Überzeugt hat ihn schließlich die Berliner Wirtschaftsförderung, von der er zwar kein Geld bekam, dafür aber so intensiv "durchgecoacht" wurde, dass die Verhandlungen mit den Banken kein Problem mehr waren. Vor einigen Wochen hat Matthes und Seitz Berlin seinen zehnten Geburtstag in der Hauptstadt gefeiert. Wie es in diesem Jahr überhaupt so viele Jubiläen gibt von Verlagen, die entweder schon immer in Berlin sitzen (Wagenbach, 50 Jahre), in die Stadt gekommen sind oder eben hier gegründet wurden (Galiani, 5 Jahre).

Gefeiert haben Matthes und Seitz das erste Berliner Jahrzehnt im Literarischen Colloquium am Wannsee, einem der vielen Orte, an denen sich die Buchwelt trifft. Die Branche ist engmaschig organisiert. Detlef Bluhm vom Börsenverein Berlin-Brandenburg gehört zu den wichtigsten Netzwerkern und sicher auch zu den leidenschaftlichsten: "Was hier in den vergangenen Jahren passiert ist, das ist qualitativ und quantitativ hochinteressant." Die Verlagsszene werde immer vielfältiger, Wissenschafts-, Publikums- und Schulbuchverlage seien in die Stadt gekommen, die Mischung sei sehr bunt, große und kleine, alte und neue Verlage seien dabei: "Alles ist in Bewegung, Stillstand gibt es nicht." Während der Umzug von Suhrkamp und Ullstein von außen oft als tektonische Verschiebung betrachtet wird, als schwerer Verlust für die Verlagsstädte Frankfurt und München, sieht Bluhm es so: "Die Verlage waren ja schon einmal in Berlin ansässig und kommen jetzt eben wieder zurück."

350 Verlage gibt es in Berlin

Er hat dazu für eine Broschüre der Senatswirtschaftsverwaltung einige Zahlen zusammengestellt: Mit knapp zehn Prozent aller Neuerscheinungen hat Berlin die Verlagsstädte München, Frankfurt und Stuttgart hinter sich gelassen. Auch laut dem vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels herausgegebenen "Buch und Buchhandel in Zahlen" sitzen die meisten Verlage in Berlin: 180, während in München 138, in Frankfurt 72 und in Stuttgart 88 aufgeführt werden. Das Adressbuch des Börsenvereins verzeichnet sogar 350, darunter sind allerdings sehr viele Kleinstunternehmen.

Bluhm wirbt auch bei denen um den Standort Berlin, die es bislang noch nicht in die Hauptstadt "geschafft haben". Gibt es denn etwas, das hier noch fehlt, ein strukturelles Defizit, das die Verlage daran hindert, hierher zu kommen? Bluhm verneint und verweist darauf, dass eben nicht jeder seine Heimatstadt verlassen möchte. Und ein Lektor, der nicht aus, sagen wir, München oder Frankfurt wegziehen will, eben auch viele Autoren mitnimmt, wenn er den Verlag verlässt. Und noch ein Punkt sei wichtig: Berlin ist eine Stadt der Leser, hier gibt es so viele große und vor allem kleine Buchhandlungen wie in keiner anderen deutschen Stadt. Hier setzt auch Karsten Kredel an: "Das Berliner Publikum liest etwas anderes, das spürt man." Und man könne es auch sehen, beispielsweise bei Dussmann, wo Bücher platziert würden, die in den meisten deutschen Buchhandlungen kaum absetzbar wären.

Kredel ist seit Anfang des Jahres für Hanser Berlin verantwortlich, die Berliner Dependance des großen Flaggschiffs Hanser, das weiterhin in München sitzt. Elisabeth Ruge hat die Niederlassung 2012 aufgebaut, sie brachte viele Autoren mit, die ihr nach ihrem Weggang vom Berlin Verlag die Treue hielten. Ruge hat den Verlag inzwischen verlassen und baut gerade ihre eigene Literaturagentur auf.

Doch zurück zum wichtigsten Knotenpunkt der Literatur: den Buchhandlungen. Ihre Zahl hat in Berlin eine erstaunliche Entwicklung gemacht. Während in anderen Städten die Läden schließen oder kleine Geschäfte von großen Buchketten in den Ruin getrieben werden, sprießen in der Hauptstadt die Kiezbuchhandlungen aus dem Boden. Allein im Reuterkiez in Nord-Neukölln sind in den vergangenen fünf Jahren mehr als fünf Buchhandlungen entstanden, die jeweils nur eine Straße voneinander entfernt sind. Detlef Bluhm sagt, dass in Berlin zwischen 2010 und 2012 insgesamt 24 neue Buchhandlungen gegründet wurden. Die Stadt ist also ein Trost für jeden Kulturpessimisten: Hier werden noch Bücher gekauft, und viele davon werden wahrscheinlich auch gelesen.

Das Gründerfieber in der Stadt steckt auch alte Verlagshasen an, zum Beispiel Wolfgang Hörner und Esther Kormann. Die beiden sind in den 1990er Jahren mit Eichborn Berlin in die Hauptstadt gekommen. Kormann und Hörner bekamen irgendwann Lust darauf, etwas Eigenes zu machen: 2009 gingen sie mit ihrem Galiani Verlag an den Start. Namensgeber ist der Neapolitaner Ferdinando Galiani, ein Schriftsteller, der im 18. Jahrhundert lebte. Sein Leitspruch lautete: "An allem interessiert und nie langweilig."

Manche Bücher entstehen nur dort, wo man auf Texte aufmerksam werden kann

Der Namensgeber soll auch für die Neugierde der beiden Verleger stehen, auf Texte, über die man nachdenken muss. Wenn er zurückschaut auf seine Anfangsjahre in Berlin, erinnert sich Wolfgang Hörner an eine Branche mit deutlich weniger Verlagen. "Damals konnte man noch so tun, als sei man ein Verlag, und dann war man einer." Heute gelte selbst der erst fünfjährige Galiani als etabliert. Galiani hatte von Anfang an einen starken Partner: Der Kölner Verlag Kiepenheuer und Witsch kümmert sich um den Vertrieb, die Mitarbeiter von Galiani können sich auf das Wesentliche konzentrieren: die Literatur.

Wer Bücher macht, ist – was den technischen Herstellungsprozess betrifft – relativ ortsunabhängig. Den Inhalten kann es dagegen sehr gut tun, wenn Verleger, Autoren und Agenten vor Ort sind. Weil manche Bücher nur dort entstehen, wo man auch auf Texte aufmerksam werden kann. Für Wolfgang Hörner sind zum Beispiel die vielen Lesebühnen eine gute Möglichkeit, neue Texte zu entdecken. Karsten Kredel von Hanser Berlin formuliert es so: Es komme für mittelständische literarische Verlage heute "mehr als zuvor darauf an, ganz besondere Stimmen zu publizieren".

Und die verschafften sich in Berlin sicher häufiger Gehör als anderswo. Kredel nennt Berlin als Standort einen Glücksfall, "weil man hier inmitten eines Spannungsfeldes von Ideen verlegt". Und mit seinen Büchern wieder ganz direkt in dieses Spannungsfeld hineinwirken kann. Wo es um die Kommunikation mit Lesern und den Medien gehe, präge Berlin die Arbeit ganz wunderbar. Insofern hat Hanser, wenn man so will, das beste aus beiden Welten kombiniert. Der Verlag sitzt weiterhin in München, verliert keine umzugsunwilligen Mitarbeiter und gibt von Berlin aus zweimal im Jahr eine kleine Auswahl an Texten heraus. Den Unterschied zwischen den beiden Städten sieht Kredel in der unmittelbaren Nähe zu den Lesern und den passenden Veranstaltungsorten. "Berlin funktioniert hervorragend als Verstärker von Ideen, und das ist für unsere Arbeit wichtig", sagt Kredel.

Zu den ganz kleinen Verlagen, die ihre Ideen von Anfang an in Berlin verstärkt haben, gehört Edition Orient. Der Verlag wurde 1980 auf Initiative des Übersetzers Nagi Naguib gegründet, um die orientalische Literatur in Deutschland bekannter zu machen. Der "Orient" umfasst dabei die Region von Marokko bis zur Türkei, aber auch den persischen und zentralasiatischen Raum. Ins Verlagsprogramm kommen ausschließlich Autoren, die in diesem geografischen Raum leben oder dort ihre Wurzeln haben.

Außerdem wird immer aus der Originalsprache übersetzt, meist aus dem Arabischen, Türkischen oder Persischen. Ende der 1990er Jahre übernahm der Islamwissenschaftler Stephan Trudewind den Verlag und hat seitdem einige Akzente gesetzt, zu denen ihn sicher auch der Standort seines kleinen Ladenbüros in der Muskauer Straße inspiriert hat. Er hat damit begonnen, zweisprachige Kinderbücher herauszugeben, etwa auf Türkisch-Deutsch oder Arabisch-Deutsch: "Damit möchte ich zeigen, dass Mehrsprachigkeit ein Schatz ist, den man unbedingt pflegen sollte."

Auszeichnung für originelle Verlagskonzepte

Im Moment arbeitet Trudewind an einem besonders ambitionierten Projekt: einem Buch, in dem eine Kindergeschichte als zweisprachige Fassung aufgearbeitet wurde, und zwar in 19 Sprachen, von Arabisch und Bulgarisch über Griechisch bis Urdu. Zusätzlich dazu werden auch noch Hör-CDs erstellt.

Die Multikulturalität der Stadt hat auch die beiden Gründerinnen des Binooki-Verlags inspiriert, in das Verlagsgeschäft einzusteigen. Binooki gehört zu den vielen Berliner Preisträgern, die in den vergangenen Jahren von der renommierten Kurt-Wolff-Stiftung für ihre originellen Verlagskonzepte ausgezeichnet wurden – auch das ist ein Indikator dafür, dass man kreative Ideen hier tatsächlich durchsetzen kann.

Klaus Sander und sein inzwischen 18 Jahre alter Audioverlag Edition Supposé hat die Auszeichnung ebenfalls bekommen, ebenso wie unter anderem Wagenbach oder der Verbrecher Verlag. Letzteren haben die beiden Literaturstudenten Werner Labisch und Jörg Sundermeier 1995 gegründet, um endlich einmal unveröffentlichte Manuskripte von Autoren lesen zu können, die sie schätzten. Das ist vielleicht eine Erklärung dafür, weshalb das Programm der Verbrecher immer wieder Preise bekommt.

Der Aufbau-Verlag war von Anfang an Berliner, doch er hat in den vergangenen Jahren eine auffällige Entwicklung gemacht – was sein Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit betrifft. Nach seiner Gründung 1945 entwickelte sich Aufbau schnell zum erfolgreichsten belletristischen Verlag der DDR. Die 1990er Jahre waren geprägt von kommerziell sehr erfolgreichen Publikationen wie Victor Klemperers Tagebüchern und dem Roman "Die Päpstin".

2008 hat der Investor Matthias Koch den Verlag übernommen, ein ehemaliger Deutschlehrer, der von Anfang an groß dachte. Er errichtete am Moritzplatz, vis-à-vis von den Prinzessinnengärten, eine riesengroße kreative Wohngemeinschaft, zu der unter anderem das Kreativkaufhaus Modulor gehört, außerdem eine Buchhandlung, ein Theater und ein Club. Beobachter fragen sich manchmal, wie weit sich der Verlag auf dem Areal noch ausdehnen wird.

Eine klare Öffnung nach außen, ein großer Schritt in Richtung Leser – das ist in der Verlagsbranche in dieser Dimension ziemlich ungewöhnlich. Sind andere Verlage da manchmal neidisch? Gunnar Cynybulk, der seit März neuer Verlagsleiter ist, bestreitet das nicht. Die "Synergieeffekte" seien deutlich spürbar. Und würden sicher auch im nächsten Jahr noch stärker genutzt, wenn Aufbau – schon wieder ein Jubiläum – seinen 70. Geburtstag feiern wird.

Inhaltlich sieht Gunnar Cynybulk den Verlag stark in seinen Ursprüngen verankert: "Er muss sich nicht neu erfinden, hat eine gute und starke Substanz." Der Verlagsleiter, der selbst auch Autor ist, freut sich darüber, dass Aufbau heute ganz in der Nähe des ehemaligen Grenzübergangs an der Heinrich-Heine-Straße sitzt. Und viele andere Büchermacher nur ein paar Minuten entfernt sind.

Dieses Stück erschien zuerst im Wirtschaftsmagazin "Köpfe" aus dem Tagesspiegel-Verlag, das Sie hier bekommen können: Tagesspiegel Köpfe bestellen

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