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Die Sensibilität gegenüber dem Problem Kindesmisshandlung nimmt offenbar zu: Immer mehr Fälle werden bei der Polizei angezeigt. Experten zufolge passieren die meisten dieser Verbrechen in der Familie.

© Uwe Zucchi/picture alliance/dpa

Kindeswohl in Gefahr: Leiden statt Therapie

Sozialpädagogen erforschen an der Freien Universität, wie es zu Gewalt durch Fachkräfte in geschlossen Heimen kommt.

Als im Jahr 2006 erstmals ehemalige Heimkinder im Deutschen Bundestag über ihre Vergangenheit sprachen, wurde es still im Plenum. Die mittlerweile erwachsenen Frauen und Männer berichteten von Prügel, Essensentzug, Isolation und täglichen Demütigungen. Erfahrungen, die sie selbst nach so vielen Jahren noch schwer belasteten. Einige Kinder und Jugendliche in Heimen werden auch heute noch Opfer von Gewalt. Das haben die in den vergangenen Jahren öffentlich gewordenen Misshandlungen in der Brandenburger Haasenburg oder dem Friesenhof in Schleswig-Holstein gezeigt; sie lösten eine Debatte über die Unterbringung in geschlossenen Einrichtungen aus.

Um Gewalt gegen Kinder ging es auch auf einer internationalen Tagung zum Thema Kinderschutz, die im kürzlich an der Freien Universität Berlin stattfand und auf großes Interesse stieß. Etwa 70 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 22 Ländern und fünf Kontinenten hielten Vorträge zu Themen wie Armut, Mitbestimmung oder Verletzbarkeit von Kindern. Organisiert wurde die Konferenz von Ulrike Urban-Stahl, Professorin für Sozialpädagogik an der Freien Universität, und Friederike Lorenz, Mitarbeiterin des dortigen Arbeitsbereichs Sozialpädagogik, in Kooperation mit Meike Wittfeld von der Universität Duisburg-Essen, Timo Ackermann von der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und einem internationalen Organisationskreis.

„Seit etwa zehn Jahren wird in Deutschland viel offener darüber gesprochen, dass Kinder in pädagogischen Einrichtungen zu Schaden kommen können“, sagt Urban-Stahl. „Das hat dazu beigetragen, dass der Kinderschutz erheblich weiterentwickelt werden konnte.“ So gebe es heute unabhängige Beschwerdestellen, an die sich Eltern und Jugendliche wenden könnten. Auch die Bereitschaft von Einrichtungen, Missbrauchs- oder Misshandlungsfälle wissenschaftlich untersuchen zu lassen, um daraus zu lernen, sei erheblich gewachsen.

Sie recherchierten auch Gewalt gegen Kinder mit Behinderung

So konnte auch Friederike Lorenz einen Fall von Kindesmisshandlung untersuchen, den Heranwachsende in zwei Wohngruppen der Educon, einer ehemaligen Tochtergesellschaft der Graf Recke Stiftung in Nordrhein-Westfalen erdulden mussten. Der Fall wurde 2009 organisationsintern aufgedeckt und 2010 bekannt. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Einrichtung initiierten eine externe wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschehnisse. In den beiden Wohngruppen litten Kinder und Jugendliche mit verschiedenen Behinderungsdiagnosen im Alter zwischen 9 und 15 Jahren unter gewaltsamen Erziehungsmaßnahmen. Tagtäglich wurden sie bestraft, wenn sie nicht das gewünschte Verhalten zeigten. Sie wurden beschimpft und isoliert, sie mussten stundenlang auf einem Stuhl sitzen, oder sie bekamen zur Strafe kein Abendessen, wodurch manche von ihnen erheblich an Gewicht verloren.

Die Betreuerinnen und Betreuer orientierten sich in ihrer Arbeit an einem Konzept, das von der behördlichen Aufsicht der Einrichtung für die zwei intensiv-pädagogischen Gruppen bewilligt worden war. „IntraActPlus“ ist ein verhaltenstherapeutischer Ansatz, der auf Fritz Jansen zurückgeht und in den Regalen vieler Unibibliotheken zu finden ist. Die Methode umfasst auch eine „Körperbezogene Interaktionstherapie“, bei der autistische Kinder lernen sollen, durch Umarmen und Festhalten körperliche Nähe zu genießen. „Die Fachkräfte missbrauchten die Maßnahme zur Machtdemonstration“, sagt Lorenz. So hätten manchmal vier oder fünf Personen gemeinsam ein Kind misshandelt und gegen seinen Willen lange umklammert.

Zu Reflexionszwecken filmten die Mitarbeiter ihr Vorgehen, sodass rund 200 Stunden Videomaterial zusammenkamen, mit dem die Misshandlungen später vor Gericht belegt werden konnten. „Wenn es in Einrichtungen zu Vorfällen von Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen kommt, steckt dahinter fast immer ein strukturelles Problem“, sagt Friederike Lorenz. In ihrer Forschung gehe es ihr nicht um die Persönlichkeit oder das Fehlverhalten Einzelner, sondern um Gelegenheitsstrukturen. Wie war es möglich, dass dieser Fall innerhalb einer so großen Einrichtung passieren konnte, in der tagtäglich viele andere Pädagogen völlig anders arbeiten?

Das Verhalten wurde verschleiert oder als legitim dargestellt

Ein zentraler Grund war, dass die Betreffenden ihr Verhalten im Kreis von Kolleginnen und Kollegen und gegenüber Eltern immer wieder überzeugend mit dem Verweis auf das Gruppenkonzept begründeten. „Hier wurde Gewalt mithilfe professioneller Fachbegriffe verschleiert und legitimiert“, sagt Friederike Lorenz.

Die Wissenschaftlerin hat das Geschehen auch mit anderen Fällen verglichen, in denen es im Rahmen von Kinder- und Jugendhilfe oder Eingliederungshilfe zu Gewalt in intensiv-pädagogischen Gruppen kam – etwa in den Heimen der Haasenburg GmbH in Brandenburg oder im Friesenhof in Schleswig-Holstein. Auch hier wurden Kinder betreut, mit denen mehrere Regelsysteme zuvor nicht zurechtgekommen waren. „In all diesen Fällen gab es ein pädagogisches Konzept, in dem ein Belohnungs- und Bestrafungssystem verankert war, das die Legitimation von Gewalt, Zwang und Machtmissbrauch erleichterte“, sagt Friederike Lorenz.

„Solche pädagogischen Konzepte, die pauschale Antworten geben, sind verführerisch, weil sie Fachkräfte von Verantwortung und eigenem Denken entlasten“, betont ihre Kollegin Ulrike Urban-Stahl. „Und sie können Kindern und Jugendlichen, die eine so spezifische Biografie mitbringen, nicht gerecht werden.“ Wer mit diesen Kindern arbeite, brauche keine pauschalen Konzepte, sondern selbst viel Begleitung und Raum für Reflexion, um immer wieder neu deeskalierend auftreten zu können. Dies müsse von Einrichtungen unterstützt und gefördert werden.

Lange hatten Heimkinder in Deutschland keine Stimme

Dass heute offen über solche Fälle gesprochen werden kann, war nicht immer selbstverständlich: In der Geschichte der Bundesrepublik hatten Heimkinder lange Zeit gar keine Stimme. Nach 1945 führten viele Heime die „Schwarze Pädagogik“ aus dem Kaiserreich und der NS-Zeit nahtlos fort. „Durch die 68er-Bewegung gab es ein langsames Umdenken, doch erst im Jahr 2000 wurde körperliche Züchtigung von Kindern auch gesetzlich verboten“, sagt Friederike Lorenz. Nachdem in den USA und Irland von den 1990er-Jahren an immer mehr Fälle von Kindesmisshandlung in Heimen ans Licht kamen, trauten sich auch hierzulande ehemalige Heimkinder, von ihren Gewalterfahrungen zu berichten.

Im November 2008 erklärte der Deutsche Bundestag sein tiefes Bedauern über „erlittenes Unrecht und Leid, das Kindern und Jugendlichen in verschiedenen Kinder- und Erziehungsheimen in der alten Bundesrepublik in der Zeit zwischen 1945 und 1970 widerfahren ist.“ Ein Runder Tisch „Heimerziehung“ wurde eingerichtet, und Betroffene wurden dazu eingeladen. „Dass die ehemaligen Heimkinder nun selbst sprachen, sich in Vereinen organisierten und auch angehört wurden, war eine neue Dimension“, sagt Friederike Lorenz.

Von 2010 an mehrten sich Berichte über sexuelle Übergriffe auf Schüler an Eliteinternaten wie dem Berliner Canisius Kolleg oder der hessischen Odenwaldschule, ein Internat mit reformpädagogischem Ansatz. Die Politik reagierte mit einem Runden Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch“. Für Ulrike Urban-Stahl haben „die großen Skandale dazu beigetragen, das Thema zu enttabuisieren. Heute gibt es ein breiteres Bewusstsein dafür, dass pädagogische Institutionen auch Risiken in sich tragen.“ Das Sprechen über diese Risiken habe maßgeblich dazu beigetragen, strukturelle Antworten zu entwickeln.

So arbeiteten heute viele pädagogische Einrichtungen mit Ampel-Plakaten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tauschen sich über unterschiedliche Verhaltensweisen aus und ordnen diese einem Ampelsystem zu. Es werden Fragen diskutiert wie: Wann ist Sprache verletzend? Welches sind persönliche Grenzen der Kinder, und wo laufen wir Gefahr, diese Grenzen zu verletzen? Darf man einfach eintreten, wenn das Kind im Bad ist? Muss man anklopfen, wenn man dessen Zimmer betritt? Muss sich ein Kind umarmen lassen?

Was ist okay, was nicht? Es geht um viele kleine "Aushandlungen" im Alltag

„Zwischen einem wertschätzenden Umgang auf der einen und offensichtlicher körperlicher Gewalt auf der anderen Seite liegt ein breites Feld vieler kleiner Aushandlungen im Alltag“, sagt Ulrike Urban-Stahl. In Ampel-Plakaten stehen unter der Farbe Rot Verhaltensweisen, die eindeutig verboten sind, unter gelb solche, die von Fall zu Fall in einer konkreten Situation bewertet und miteinander geklärt werden müssen. Unter grün sinnvolle Verhaltensweisen, die vielleicht Kindern nicht immer gefallen, aber legitim oder sogar verpflichtend sind – etwa, dass Betreuerinnen und Betreuer die Kinder in die Schule schicken müssen. Solche Ampel-Plakate hängen in den Gruppen aus; sowohl Kinder als auch Erwachsene können sich im Alltag daran orientieren und darauf berufen.

Gewalterfahrungen können auf Kinder und Jugendliche lebenslange Auswirkungen haben. Gerade wenn sie in ein Heim kommen, haben sie meist keine verlässlichen Bindungen zu ihren Eltern kennengelernt und keinen Wertekompass. Das Heim soll ein Ort des Schutzes sein, an dem es möglich ist, solche Bindungen aufzubauen. „Wenn sie aber auch dort erleben, dass Bezugspersonen ihre Rechte nicht respektieren, werden sie auch später im Leben große Probleme haben, Vertrauen zu Menschen aufzubauen“, sagt Ulrike Urban-Stahl. Kinder und Jugendliche hätten ein Recht darauf, dass ihre Wahrnehmung gehört und berücksichtigt wird. „Nur wenn man sie ernst nimmt und ihnen eine wertschätzende Beziehung anbietet, wird auch ihr Bewusstsein dafür gestärkt, dass sie Rechte haben und sich beschweren können, wenn etwas passiert, das ihre Grenzen überschreitet.“

Amely Schneider

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