zum Hauptinhalt
Lupenrein. Dass Kinder in Deutschland nicht in die Schule gehen, wird nicht akzeptiert.

© imago/Westend61

Keine Lust auf Klassenzimmer: Wie Eltern gegen die Schulpflicht ihrer Kinder kämpfen

Angela Schickhoffs Kinder gehören zu den rund 3000 in Deutschland, die sich der Schulpflicht verweigern. Ein Besuch bei Freilernern in Potsdam.

Stress ist ihr nicht anzumerken. Dabei lebt Angela Schickhoff im Dauerstreit mit den Behörden. Sie weigert sich, ihre beiden Kinder Caje und Dori in die Schule zu schicken. Sie will sie nicht überreden, nötigen oder gar zwingen. Ihre Kinder sollen zu Hause lernen.

Angela Schickhoff ist eine Verfechterin des freien Lernens. Für sie ist Schule das Gegenteil davon.

Vier Kinder hat die Potsdamer Autorin. Die beiden erwachsenen Mädchen haben die Schule durchlaufen, beide empfanden es als belastend. Die beiden jüngeren, elf und zwölf Jahre alt, sollten das nicht durchmachen. Als sie sieben und acht waren, erzählt Angela Schickhoff, habe sie nach den Osterferien gefragt: „Wollt ihr weitermachen?“ „Nein“, sei die Antwort gewesen. „Ich bleib’ zu Hause“, habe ihr Sohn Caje festgestellt. Tochter Dori sei wegen der anderen Kinder eigentlich gern gegangen. Aber sie habe auch viel geweint. Was genau die Kinder störte, weiß Angela Schickhoff nicht. Ihr Sohn sei ohnehin gern für sich. Ihre Tochter empfand offenbar übermäßigen Lerndruck. Da hatte sich Angela Schickhoff längst mit dem freien Lernen beschäftigt, auch wegen der Erfahrungen mit ihren großen Töchtern. Sie und ihr Mann „respektierten, dass die Kinder nicht wollen“.

Freilerner, Homeschool-Anhänger oder Schulverweigerer: So werden in Deutschland Menschen bezeichnet, die bewusst gegen die Schulpflicht verstoßen. Sie nehmen nicht bloß eine Menge bürokratischer Auseinandersetzungen in Kauf, sondern Bußgelder und auch Gerichtsurteile, die ihnen das Sorgerecht für ihre Kinder entziehen. Fachleute vermuten, dass etwa 3000 Kinder und Jugendliche in Deutschland nicht in der Schule, sondern zu Hause lernen.

In Zeiten, in denen allein in Berlin Tausende Schulplätze fehlen, Stunden wegen Lehrermangel ausfallen und in alten Gebäuden der Putz von der Decke fällt, könnte der Staat froh sein, wenn Eltern ihre Kinder zu Hause unterrichten. Noch nie dürfte es angesichts der prekären Situation so großes Verständnis für Familien gegeben haben, die das Vertrauen in das staatliche Schulsystem verlieren.

Doch die Schulpflicht erscheint in Deutschland unantastbar. Wer sie missachtet, bekommt Druck, erst vom Schulamt, später womöglich vom Jugendamt, das den Eltern Kindeswohlgefährdung vorwerfen kann.

"Wir verstecken uns nicht", sagt Schickhoff

Angela Schickhoff, Jahrgang 1970, hat das Freilernen für sich zu einem großen Thema gemacht. Sie ist eine freundlich lächelnde Frau, trägt lange Haare, zum Pferdeschwanz gebunden, ein weites Sommerkleid. Sie hat ein Buch geschrieben – „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist schlechter“ –, unterhält eine Internetseite und lädt jeden letzten Mittwoch im Monat zu einem Informationsgespräch über das freie Lernen in ein kleines Potsdamer Café.

In Brandenburg gilt als „Intensivschwänzer“, wer pro Quartal mehr als 20 Tage unentschuldigt fehlt. 794 gibt es davon laut amtlicher Statistik an Brandenburger Ober- und Gesamtschulen. „Ist das unentschuldigte Fernbleiben von der Schule auf die Verantwortung der Eltern zurückzuführen und sind diese nicht in der Lage, die Fehlzeiten zu beenden, sind die Eltern auf mögliche Konsequenzen hinzuweisen“, heißt es in einer Handlungsanleitung der Schulbehörde.

Angela Schickhoff spricht über die „möglichen Konsequenzen“ mit der Gelassenheit einer Person, die weiß, wie sie mit schwierigen Situationen umzugehen hat. Eine Familienrichterin habe dem Elternpaar das Sorgerecht für den noch schulpflichtigen Jungen entzogen, allerdings nur in Hinsicht auf schulische Angelegenheiten. Der Rechtsstreit ging bis zum Oberlandesgericht, das den Beschluss des Familiengerichts widerrief. „Wir haben gezittert“, sagt Angela Schickhoff.

Angela Schickhoff schickt ihre Kinder nicht in eine öffentliche oder private Schule.
Angela Schickhoff schickt ihre Kinder nicht in eine öffentliche oder private Schule.

© Thilo Rückeis

Die Familie hatte rechtzeitig einen Anwalt genommen, der in Deutschland zum Fachmann für Streit über Schulpflicht und freies Lernen geworden ist. „Aber das droht uns erneut“, sagt Angela Schickhoff – diesmal mit Blick auf die Tochter.

Für manche Eltern ist Behördenstreit dieser Art ein Anlass, Deutschland zu verlassen. Doch Angela Schickhoff will etwas verändern: „Wir verstecken uns nicht“, sagt sie.

Das Grundgesetz unterstellt das Schulwesen der „Aufsicht des Staates“. Die Verfechter der Schulpflicht berufen sich darauf und auf die Schulgesetze der Länder. Das brandenburgische etwa sagt, die allgemeine Schulpflicht gewährleiste die Erziehung und Bildung „jedes jungen Menschen“. Das Berliner Schulgesetz fordert, die Pflicht sei „durch den Besuch einer öffentlichen Schule oder einer staatlich anerkannten oder staatlich genehmigten Ersatzschule zu erfüllen“. Bildung – das kann in Deutschland demnach nur die Schule. Nur eine sehr schwere Krankheit oder eine massive Verhaltensstörung sind anerkannte Gründe für die Befreiung von der Schulpflicht.

Schule als sozialer Lernort

Angela Schickhoff schreibt und studiert Jura, ihr Mann ist Stadtführer. Beide verlassen sich auf das Lerninteresse der jüngeren Kinder – und auf die Zeit. Ihr Sohn tue sich mit dem Schreiben noch schwer, lesen könne er. Die Tochter lese besser. Von Kindern auf freien Schulen wisse sie, dass manche Kinder erst mit zwölf lesen lernten. „Ich beobachte, wie meine Kinder das machen, und sehe, dass das klappt.“ Kritischer sieht sie die sozialen Auswirkungen des Widerstands gegen die Schulpflicht. Ihr Sohn sei sehr für sich – „man kann ihm alles anbieten, der will einfach nicht.“ Ihre jüngste Tochter habe zwei sehr gute und treue Freundinnen. Eine hat sie in ihrer kurzen Schulzeit kennengelernt. Die andere ist ebenfalls Freilernerin.

Die Verfechter der deutschen Schulpflicht argumentieren mit der Schule als sozialem Lernort. In der Schule gehe es immer auch um Integration, um ein Miteinander. Das Bundesverfassungsgericht stellte 2014 fest: „Selbst ein mit erfolgreichen Ergebnissen einhergehender Hausunterricht verhindert nicht, dass sich die Kinder vor einem Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen verschließen.“ Hausunterricht sei nicht dazu geeignet, „die insbesondere in einer Klassengemeinschaft gelebte Toleranz gegenüber einem breiten Meinungsspektrum“ zu fördern.

An den politischen Auseinandersetzungen etwa um Koranschulen oder um den Konsulatsunterricht für Kinder mit Migrationshintergrund sieht man, wie kompliziert alles werden kann. In Deutschland haben Freilerner keine politische Lobby. Hier gebe es, so kritisierte vor zehn Jahren schon der Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen, „die Kontinuität einer Zwangsbeschulung“.

Aus der Sicht der Freilerner gibt es dafür zwei Gründe. Der eine hat mit den erwähnten Parallelgesellschaften zu tun. In der Politik herrsche eine „große Angst“, sagt Karen Kern, die Vorsitzende der Freilerner-Solidargemeinschaft im baden-württembergischen Markdorf. Es sei die Angst vor einer Situation, in der auch Fundamentalisten den Anspruch äußern könnten, ihre Kinder selbst unterrichten zu wollen. Oder Reichsbürger. Oder Identitäre. Zweitens, sagt Karen Kern, die auch Lehrerin ist, gebe es einfach zu wenig Menschen mit Interesse am Freilernen.

Heute ein „glücklicher Busfahrer“ in Frankreich

Karen Kern und ihr Mann haben drei Jungen großgezogen und frei lernen lassen. Zwei Söhne hätten im Alter von elf und 14 beschlossen, nicht mehr zur Schule zu gehen. Der eine sei lange gemobbt worden. Der andere habe einem Lehrer unfaires Verhalten vorgeworfen und das nicht hinnehmen wollen. Der dritte wollte dann so lernen wie seine Brüder: selbstbestimmt, projektorientiert, in seinem Tempo, nach seinen Interessen. Einer der Söhne sei heute ein „glücklicher Busfahrer“ in Frankreich. Der andere mache Management-Beratung. Der dritte studiere Agrarwissenschaften.

Nach einigen Strafbefehlen über 200 und 300 Euro wegen der Verstöße gegen die Schulpflicht kündigten Karen Kern und ihr Mann den Behörden seinerzeit an, in absehbarer Zeit nach England zu ziehen. Daraufhin habe man sie in Ruhe gelassen, sagt Karen Kern. Indem sie auswanderten, ersparten sie sich gerichtliche Auseinandersetzungen.

Rosa Hübner ist alleinerziehende Mutter einer zehn Jahre alten Tochter und eine Freundin von Angela Schickhoff. Sie hat eine Wohnung mitten in Berlin, doch die nutzt sie vor allem in den Schulferien. Dann seien sie und ihre Tochter in der Stadt, um Freunde zu sehen. Wenn die anderen Schule haben, reisen sie. Ihre Tochter wolle nach Griechenland, weil sie sich gerade für antike Mythen interessiere, sagt Rosa Hübner, die eigentlich anders heißt, aber aus Sorge vor Ärger mit den Behörden ihren Namen nicht gedruckt sehen will.

Rosa Hübner arbeitet freischaffend, bezeichnet sich selber als digitale Nomadin. Dazu kommen eine kleine Rente und das Kindergeld. Sie hat Sieben-Tage-pro-Woche-Jobs gemacht, mehrere Ausbildungen. Und sie hat viel über das Lernen nachgedacht. Sie komme aus einer Lehrerfamilie, sagt sie mit einem Lachen. Sie habe an ihren Schwestern gesehen, wie es sei, mit Tempo die Schule bis zum Abitur zu besuchen und anschließend nicht zu wissen, was man machen solle.

Als Hübners Tochter Interesse an Computern zeigte, schickte sie sie zu einem Freund. Der habe ihrer Tochter die Grundzüge des Programmierens gezeigt – zwei Stunden pro Woche, an einem bestimmten Tag zu einer festgelegten Zeit. Nach einer Weile habe ihre Tochter ein aus Zeichen zusammengesetztes Kamel über den Bildschirm laufen lassen können. Aktuell mache sie einen Goldschmiede- und einen Schauspiel-Kurs. Sie wisse noch nicht, ob sie Goldschmiedin oder Schauspielerin werden wolle.

"Wir erziehen Untertanen"

Was, wenn das Mädchen mit 16 beschließt, dass es studieren will? Was ist mit Bruchrechnen, deutscher Grammatik, dem Stoff, der im Mittleren Schulabschluss gefordert ist? Manche Jugendliche sind nach Jahren des selbstbestimmten Lernens doch wieder zur Schule gegangen, haben Inhalte nachgeholt und Abschlüsse geschafft. In Österreich ist das freie Lernen erlaubt. Doch verlangt der Staat einmal im Jahr einen Bildungstest. Damit die Lücken nicht zu groß werden.

Rosa Hübner hat sich entschlossen, ganz offen zu ihrer Umgebung zu sein. Über Facebook-Gruppen ist Rosa Hübner deutschlandweit mit Gleichgesinnten verbunden. „Das Netzwerk ist das Wichtigste“, sagt sie. „Ansonsten wird man sehr schnell sehr einsam und sehr unsicher.“ Freunde und Nachbarn wüssten, dass ihre Tochter nicht zur Schule gehe. Kritik daran hört sie nicht. Bis auf eine anonyme Anzeige habe es nie etwas gegeben. „Man sollte diplomatisch sein und sich doch nicht unterjochen lassen“, sagt sie, die wie Angela Schickhoff auch andere Freilerner coacht und unterstützt.

Angela Schickhoff sieht es ähnlich. Es gehe darum, „dass wir junge Menschen gleichwertig behandeln“. Was mit den Schulen von heute laufe, sei genau das nicht. „Wir erziehen Untertanen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false