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Alles, was geht. Seit Tagen haben Studenten den Campus der Polytechnischen Universität in Hongkong besetzt gehalten. Sie wehren sich mit allen Mitteln gegen die Polizei. Foto: Kyodo/dpa

© dpa

Kampf um die Hongkonger Universität: Die Studenten sind müde, die Polizei schießt scharf

Wird die Welt zusehen? Mit Livestreams dokumentieren Studenten ihre verzweifelte Lage in der umzingelten Universität in Hongkong. „Bitte helft uns!“, rufen sie.

Sie hat die schwarze Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen, von dem so nichts mehr zu sehen ist als die Gasmaske, die sie trägt. Ihre Stimme klingt blechern. Es ist sehr früher Montag in Hongkong, der Morgen nach einer katastrophalen Nacht. Erst kurz zuvor hat die Polizei erneut versucht, den von Studenten seit Tagen besetzten Campus der Polytechnischen Universität zu stürmen. Wie etliche Male in den vergangenen zwölf Stunden.

Die junge Frau sagt: „Wir sind umstellt. Wir kommen hier nicht mehr raus. Bitte helft uns!“

Der Hongkonger Demokratie-Aktivist Joshua Wong hat das Video der Studentin am Montagmorgen um 7 Uhr 15 bei Twitter hochgeladen. Wird die Welt hier zusehen?, fragt er. „Die Zeit läuft ab!“

Unterdessen brennt es vor der Universität, die umliegenden Straßen sehen verwüstet aus. Der Kampf um die seit Tagen besetzte Hochschule – manche sehen in ihm bereits das Finale und tragische Ende einer Bewegung, die vor bald sechs Monaten friedlich begonnen hatte.

Richteten sich die Proteste zunächst gegen ein umstrittenes Gesetz, das die Auslieferung von Straftätern und Verdächtigen nach Festland-China erlauben sollte, wurden sie bald grundsätzlich. Die Bewohner der Sonderverwaltungszone sorgen sich, China könne seine Kontrolle ausweiten. Doch die friedlichen Protestmärsche eskalierten immer öfter zu Straßenschlachten zwischen der brutal vorgehenden Hongkonger Polizei und zunehmend radikalen Demonstranten.

Ganz Hongkong in Aufruhr

Seit dem späten Sonntagnachmittag war über Dutzende Livestreams zu beobachten, wie die Hongkonger Polizei mit Wasserwerfern versuchte, Demonstranten vor der Universität zurückzudrängen – um sich wieder zurückzuziehen, sobald aus den Reihen der hinter und unter Regenschirmen versteckten Demonstranten Molotowcocktails flogen. Stundenlang ging das so.

Die Polizei verstärkte ihre Truppen. Am Sonntagmittag war einer ihrer Männer eigenen Angaben zufolge von einem Bogenschützen in die Wade getroffen worden – die Studenten hatten sich mit Gerät aus dem Sportbereich bewaffnet.

„Viele meiner Freunde sind da drin“, schreibt der Jurastudent Kelvin über Whatsapp. „Ich sorge mich entsetzlich.“ Da ist es zwei Uhr morgens in Hongkong und Kelvin steht selbst bewaffneten Polizisten gegenüber – unweit entfernt im gleichen Stadtteil Tsim Sha Tsui. Was Kelvin macht, versuchen in dieser Nacht viele Demonstranten: die Polizei anderweitig zu beschäftigen, abzulenken.

Es scheint, als sei ganz Hongkong in Aufruhr. Die Bilder in den Livestreams durchziehen dichte Tränengasschwaden.

Polizisten vor der Polytechnischen Universität.
Polizisten vor der Polytechnischen Universität.

© T. Peter/Reuters

Auch die 23-jährige Dawn, Sozialarbeiterin, schreibt nach Mitternacht Hongkonger Zeit eine Nachricht über Whatsapp. Normalerweise ist sie nachts mit einem Kleinbus in der Stadt unterwegs und kümmert sich um obdachlose oder drogenabhängige Jugendliche.

Immer öfter brachten sie und ihre Kollegen in den vergangenen Monaten auch junge Demonstranten aus der Gefahrenzone. Sonntagnacht aber bleibt sie im Büro. „Sie verhaften junge Leute in der Nähe unseres Büros“, schreibt sie. „Wir versuchen, so viele wie möglich zu beschützen.“ Freunde von ihr bemühen sich derweil, auf den Campus der Universität zu gelangen – um die dort Eingeschlossenen zu unterstützen.

Verletzte - aber keine Sanitäter

In den frühen Morgenstunden heißt es plötzlich, es gebe Verletzte auf dem Universitätsgelände. Aber keine Sanitäter in der Nähe: Etwa 50 von denen sind zu dem Zeitpunkt schon festgenommen worden. Fünf aus ihrem Team, schreibt eine Studentin.

Die junge Frau ist seit wenigen Wochen in Deutschland, wo sie ein Studium begonnen hat: Human Rights. In Hongkong war sie während der Proteste als Ersthelferin im Einsatz, das Team koordiniert sie nun weiter – aus der Ferne. Später sagt die Polizei offiziell zu, dass Verletzte in ein Krankenhaus gebracht werden können. Doch ob die Beamten vor Ort sie durchlassen – darüber gibt es widersprüchliche Aussagen.

Immer wieder versuchen Studenten, das Gelände zu verlassen. Ein Reporter der BBC beobachtet das aus der Nähe. „Es ist hier ein Uhr 45“, sagt er in einem Video, unter seiner Gasmaske kaum zu erkennen, auf einmal gibt es jede Menge Tränengas und eine große Gruppe von Demonstranten rennt aus der Uni, „vielleicht hundert“, sagt der Reporter.

Und anerkennend: „Die meisten waren erfolgreich mit dieser Flucht, nur ein oder zwei wurden von der Polizei festgehalten.“ Am Nachmittag heißt es, noch zwischen 300 und 400 Studenten seien auf dem Campus.

In Deutschland versuchen Exil-Hongkonger in der Nacht mit zunehmender Panik, Hilfe für die Bekannten und Freunde zu organisieren. Könnte nicht die deutsche Regierung ein bisschen Druck ausüben, Parteien, Konsulare, anyone?

Kampf um die Freiheit

Was tut Deutschland? „Die Frage muss lauten, tut Deutschland genug?“, sagt Badiucao. Der chinesische Cartoonist ist gerade in Berlin zu Besuch, am Sonntagabend zeigt die Stiftung Brandenburger Tor den Dokumentarfilm „China’s Artful Dissident“ über den 33-jährigen Regimekritiker, der seit 2009 im Exil in Australien lebt.

„Deutschland und der Westen sprechen die Menschenrechte an, aber sie tun es nicht genug“, meint Badiucao, während Regisseur Danny Ben-Moshe berichtet, dass Chinas Arm bis nach Australien reicht: Studenten an der Universität von Melbourne werden zurechtgewiesen, wenn sie eins der drei Ts auch nur erwähnen: Tiananmen, Tibet oder Taiwan.

Seltsam, von der in letzter Sekunde abgesagten Hongkonger Ausstellung Badiucaos zu hören – seine Familie in China wurde massiv bedroht –, während die Push-Nachricht über die Ankündigung der Polizei in Hongkong aufploppt, jetzt auch scharfe Munition einzusetzen. Und das im Liebermann-Haus neben dem Brandenburger Tor. Revolution, Exilschicksale, das Kriegsende, der Mauerfall: Wie oft wurde hier um die Freiheit gekämpft.

„Hongkong ist ein zweites Tiananmen, schon jetzt“, sagt der Zeichner. „Es wird geschossen, Blut fließt, es ist das gleiche Regime, nur ohne Panzer.“ In einem seiner Cartoons hat Badiucao das berühmte Tiananmen-Foto des sich widersetzenden Mannes mit den Einkaufsbeuteln vor einem Panzer abgewandelt: Ein junger Mann im weißen Hemd und mit Regenschirm – in Anspielung auf die friedlichen Regenschirm-Proteste – steht vor dem panzerähnlichen Central Pier, einem der Wahrzeichen Hongkongs.

Nach Berlin hat der Künstler eine Patchwork-Fahne mitgebracht. Sie besteht aus 96 bunten Quadraten, die an die Post-it-Zettel an den sogenannten Lennon-Walls erinnern, die überall in Hongkong zur Kommunikationsfläche des Protests geworden sind. 96 Quadrate auch deshalb, weil 1996 das Jahr vor der Übergabe der Kronkolonie war. Das letzte Jahr der Unabhängigkeit von China. „Ein Drittel der Verhafteten ist unter 18 Jahre alt, und die Polizei sieht längst wie die Armee aus“, sagt Badiucao.

Er kritisiert die Rolle der westlichen Medien. „Sie prägen die Narrative. Wenn Molotowcocktails oder Pfeile fliegen, ist das ein Hingucker und es kommt in die Nachrichten. Aber die friedlichen Proteste gibt es seit mindestens einem halben Jahr, und sie stießen auf weniger Interesse.“

Studenten seilen sich ab

Hongkongs umstrittene Regierungschefin Carrie Lam hat sich am Montag erstmals seit Beginn der Belagerung der Polytechnischen Universität in der Öffentlichkeit gezeigt. In einem Krankenhaus. Dort besuchte sie den von dem Pfeil verletzten Polizeibeamten.

Es gehe ihm gut, sagte Lam dem Radio- und Fernsehsender RTHK. Zugleich forderte sie die Demonstranten auf, sich so bald wie möglich zu stellen. Tatsächlich ist auf Videos zu sehen, wie Studenten am Montag von Polizisten verhaftet werden. Sie sind müde und übernächtigt. Al Jazeera berichtete, einige seien mit erhobenen Händen auf die Straße getreten. In einem Video ist zu sehen, wie sich einige von einer Fußgängerbrücke abseilen und auf wartende Motorräder springen.

Die von Peking unterstützte Regierungschefin wirkt ratlos, wie sie das andauernde Chaos in der Sieben-Millionen-Einwohner-Stadt deeskalieren kann. Von einer Diskussionsrunde mit Demonstranten und der Rücknahme des Auslieferungsgesetzes abgesehen gab es in den letzten Monaten nur eine Reaktion der Regierung: massiver Einsatz von Polizei. Womöglich auch von chinesischen Sicherheitskräften, das legen Bilder und Audioaufnahmen von Mandarin sprechenden Beamten nahe.

„In der gegenwärtigen Pattsituation benötigt Hongkong eine politische Lösung der Regierung“, schreibt der Demokratie-Aktivist Joshua Wong auf Twitter. Lam aber „versteckt sich hinter der Brutalität der Polizeikräfte und weigert sich, überhaupt Verantwortung zu tragen“.

Mütter weinen: "Rettet unsere Kinder"

Im Gegensatz zur Einparteiendiktatur in Festland-China wird Hongkong seit der Rückgabe an China 1997 nach dem Prinzip „Ein Land, zwei Systeme“ verwaltet. Viele der Sonderrechte wie das Versammlungsrecht weichen immer mehr auf, zum Beispiel ist in den vergangenen Wochen so gut wie keine Demonstration in der Stadt mehr genehmigt worden.

Am Montag aber bewies ein Hongkonger Gericht, dass im Justizapparat noch eine gewisse Unabhängigkeit existiert. Es verwarf das Vermummungsverbot der Hongkonger Regierung als verfassungswidrig und zu weitgehend.

Die Regierung könnte auch das Wahlrecht einschränken. Am Montag sagte ein Regierungsvertreter dem Sender RTHK, dass die Proteste am Wochenende „die Chancen verringert“ hätten, dass die für Sonntag geplante Kommunalwahl durchgeführt werden könne. Die war ohnehin schon umstritten, weil unter anderem der Demokratie-Aktivist Joshua Wong nicht als Kandidat zugelassen wurde. Mit der Begründung, er trete für die Unabhängigkeit Hongkongs von China ein.

In der Nähe der Universität versammeln sich am Montag Eltern und Freunde der Eingeschlossenen. Sie halten Schilder in die Höhe: „Stoppt das Massaker“ und „Rettet unsere Kinder“. Mütter weinen.

Auch Frau Lau sucht im Queen Elizabeth Hospital ihren Sohn. Lehrer und Freunde hätten ihr gesagt, dass er ernsthaft verletzt worden sei. Es sei unklar, ob er noch im Campus sei, sagt sie der „South China Morning Post“ unter Tränen und zeigt ein Handyfoto. Er sei erst 17 Jahre alt. „Bevor er stirbt, soll er lieber verhaftet werden.“

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