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Die Tracker haben für den Rest der Republik über Jahrzehnte den Gorleben-Protest bebildert.

© Markus Scholz/dpa

Kampf gegen das Atommüll-Endlager: Was man von Gorleben lernen kann

„Ich habe geweint“, sagt Wolfgang Ehmke – aus Erleichterung. Sein Wissen aus jahrzehntelangem Widerstand trägt der Gorlebener jetzt ins Land.

Haben Sie irgendjemanden jubeln hören?, fragt Eckhard Kruse im Pfarrhaus Gartow, um ihn herum schweigen die Musikinstrumente, seine Posaune, mit der er viele Atom-Proteste begleitet hat. Nebenan schweigt das Schloss derer von Bernstorff.

Nein. Kein Triumphgeheul war aus dem dünn besiedelten, aber bei Bedarf doch immer lautstarken Wendland zu hören, wie man es vielleicht erwarten könnte, wenn nach mehr als 40 Jahren der Sieg errungen ist. Wenn eine ganze Generation ihren Lebenssinn erreicht hat. Wenn Goliath aufgibt.

Der Protest war ihr Leben

Denn seit dem 28. September ist klar: Gorleben ist raus. Der Salzstock wird kein Endlager für den deutschen Atommüll. Diejenigen, die seit Jahrzehnten, seit 1977 dagegen kämpften, haben gewonnen. Diejenigen Bauern, Aktivisten, Lehrer und Landbesitzer, die in der Elbtalaue verstreut in ihren alten Bauernhäusern sitzen, der Protest war ja mehr als nur ihr Thema: Er war ihr Leben. Er hat sie geformt.

„Den Leuten ist nicht nach jubeln zumute“, sagt Kruse. Sie seien noch in einer Art Schockstarre, die ihn an die ersten Tage nach dem Mauerfall erinnert: Wie zunächst die Leute aus der DDR ganz schüchtern über die nahe Grenze kamen. Leise wars, fast geisterhaft kam ihm die erste Woche vor, die Menschen, noch ungläubig, immer mit der Angst: Komme ich überhaupt nach Hause zurück?

Die Gorlebener werden ihr Wissen, das sie in 40 Jahren erarbeitet haben, weitergeben, „weil es eine Verantwortung gibt“.
Die Gorlebener werden ihr Wissen, das sie in 40 Jahren erarbeitet haben, weitergeben, „weil es eine Verantwortung gibt“.

© Kay Nietfeld/ dpa

„43 Jahre hat man hier die Leute mit einer politischen Entscheidung gequält, von der man wusste, dass sie nicht gut war“, sagt Kruse. Trotzdem sollte sie mit dem Polizeiknüppel durchgesetzt werden. „Das hat die Menschen hier schwer verletzt, nicht nur körperlich.“ Als Pfarrer sehe er das deutlicher als andere.

Sein ganzes, Gott gewidmetes Berufsleben ist so nun auch durchdrungen von den Details der Endlagersuche, in deren wissenschaftliche Bedingungen er sich eingearbeitet hat. Bald begriff er: Salz ist als umgebendes Material nicht geeignet. „Alle Länder haben Salz aufgegeben“, sagt Kruse. Nur Deutschland erkundete weiter. Wie auch Graf Andreas von Bernstorff mit seinen großen Ländereien auf der einen Seite hatte die Kirche entschieden, ihr Land auf der anderen Seite der Bohrstelle nicht zu verkaufen, die Salzrechte nicht herzugeben. Mit dem Widerstand der Kirche hatte man nicht gerechnet. Die bundeseigene DBE – die Deutsche Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern –, sagt Kruse, habe deshalb „immer im Kreis gebohrt.“

„Wenn der Müll weg ist, gibt es kein gemeinsames Ziel mehr.“

Kruse schätzt, dass hier im Wendland im Gegenzug zu den Härten des Protests eine ungeheure Lebensqualität entstanden ist: Menschen, die auf gutes Essen achten, Kunst schätzen. Wenn er in zwei Jahren in Pension gehe, habe er keine Veranlassung, irgendwoanders hinzuziehen. Das Loch, die Sinnkrise, werde für die Region erst kommen, wenn 2034 die Genehmigung für die Zwischenlagerung des Atommülls ausläuft: „Wenn der Müll weg ist, gibt es kein gemeinsames Ziel mehr.“

Aber vorerst funktionieren die Reflexe noch: Als erstes haben sie nach der Entscheidung eine Trecker-Demo angekündigt für den folgenden Sonntag. Und es war eine Ironie der Geschichte, dass einer der Protagonisten der Bewegung, Wolfgang Ehmke, Autor, Sprecher der legendären Bürgerinitiative, ausgerechnet an diesem Tag durch eine Corona-Quarantäne unumstößlicher am Mitmachen gehindert, als es ein Polizeieinsatz in all den Jahren je vermocht hatte.

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Ehmke, nach 36 Jahren lautstarken Protests, wohnt in einem dieser gutmütigen, breithüftigen Wendland-Fachwerk-Häuser, die seit bald 200 Jahren tiefen Frieden ausstrahlen. Unterm Walnussbaum eine Castor-Fass-Deko. Im Ofen dörrt ein Quittenbrot.

Man sollte vielleicht ein Buch schreiben, jetzt, wo das alles vorbei ist, dann fällt ihm ein: Es wurden ja schon Bücher geschrieben. Sogar von ihm selbst. Das erste zum zehnjährigen Jahrestag des Protests liegt vor ihm auf dem Holztisch. Gorleben ist vermutlich schon jetzt der am besten dokumentierte und erforschte Widerstand der Bundesrepublik: Ein eigenes Archiv in Lüchow beherbergt die frühen Plakate, Fotos, Zeitungsberichte, Pamphlete und Bücher. Vor zwei Jahren hat ein Archäologe für seine Doktorarbeit nach den Überresten des legendären Protestcamps „Republik Freies Wendland“ von 1980 gegraben.

Wolfgang Ehmke ist Sprecher der Bürgerinitiative in Gorleben und seit 36 Jahren dabei.
Wolfgang Ehmke ist Sprecher der Bürgerinitiative in Gorleben und seit 36 Jahren dabei.

© Deike Diening

Der Protest hat im Wendland eine Bevölkerung hervorgebracht, in der jeder mit dem Begriff „wasserführendes Deckgebirge“ etwas anfangen kann und weiß, dass ein „129a-Verfahren“ den Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch zur Bildung einer terroristischen Vereinigung meint. Sie wollen verhindern, dass dieses demokratierelevante Fachvokabular nun wie Latein zu einer toten Sprache wird.

Ehmke sagt, er habe schon versprochen, dass er weiter als Berater tätig sein wird. Die ersten Orte, die auf der neuen Landkarte der möglichen Endlager-Standorte aufgetaucht sind, haben sich schon gemeldet: Syke bei Bremen, Leute aus dem Lichtenmoor und der Arbeitskreis Bergbaugeschädigter. Die Bürgerinitiative wird ihr Wissen, das sie in 40 Jahren erarbeitet hat, weitergeben, „weil es eine Verantwortung gibt“. Vor allem bei den Salzstöcken sind sie sattelfest. Ehmke klingt wie ein Sportler, der zum Ende seiner Karriere noch eine ganze Weile abtrainieren muss, weil sein Körper sonst den Schock nicht verkraftet.

Sie lernten: Wer steht auf welcher Seite? Wer ist durch Geld verführbar?

Als Ehmke von hier aus 1968 zum Studium nach Hamburg ging, interessierte er sich für Ideologiekritik. Gerade hatte er als frisch gebackener Lehrer seine erste Stelle an einem Wirtschaftsgymnasium auf St. Pauli angenommen, da rief seine Mutter an: Es war der 22. Februar 1977, Ministerpräsident Albrecht hatte Gorleben als Endlagerstandort verkündet. „Jetzt hast du mal einen Anlass zu demonstrieren!“, habe sie gesagt. „Und zwar zu Hause!“

Mütter sind so. Zu Hause ist immer gut. Blitzschnell und wie von selbst habe sich der erste Protest samt Sternfahrt und Trecker-Demo nach Hannover formiert. Plötzlich kamen theoretische Prinzipien ausgerechnet zu Hause zur Anwendung. Es begann eine Zeit, in der jeder sich eine Meinung bilden musste. Wer steht auf welcher Seite? Wer ist durch Geld verführbar? Wer knickt ein, wenn für scheinbar wertloses Land 4,30 D-Mark statt 43 Pfennige geboten werden?

Pfarrer Kruse aus Gartow hatte sich mit zunehmendem Wissen zu einem Gegner des Endlagers entwickelt, während der Bischof auszog, vor deren Einsatz Polizisten zu segnen. Diese Gegensätze hielten sie hier aus. Ehmke hat Fotos davon, wie er damals mit einem Köfferchen Info-Material der Bürgerinitiative über die Dörfer gezogen ist.

[Lesen Sie hier: Wie sich Bürgermeister in Bayern gegen das Endlager wehren.]

Ehmke findet es heute noch seltsam, wenn Studenten Bauern etwas erzählen wollen, aber hier hatte das Gespräch gefruchtet, wohl auch, weil die Studenten ihrerseits den Bauern zuhörten. Das findet er für die Demokratie heute das Lehrreichste: Wo findet in einer Gesellschaft dieser Austausch statt? Die Meinungsbildung? Bei all den unterschiedlichen Lebensentwürfen! „Das ist das Schwierigste, viel schwieriger als Parteiarbeit“, wo man ja feste Foren hat. Das Wendland, sagt er, ist dadurch heute zu einem emanzipatorischen Ort geworden. Und die Anti-Atom-Experten haben nicht vor, ihr Wissen für sich zu behalten.

Am Abend, als Gorleben raus war, las Ehmke die Nachricht zuerst im Internet. „Ich habe, ehrlich gesagt, geweint.“ Es war nicht nur die pure Freude über den Beschluss, sondern vor allem die Erleichterung, als der ungeheure Druck sich nach Jahrzehnten endlich löste.

Er hat einen hohen Preis gezahlt

Bis zuletzt hatte Ehmke darauf hingearbeitet, dass sie in dem neuen Verfahren in der ersten Runde rausfliegen, bis zuletzt hatte er geowissenschaftliche Literatur zusammengestellt, juristische Expertisen angestoßen. Die Bürgerinitiative hatte Angst, dass Gorleben als Rückfalloption beibehalten würde, falls in dem neuen Verfahren zur Endlagersuche kein Ort gefunden würde. Dass das Ganze nur ein Trick ist, um Gorleben doch noch durchzusetzen: „Eine Horrorvorstellung: Man macht ein wissenschaftliches Verfahren – und am Ende kommt Gorleben dabei heraus!“ Das ist nun nicht mehr möglich.

Einerseits hat Ehmke wie viele hier einen hohen Preis gezahlt, ist unendliche Kilometer zwischen Hamburg und Wendland gependelt. Andererseits ist er in der Welt herumgekommen, „und dann merkte man Stück für Stück, dass man Geschichte geschrieben hat!“

Widerstand ist nur glaubwürdig, wenn er von Leuten vor Ort getragen wird

Eines sei klar: Sie werden nun nicht einfach weitermachen und mit der gleichen Verve anderswo Endlager verhindern. Sie wollen niemandem ihre eigenen Protestformen überstülpen. Widerstand könne nur glaubwürdig sein, wenn er auch von den Leuten vor Ort getragen wird. Eines habe er schon angekündigt: „Wir kommen nicht mit Treckern!“

Es sind ja die Trecker, die für den Rest der Republik oft den Gorleben-Protest bebildert haben: riesige, langsame, aber kräftige Maschinen. Sie kosten so viel wie ein Einfamilienhaus, sind die Existenzgrundlage jedes Bauern. Mit ihrer ganzen Existenz unterm Hintern steuerten diese in den Protest.

In der winzigen Häuseransammlung namens Fließau dekoriert Hans „Hansi“ Zachow fürs Foto schnell noch ein gelbes Wendlandkreuz auf seinen Trecker. Von den 14.000 Betriebsstunden seiner ältesten Maschine sind viele Stunden Widerstands-Stunden.

Seine Töchter sind mit dem Protest aufgewachsen

„Es hat sich gelohnt, der Widerstand,“ sagt Zachow am Tisch in dem Haus, in dem er geboren wurde. Draußen seine Kühe im Regen und Brombeergestrüpp. Gelohnt hat es sich für ihn, für die ganze Gegend, für seine Töchter. Denn Bauer Zachow – Kühe, Kartoffeln, Zuckerrüben, Mais – hat gelernt, wie man mit der Staatsgewalt einen Umgang findet. Seine beiden Töchter sind in diesen Protest hineingeboren und mit ihm aufgewachsen.

Beide sind, glaubt Zachow, auch deshalb so außerordentlich erfolgreich, weil sie hier Wesentliches gelernt haben: Was man aushalten kann, wann man sich wehren muss, wie weit man gehen kann und wann man einlenken muss. Die Bauern hier hätten immer mit offenem Visier gekämpft, Position bezogen, aber Gewalt abgelehnt. Polizisten waren nie ihre persönlichen Feinde.

Bauer Hans „Hansi“ Zachow begann den Protest mit 22 Jahren. Nächstes Jahr geht er in Rente.
Bauer Hans „Hansi“ Zachow begann den Protest mit 22 Jahren. Nächstes Jahr geht er in Rente.

© Deike Diening

Die Töchter können zuhören, abwägen, Entscheidungen treffen und dann die Konsequenzen tragen. Die eine ist Psychologin geworden, die andere arbeitet für die GIZ, die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, in Tunis. Sie haben, vielleicht auch durch ihn, gelernt, wie man mit allen Beteiligten redet, auch, wenn sie nicht der eigenen Meinung sind. Zachow hatte irgendwann die Mobilnummer des Einsatzleiters der Polizei, und er konnte aus der Einkesselung schnell mal verschwinden, um seine Kühe zu melken und wiederkommen. Damit er dann bei der Räumung dabei sein konnte.

Es war hier immer eine besondere Mischung, sagt Zachow: diese unerwartete Allianz von Adel und Kirche, Bauern und Studenten. Die Kaltblütigen standen in der ersten Reihe vor den Wasserwerfern, die Blaublütigen spendeten Holz für das Lagerfeuer am Abend. Dieses wendländische Miteinander fanden auch die angereisten Demonstranten immer besonders: Durchgefroren wurden sie hineingebeten, haben Essen bekommen, durchnässt bekamen sie eine neue Jeans „und am nächsten Morgen ihre eigene Hose mit Bügelfalte zurück“. Die Lehrlinge, die er ausbildete, beichteten ihm später, sie seien vor allem zu ihm gekommen, um Widerstand zu lernen, wie man eine Trecker-Demo organisiert.

[Eine interaktive Karte der BGE mit einer Übersicht zu den ermittelten Teilgebieten finden Sie hier.]

2005 fuhr der Bauer nach Bayern zur Kur. Dort traf er einen Polizisten. „Ich kenne Sie“, sagte der plötzlich. „Aus den Lehrfilmen für die Polizei.“ Es war ein Einsatzleiter aus Frankfurt. Jetzt waren beide reif für die Kur und diskutierten, wer von ihnen beiden der Gute sei. Bei der Polizei hatten sie lange gedacht, es handle sich hauptsächlich um „Chaoten“. Schließlich hatten sie von der Bäuerlichen Notgemeinschaft gerade ihren Nackt-Kalender herausgebracht. Zachow gluckst. „Ich war der Januar.“ 24.000 Euro haben sie damit erlöst, das reichte für einige Prozesskosten.

Es ging auch darum, sich nicht vereinnahmen zu lassen. Von niemandem, auch nicht von Bio-Bewegten. So hatte etwa Zachow selbst mal überlegt, seinen Hof auf Bio-Landwirtschaft umzustellen, aber dafür war sein herkömmliches Modell einfach zu erfolgreich: Sie produzierten hier mit ihren Kartoffeln in einer eigenen Brennerei hochprozentigen Alkohol für die pharmazeutische Industrie, das Ausgangsmaterial wuchs in wenigen hundert Metern Entfernung. Das war schließlich auch regional!

Leute aus Katalonien und Fukushima tauschten sich mit ihm aus

Man könnte auch sagen, sie haben hier hochprozentigen Widerspruchsgeist gebrannt. Und Hansi Zachow verteilte den in der Welt: Er tauschte sich mit Winzern aus Katalonien aus und Leuten aus Fukushima. Es gab Zeiten derartiger Berühmtheit, da ist ein Brief, mit „Hansi Zachow, Wendland“, bei ihm auf dem Hof angekommen. Jetzt ist er 65 Jahre alt, als erstes wird er im nächsten Jahr die Kühe abschaffen, dann fällt schon einmal das tägliche Melken weg. Er wird hier wohnen bleiben, natürlich, aber den Hof wird er verpachten an jemanden, der dann auf Bio umstellt.

Die ehemalige Brennerei haben sie jetzt für kleines Geld an jemanden verkauft, der darin Zirkuswagen restaurieren wird. Ein bisschen was Besonderes, sagt Zachow, soll es hier schon bleiben.

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