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Gabriele Rohmann, Leiterin des Archiv der Jugendkulturen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Jugendforscherin über politisierte Szenen: „Täter radikalisieren sich nicht nur virtuell“

Gabriele Rohmann leitet das Archiv der Jugendkulturen in Berlin-Kreuzberg. Sie sieht die Gefahr einer Unterwanderung von rechts. Ein Interview.

Gabriele Rohmann, Jahrgang 1968, ist Sozialwissenschaftlerin und beschäftigt sich seit vielen Jahren intensiv mit Rechtsextremismus. Zusammen mit sechs Kollegen gründete sie 1997 das Archiv der Jugendkulturen in Berlin-Kreuzberg, das sie mittlerweile leitet. Das Archiv bezeichnet sich selbst als das „Gedächtnis der Szenen“. Es versammelt Literatur über und aus Jugendbewegungen, von Punks, Skins, HausbesetzerInnen, dazu Fotos und Szenemagazine. Strukturelle Förderung bekommt das Archiv nicht, weswegen ein zwangsweiser Umzug in diesem Jahr zur Bedrohung wird: Es fehlen 45 000 Euro, um die Miete zu zahlen.

Frau Rohmann, der Jugend wird vorgeworfen, ihr sei alles gleichgültig. Aber wenn sie Straßen und Kreuzungen fürs Klima lahmlegt, ist es auch wieder nicht recht. Auf wessen Seite liegt das Verständnisproblem?

Schon in erster Linie bei den Erwachsenen. Das zieht sich durch die Jahrhunderte. Im Prinzip reden heute ganz viele über die Jugend wie in der Antike. Die Klagen, dass man die Jugendlichen nicht versteht, dass sie schwierig und faul sind, dass sie kein Interesse haben und keinen Respekt, die gab es schon immer.

Sie sind selbst bei Demos gewesen. Zu Forschungszwecken oder weil Sie fürs Klima auf die Straße gehen wollten?

Beides. Ich wollte sehen, wer sich da trifft und wie die Stimmung ist. Es hat mich beeindruckt, dass die Kids wirklich das Zepter in der Hand hatten und nicht die Älteren, das fand ich ziemlich neu.

Jugendkultur definieren Sie als freiwilligen Zusammenschluss gleichgesinnter, überwiegend junger Menschen. Ist Fridays for Future eine Jugendkultur?
Nein. Das ist erstmal eine gleichgestimmte Menge, so würde man es auch in der Soziologie sagen. Klar, die haben sich schon vernetzt und eine Struktur reingebracht. Aber es ist überwiegend ein One-Issue-Movement, sehr fokussiert auf ein Thema: Klima.

Fridays for Future Demonstration Ende Februar in Hamburg. Mit dabei: Greta Thunberg (Mitte).
Fridays for Future Demonstration Ende Februar in Hamburg. Mit dabei: Greta Thunberg (Mitte).

© imago images/Andre Lenthe

Erwachsene reagieren teils arrogant. FDP-Chef Christian Lindner sagte, die sollten das mit dem Klimawandel „Profis überlassen“.
Das Falscheste, was man machen kann. Das ist wirklich ein PR-Desaster für die älteren Parteien gewesen, wie sie auf die Bewegung reagiert haben. Das kann man nicht machen, Jugendliche so abtun und zum Beispiel auch den Youtuber Rezo als Populisten abstempeln.

Der provozierte mit seinem Video „Die Zerstörung der CDU“.
Das enthält natürlich Verkürzungen und populistische Elemente. Aber wie viele Politiker treten denn verkürzend auf, gerade im Wahlkampf? Rezos Video wurde mehr als 16,5 Millionen Mal aufgerufen, es stehen mehr als 236 000 Kommentare darunter. Das ist eine Reichweite, die man ernst nehmen sollte.

Parteien sind bei Jugendlichen laut aktueller Shell-Studie nicht hoch im Kurs. Gleichzeitig haben wir eine hochpolitische Bewegung, ein One-Issue-Movement.
Die Idee von One-Issue-Kampagnen haben wir schon bei Campact erlebt. Deren Kampagnen sind meistens fokussiert auf ein Thema. Das ist ein Erfolgsmodell, Jugendliche kriegen so was mit. Und sie haben ganz berechtigte Ängste. Wir merken die Folgen des Klimawandels. Die Jugendlichen fragen uns: Was habt ihr gemacht?

Eine Rebellion?

Sehr viel gemäßigter als das, was wir früher gemacht und unseren Eltern vorgeworfen haben. Es ist auch nicht irre reflektiert bei vielen, so dass sie sagen: Ich stelle jetzt meinen Lebenswandel total um und höre auf bei Netflix zu streamen, was immerhin auch immens zum ökologischen Fußabdruck beiträgt. Aber diese Generation der 14, 15, 16-Jährigen hat noch eine Menge vor sich. Sie sehen nüchtern, dass es nicht gut aussieht, wenn nicht deutlich was passiert – und das artikulieren sie. Die treibt keine Langeweile um, sondern ein Grundunwohlsein.

Es gibt relativen Wohlstand – ein Grund dafür, dass sich nun so viele engagieren?
Wohlstand ist sicher förderlich. Es demonstrieren überwiegend Mittelstandskids aus akademischen Elternhäusern. Die haben früh gelernt, sich zu artikulieren und ihre Interessen zu vertreten – auch Erwachsenen gegenüber. Das weiß man aus den ersten Studien zu Fridays for Future. Doch ich wäre vorsichtig: Vielen Jugendlichen in Deutschland geht es nicht gut. Wir haben keine tollen Bildungschancen für alle – und eine Menge Jugendliche, die frustriert sind. Das hat die Shell-Studie ja auch gezeigt.

Der gemeinsame Nenner darin war Angst: vor dem Klimawandel oder Ausländern.
Die Polarisierung, eine große Gefahr in unserer Gesellschaft, zeigt sich auch in dieser Generation. Es ist gefährlich, was hier passiert, dieses Nicht-mehr-dialogbereit-Sein. In der Shell-Studie bekam diese eine Aussage viel Zustimmung: Sobald man da irgendwas sagt, wird man rechts eingestuft oder als Rassistin oder Rassist.

68 Prozent.
Es ist der Klassiker und das Totschlagargument an Stammtischen.

Wie viele Jugendliche engagieren sich in Jugendkulturen?
Es gibt keine verlässlichen Zahlen, geschätzt sagen etwa 20 bis 25 Prozent der Jugendlichen: Ich bin Punk, ich bin Skin, ich bin Rapperin. Aber der Einfluss, den diese Szenen haben, wirkt auch auf alle anderen. Früher waren die Leute allerdings beständiger, heute haben wir viel mehr Szenenhopping.

Wenn Hopping so einfach funktioniert, heißt es doch: Das ist alles keine Frage der Einstellung, sondern der Mode.
Teilweise. Man kann Leute aus der Hip-Hop-Szene heute nicht mehr so erkennen wie vor 20, 30 Jahren. Die ersten Hip-Hopper und Hip-Hopperinnen Ende der 70er sahen mehr nach Disco-Culture aus. Erst später kamen die Baggy-Pants, der Gangstarap-Style. Es gibt aber sowieso nicht den Hip-Hop, den Punk, die Skinhead-Szene, denn sie alle haben politische Spektren von ganz links bis ganz rechts, es gibt rechte Rapper, rechte Graffitis. Jeder kann sich aussuchen, wie und was ihm oder ihr gerade passt.

Gilt die Formel: Je anrüchiger, desto attraktiver?

Die nicht-rechte Skinheadszene ist ein gutes Beispiel, darüber habe ich in den 90er Jahren im Rahmen einer Feldstudie intensiv recherchiert. Den Sozialisationsweg habe ich in vier Phasen aufgeteilt. Da gab es die Erkennungsphase: Es gibt ja nicht-rechte Skins! Dann die Sympathisantenphase. Die Einstiegsphase, in der man den Sozialkontakt sucht. Sobald man sich an Szeneaktivitäten beteiligt, etwa ein Szene-Magazin mitgestaltet oder eine Band gründet, führt das zur Etablierungsphase. Für manche gibt es irgendwann eine Ausstiegsphase. Oft wird eine Szene aber wie eine Blackbox von oben betrachtet und blind charakterisiert.

Vorurteilsmäßig?
Je auffälliger die sind, desto mehr wird danach geschaut: Wie sieht der Staat die? Zum Beispiel im Verfassungsschutzbericht. So war das in den 90er Jahren bei Skinheads. Die galten damals den meisten Leuten per se als rechts, da wurde gar nicht differenziert, dass es unterschiedliche Wurzeln und politische Haltungen gab, Skinheads gegen Rassismus etwa oder ein Gay Skinhead Movement. Für uns war das der Impuls, das Archiv der Jugendkulturen zu gründen. Wir wollten einen Ort schaffen, an dem man sich vielfältig und differenziert informieren kann.

Nach welchen Kriterien werden Sachen für das Archiv ausgewählt?
In der Gründungszeit haben wir genommen, was wir hatten und von Bekannten kriegen konnten. Wir haben das Archiv zu siebt gegründet. Der Initiator Klaus Farin hat viele Jahre als Journalist gearbeitet und Materialien aus seinen Recherchen diversen Universitäten angeboten. Die wollten sie nicht haben – wir wollten sie erhalten. Dazu kamen unsere eigenen Bücher und Videos. So haben wir mit Schwerpunkt Skins, Punks und Hooligans angefangen.

Punks vor dem Tacheles in der Oranienburger Straße 1997.
Punks vor dem Tacheles in der Oranienburger Straße 1997.

© imago stock&people

Alles mit eigenen Materialien?
Und mit Spenden. Fanzines kamen dazu, als sich herumgesprochen hat, dass man uns vertrauen kann. Tolle Plakate haben wir von einer Düsseldorfer Punkerin geerbt, von einem Hamburger Journalist bekamen wir einen Dachboden voll popkultureller Zeitschriften. Institutionelle Förderung bekommen wir nicht. Wir sind professionelle Messies, alles, was mit Jugendkultur zu tun hat – her damit.

Wie kommen Sie an die abgeschlosseneren Szenen ran?
Wir machen keine Undercover-Recherchen, sondern fragen gezielt an, ob wir Fanzine-Exemplare haben können. Aber je geschlossener so eine Szene ist, und da spreche ich nun besonders von den rechten Szenen, desto schwerer ist es. Solche Sachen zu kaufen ist ein ethisches Dilemma, weil der Erlös ja auch wieder in die rechte Szene ginge und das wollen wir nicht. Der Vorteil bei den aktuellen Sachen: Die meisten sind im Internet.

In Ihrer Bibliothek stehen Titel wie „Lords of Chaos: Satanischer Metal. Der blutige Aufstieg aus dem Untergrund“ oder „We can do, geschlechtsspezifische Raumaneignung am Beispiel von Graffiti von Mädchen und jungen Frauen in Berlin“. Wer sieht sich so etwas an?
Der überwiegende Teil der Menschen, die herkommen, sind Wissenschaftler, Studierende, die an ihren Abschlussarbeiten schreiben. Dann gibt es auch andere Zielgruppen, etwa aus den Medien und der Filmbranche, die möglichst authentischen Zugang haben möchten. Dazu kommen Leute aus dem sozialpädagogischen Bereich und der politischen Bildung. Und Leute aus den Szenen selbst, die gern stöbern.

Vorhin hielten wir ein Buch in der Hand, „Kultobjekte der Neunziger“. Darin: Bärlauch. Der spielt auch eine Rolle?
Ja, klar. Auch Bärlauch kann politisch werden, wenn er etwa deutschnational aufgeladen wird in der Siedlerbewegung.

Wie wichtig sind Musik und Literatur für Jugendliche?
Musik spielt eine ganz große Rolle. Literatur kann sich unterschiedlich artikulieren. Bei Songtexten zum Beispiel sind die Grenzen fließend. Und es gibt Literatur in Form von Comics und Graphic Novels, oder als Bildsprache in Form von Graffiti. Es ist beides etwas ganz Elementares, was Menschen brauchen und wollen.

Eine Erzählung, die das eigene Tun legitimiert?
Genau. Musik ist ja auch sehr wichtig im Zusammenhang mit Emotionen. Deswegen ist Musik so neuralgisch, in welche Richtung man gezogen wird. Damit arbeitet die rechte Szene stark, indem sie ihre Zugänge geändert hat. Viele achten auf die Beats, und wenn man die cool findet und die Texte nicht ganz versteht oder nicht zuhört …

... gewinnen Rapper wie Farid Bang und Kollegah Musikpreise.
In unserem Intervention-Set gegen Antisemitismus haben wir eine Karte dazu: Fetter Track, übler Text. Darauf empfehlen wir, dass es sinnvoll ist, sich auch mal Texte anzuhören und nicht nur auf den Beat zu achten. Nicht alle, die Kollegah oder Haftbefehl hören, sind automatisch Antisemiten. Aber die Gefahr besteht, dass man sich diese Narrative aneignet und verinnerlicht. Als wir vor drei Jahren die Identitären aus Berlin interviewten, haben die klar gesagt: Sie wollen die neue Jugendbewegung werden.

Die Rapper Kollegah (links) und Farid Bang bei der 27. Verleihung des Deutschen Musikpreises Echo im April 2018.
Die Rapper Kollegah (links) und Farid Bang bei der 27. Verleihung des Deutschen Musikpreises Echo im April 2018.

© Jörg Carstensen/dpa

Indem sie Jugendkulturen unterwandern?
Schon die NPD hatte sich das Anfang der 2000er Jahre für Techno überlegt. Das wollten sie als die neue deutsche Jugendkultur ausrufen, wegen Kraftwerk, vier weißen deutschen Jungs aus Düsseldorf. Da hatten die auch schon gemerkt: Mit Nazirock alleine kriegen wir die Kids nicht. Sie haben natürlich bewusst unterschlagen, dass die ganze House Music auch aus dem schwulen schwarzen Chicagoer Club-Milieu kommt. Ich finde, wir Erwachsenen sind geradezu verpflichtet, die Jugendkulturen zu schützen.

Ist das nicht der Albtraum der Jugend?
Kommt darauf an, wie man es tut. Wenn es paternalistisch ist – wir machen euch zum Weltkulturerbe, wenn ihr das, das, das erfüllt – dann ist es natürlich der pure Albtraum. Aber man kann es in einer Art und Weise machen, dass man die Jugendlichen unterstützt. Etwa dass sie Freiräume haben. Erwachsene haben nun einmal mehr strukturelle Macht. Wir sehen das deutlich in den Diskussionen um das Drugstore und die Potse hier in Berlin.

Die beiden ältesten selbstverwalteten Jugendzentren, die schließen müssen.
Das Drugstore und die Potse waren ein Museum an jugendkultureller, für Berlin relevanter sub- und popkultureller Geschichtsschreibung. Da sind Die Ärzte aufgetreten, als sie noch kaum jemand kannte, oder Einstürzende Neubauten. An den Wänden überall alte Konzertplakate. Das einfach so dichtzumachen, ist bitter. Es ist gar kein Schutz mehr da für so einen Freiraum.

Musik-Kundgebung für den Erhalt von Potse und Drugstore in der Potsdamer Straße. Schon im Sommer 2017 wurde dafür demonstriert.
Musik-Kundgebung für den Erhalt von Potse und Drugstore in der Potsdamer Straße. Schon im Sommer 2017 wurde dafür demonstriert.

© Florian Boillot/DAVIDS

Trotz aller Digitalisierung braucht es noch analoge Räume?
Ja natürlich. Wir brauchen die direkte Begegnung. Man kann nicht alles nur über Social Media machen – und das tun die Jugendlichen ja auch gar nicht. Wo sie keine Räume haben, hängen sie an Bushaltestellen oder wo auch immer ab.

Wie können Erwachsene die Jugendlichen schützen?
Ich meine ganz konkret die Entscheidungsträger und -trägerinnen in diversen Ministerien, Behörden, Institutionen, Schulen, Jugendeinrichtungen, Initiativen. Es muss eine Sensibilität für Jugend und Jugendkulturen geben und natürlich auch für das Ungute. Haltung zeigen ist auch eine Form von Schutz. Rechte Einflussnahme ist nicht immer sofort und leicht zu erkennen. Nehmen Sie ein Video des Rappers Komplott. Der rappt ein bisschen über Europa und Identität. Plötzlich sieht man auf den Bildern Pegida, Lutz Bachmann und so weiter. Das ist rechte Propaganda pur, auch wenn man sie auf den ersten Blick nicht erkennt.

Innenminister Horst Seehofer hat nach dem Anschlag auf die Synagoge von Halle die Gamerszene verdächtigt.
Gaming ist eine Szene, wo man nicht so richtig durchsteigt. Das macht sie aus Sicht der Sicherheitsbehörden suspekt. Wer oder was ist denn ein Gamer oder eine Gamerin? Es ist ein Riesenfeld. Zu sagen, der Täter hat sich in der Szene radikalisiert und nur virtuell, das ist aus Sicht der politischen Bildung so nicht haltbar. Das passiert so nicht. Seehofer hätte genauso gut sagen können: Das ist der Hip-Hop. Weil Mister Bond, dessen Musik der Täter hörte, rappt. Die Gamingszene ist sicher keine Blümchenwiese. Doch so ist das auch eine verkürzte Sicht auf Antisemitismus und Rechtsextremismus.

Was wäre so schlimm daran, wenn es die Unterstützung, die sie fordern, nicht gibt?

Dann haben wir hier irgendwann eine homogene deutsche Volksjugendkultur. Wenn nämlich alles rechts aufgeladen und mit völkisch nationalen Inhalten versehen wird. Und alles andere, was tatsächliche Vielfalt bedeutet, wird zurückgedrängt. Noch sind wir nicht an diesem Punkt. Zum Glück noch nicht. Aber ich sehe die Gefahr.

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