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Wunschziel Berlin. Seit die Bundesregierung ihren Sitz von Bonn nach Berlin verlegt hat, zieht die Hauptstadt die Eliten aus Politik, Gesellschaft, Kultur und Medien an. Rund um das Regierungsviertel beziehen seither namhafte Beratungsgesellschaften, Anwaltskanzleien, Medienunternehmen und Interessenvertreter ihre Büros.

© Kai-Uwe-Heinrich

Kommunikationsforscher Wilhelm Bürklin: Die neue Elite trifft sich in Berlin

Die deutsche Gesellschaft hat sich verändert. Und mit ihr auch die politische Kultur der Bundesrepublik. In Berlin treffen sich die Spitzen des Landes – allerdings nicht immer die der Wirtschaft.

Wer die Berliner Republik verstehen will, der sollte nach London reisen. Dort zeigt das British Museum in der weit beachteten Ausstellung „Germany: Memories of a Nation“ ein Deutschlandbild, das mit vielen eingefahrenen Stereotypen aufräumt: Nicht Pickelhauben, Sturmgewehre und Panzer prägen das neue Deutschlandbild, sondern Kunst, Kultur und die ausgelassenen Freudentänze auf der Berliner Mauer. Man bewundert, dass es Deutschland erstmals in seiner Geschichte gelungen ist, die nationale Einheit im Einvernehmen mit seinen Nachbarn zu erringen. Dieses Deutschland, so die Meta-Botschaft, hat seine militaristische Vergangenheit abgeschüttelt. Die friedliche Revolution der Ostdeutschen und das diplomatische Geschick der von Helmut Kohl geführten Bundesregierung bescherten den Deutschen ein moralisches Guthaben, das die Kosten des Wiederaufbaus mehr als aufwiegt.

Den Briten fällt es aus der Distanz leichter, die Veränderungen der deutschen Gesellschaft zu erkennen. Tatsächlich hat sich nicht nur die Wahrnehmung unserer europäischen Nachbarn verändert, sondern auch die politische Kultur der Berliner Republik selbst. Sie wird geprägt von einer neuen Generation von Führungskräften, die die demokratischen Normen tief verinnerlicht hat. In ihrer sozialen Zusammensetzung ist sie bunter und offener als je zuvor. Wer die Deutschen verstehen will, muss ihre Eliten untersuchen.

Die entscheidende Grundlage für den Wertewandel in der deutschen Elite ist der abgeschlossene Generationswechsel. Als 1949 die beiden Republiken gegründet wurden, kam die Mehrheit der Führungskräfte noch aus der Generation, die im Kaiserreich politisch geprägt worden war – und mit ausgeprägt elitärem Selbstbewusstsein auftrat. Sie hatte beide Weltkriege, die Weltwirtschaftskrise und die NS-Diktatur durchlitten und war primär am wirtschaftlichen Wiederaufbau interessiert. Wohlstand für alle – die politische Beteiligung konnte warten –, das war ihr demokratisches Mandat.

Die neue Elite definiert Führung anders

Im Vergleich dazu ist die heute tonangebende Führungsschicht wohlbehütet aufgewachsen. Sie hat das Gleichheitsideal verinnerlicht und versteht Demokratie als Basisdemokratie. Für sie ist die politische Beteiligung immer wichtiger geworden. Nur so lässt sich auch erklären, warum heute nicht nur Grüne und SPD über ausverhandelte Koalitionsverträge abstimmen lassen, sondern demnächst auch die CDU.

Die neue Elite definiert Führung anders. Weniger als Durchsetzung gegen Widerstände, so wie Konrad Adenauer die Wiederbewaffnung oder Helmut Kohl die Nachrüstungsdebatte durchgezogen hat, sondern als Ausführung kollektiver Beschlüsse, als imperatives Mandat.

Zwischen der Gründergeneration und der neuen Elite liegen Welten. Das spiegelt sich auch in der veränderten Zusammensetzung der Führungsschicht. Der Zugang zur Elite ist offener geworden. Immer weniger bestimmt die soziale Herkunft über den Aufstieg. Wer heute über einen Hochschulabschluss verfügt – das ist allerdings die Mindestanforderung –, wird auf seinem Karriereweg hauptsächlich nach seinen Leistungen beurteilt. Das gilt besonders für die höchsten Elitepositionen. Der scharfe Wettbewerb um die besten Führungskräfte verändert und modernisiert die Elitenrekrutierung. Große Defizite der meritokratischen Elitenauswahl gibt es allerdings noch immer im schulischen Bereich für Kinder aus sozial schwächeren Familien.

Aufholjagd der Frauen auf dem Weg nach oben

Die wenigsten Hindernisse auf dem Weg nach oben gibt es im politischen Bereich. Das zeigen eindrucksvoll die Karrieren von Joschka Fischer, der es ohne abgeschlossene Berufsausbildung in höchste Staatsämter schaffte, oder Gerhard Schröder, der als Sohn einer Putzfrau zum Bundeskanzler aufstieg. Auch Angela Merkel verfügte als protestantische, in der DDR aufgewachsene Frau nicht über die soziale Herkunft, die sie zum Aufstieg in der westdeutsch geprägten CDU prädestinierte. Merkels Aufstieg symbolisiert beides, die soziale Öffnung der deutschen Elite und die Aufholjagd der Frauen auf dem Weg nach oben. Die besten Chancen finden diese bisher in Politik, Kultur und bei den Medien – Tendenz steigend.

In Berlin bündeln sich diese Veränderungen wie in einem Brennglas. 25 Jahre nach dem Fall der Mauer hat die Stadt ihre Rolle als Metropole Deutschlands wiedergefunden. Zum einen, weil sie als Regierungssitz der zentrale Anziehungspunkt für alle politiknahen Interessengruppen ist. Zum anderen aber auch, weil die Stadt eine spektakuläre Anziehungskraft auf viele Intellektuelle, Kulturschaffende, Wissenschaftler und Medienvertreter entwickelt hat. Seit Jahren ungebrochen ist die große Wanderungsbewegung der intellektuellen Sinnstifter in die Metropole.

Am Anfang dieser Bewegung standen die großen Wirtschaftsverbände. Schon 1999 verlegte der Bundesverband der Deutschen Industrie seinen Hauptsitz in die Stadt, in der er schon im Kaiserreich gegründet worden war. Auch der Bundesverband deutscher Banken, 1901 in Berlin als Centralverband des deutschen Kreditgewerbes gegründet, kam 1999 aus Köln zurück in die Mitte. Nur wenige der großen Wirtschaftsverbände, wie der in Frankfurt am Main residierende VCI, haben dem Sog widerstanden und begnügen sich bis heute mit einer Repräsentanz in Berlin. Die meisten Wirtschaftsverbände sitzen heute in der Hauptstadt. Auch die gesellschaftspolitische Lobby hat sich auf den Weg gemacht. Jüngstes Beispiel ist der 1995 in Bonn gegründete NGO-Dachverband Venro, der die politischen Interessen von rund 120 Organisationen vertritt. Die Musik spielt in Berlin. Wer heute in der Politik mitreden will, muss dort auch präsent sein. Eine solche Verbandsdichte hat es in der Hauptstadt Bonn nie gegeben.

Begleitmusik zum Berliner Politikbetrieb spielen die Medien

In der ersten Reihe der gesellschaftlichen Sinnstifter, die in die Parteien hineinwirken können, stehen die politischen Stiftungen. Mit Ausnahme der Friedrich-Naumann-Stiftung, die sich im nahen Potsdam niedergelassen hat, sitzen die Vordenker der Friedrich-Ebert-, Konrad-Adenauer-, Heinrich-Böll- und Rosa-Luxemburg-Stiftung unweit des Regierungsviertels. Doch sie stehen in einem scharfen Aufmerksamkeitswettbewerb mit zahlreichen privaten Stiftungen und Unternehmensrepräsentanzen, die sich häufig nur einen Steinwurf entfernt vom Reichstag niedergelassen haben. So etwa das Allianz-Stiftungsforum am Pariser Platz oder die Alfred-Herrhausen-Stiftung Unter den Linden. Letztere hat als Schwerpunkt ihrer Arbeit die neuen Formen des Regierens im 21. Jahrhundert gewählt. Wer zu ihren Konferenzen geladen ist, kann mit Ministern, Bundeskanzlern und Nobelpreisträgern ins Gespräch kommen und gehört zum engeren Kreis der Berliner Multiplikatoren.

Die Begleitmusik zum Berliner Politikbetrieb spielen die Medien. Sie haben die größere Bedeutung Berlins rasch thematisiert und verstärkt. Die Hauptstadtstudios von ARD und ZDF sind bedeutender geworden, wenn auch der Sitz von ZDF, WDR und anderer Sendeanstalten in den Landeshauptstädten geblieben ist. Die föderale Ordnung steht hier der Zentralisierung entgegen. Faktisch aber wird die politische Agenda immer häufiger in Berlin gesetzt. Maybrit Illner und Günther Jauch senden ihre bundesweit meinungsbildenden Talkshows aus Berlin. Beide gehören zur Spitze der nicht kleinen Berliner Kommunikationselite, die eng miteinander vernetzt ist und weit über Berlin hinaus Wirkung entfaltet.

Das gilt auf für die Printmedien, obwohl Hamburg, Frankfurt oder München auch künftig bedeutende Standorte bleiben werden. Doch die einflussreichsten Journalisten von „Spiegel“ und „Stern“, „Zeit“ und „Focus“, „Süddeutscher Zeitung“ und „Frankfurter Allgemeinen“ wird man zu vielen Gelegenheiten in Berlin treffen. Auch privat, bei kulturellen Events oder in einer der zahlreichen Restaurants und Szenekneipen in Friedrichshain oder Charlottenburg. Dort trifft man viele ehemals bekannte Gesichter, Pensionäre aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, die sich vom neuen Ambiente der Hauptstadt angezogen fühlen. Die intellektuelle Elite ist in Berlin angekommen, nicht aber die großen Unternehmen.

Unternehmen haben politische Repräsentanzen in Berlin

Berlin konnte seine Rolle als ehemals größte Industriestadt Deutschlands nicht zurückgewinnen. Ein spätes Erbe der deutschen Teilung. Viele Traditionsunternehmen, wie etwa Siemens oder die Deutsche Bank, beide im 19. Jahrhundert in Berlin gegründet, zogen sich nach dem Zweiten Weltkrieg aus der „Frontstadt“ zurück. Sie verlegten ihre Konzernsitze in den sicheren Westen. Um dennoch in Berlin Flagge zu zeigen, haben fast alle größeren Unternehmen politische Repräsentanzen eingerichtet. Die Vorbereitung der politischen Kontakte liegt in den Händen qualifizierter Lobbyisten.

Für alle wichtigen Termine werden die Unternehmensspitzen eingeflogen. Damit aber fehlen in Berlin weiterhin die Top-Führungspositionen in Wirtschaft und Finanzwelt. Wer in die deutsche Wirtschaftselite aufsteigen will, muss sich von Berlin verabschieden. Die für Berlin charakteristisch schiefe Elitenformation wird auch im Stadtbild sichtbar. Es fehlt noch immer an einer hinreichend großen kaufkräftigen Oberschicht, die das Stadtbild und den Handel prägen könnte. Wer Berlin mit Metropolen wie Paris oder London vergleicht, wird Klaus Wowereit zustimmen: Berlin ist arm, aber sexy.

Der Regierende Bürgermeister musste sich wiederholt vorhalten lassen, dass er zu wenig mit den großen Wirtschaftsunternehmen ins Gespräch gekommen sei. Häufig habe in den Verhandlungen mit der Wirtschaft schon die Chemie nicht gestimmt. Das wirft die grundsätzliche Frage auf, wie gut die verschiedenen Teile der deutschen Elite miteinander kommunizieren. Wie eng stimmen sich die Eliten aus Politik und Wirtschaft ab? Gibt es dazu spezielle Netzwerke? Und wo findet die übergeordnete Abstimmung statt?

Kommunikationszentrum Deutschlands

Eine Antwort darauf findet sich in der Potsdamer Elitestudie von 1995, wo die Kontaktmuster in der Gruppe der „Oberen Viertausend“ untersucht wurden. Nicht überraschend war das Ergebnis, dass die deutsche Elite alles andere ist als ein monolithisches Gebilde. Die Deutschland AG gehört seit langem der Vergangenheit an. Die Eliten kommunizieren zwar miteinander, in der Regel aber in thematischen Netzwerken. Ein Netzwerk besteht etwa zwischen Politik und Verwaltung, ein weiteres zwischen Wirtschaft und Verwaltung.

Das weitaus bedeutendste Netzwerk, das sich in dieser Analyse herauskristallisierte, ist das sogenannte Kommunikationszentrum. Hier stimmen sich die Regierungsparteien und -fraktionen, die Verwaltungsspitzen der Ministerien und der Bundesbehörden, die wichtigsten Medienvertreter und die einflussreichsten Interessenverbände untereinander ab. Das Kommunikationszentrum hat sich zum zentralen Verbindungsglied zwischen den einzelnen Netzwerken entwickelt. Hier laufen die Fäden zusammen. Die Kommunikation der bundesdeutschen Führungsschicht verläuft hier über die Spitzen der Teileliten. Im Kommunikationszentrum Berlins sitzt die „Elite der Eliten“.

Fazit: Der Umzug der Bundesregierung hat das institutionelle Gefüge der Republik nur wenig verändert. Doch Berlin ist dadurch zum Kommunikationszentrum Deutschlands geworden. Wer auf die großen gesellschaftlichen Themen Einfluss nehmen will, wer die Top-Multiplikatoren und Entscheider für seine Anliegen gewinnen will, der sollte in Berlin präsent sein.

Professor Wilhelm Bürklin war Wissenschaftlicher Leiter der DFG-finanzierten „Potsdamer Elitestudie“. Er war von 1998 bis 2008 Mitglied der Geschäftsführung des Bundesverbandes deutscher Banken.

Dieser Text erschien in der "Agenda" vom 04. November 2014 - einer neuen Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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Wilhelm Bürklin

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