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Koch Christoph Hauser (rechts) beim Potsdamer Schweinezüchter Clemens Strohmeyer.

© Sina Schuldt/picture alliance/dpa

Jetzt geht's ans Eingemachte: Wie die Coronakrise für einen Küchenchef zur Chance wurde

Das Restaurant „Herz & Niere“ zog mit einem besonderen Konzept Gäste aus aller Welt an. Nun schließt es - nicht nur wegen Corona, wie der Gründer verrät.

Christoph Hauser verlangsamt kurz seine Schritte, bleibt stehen und sagt: „Alle Ziele, die wir je hatten, haben wir ja erreicht.“ Er steht in der Hasenheide, etwa auf Höhe des Tennisclubs „Tennis 1a“. Es ist der 8. Dezember, grob neun Monate seit Beginn der Coronakrise und genau 22 Tage bis zu dem Tag, an dem Küchenchef Christoph Hauser und Gastgeber Michael Köhle ihr Restaurant „Herz & Niere“ in der Fichtestraße 31 in Kreuzberg nach sechseinhalb Jahren für immer schließen. Eines der ersten und einzigen Restaurants der Republik, das ganze Tiere, von der Nase bis zum Schwänzchen, kochte. Und auch alle essbaren Innereien. Ein großes, geglücktes Experiment kommt damit zum Ende.

„Wir haben erstmal ganz schön geheult“ sagt Hauser über den Tag der Entscheidung. „Und dann haben Michael und ich eine Flasche Bollinger Champagner aufgemacht.“ Als Köhle und Hauser Mitte September das Ende ihres Restaurants öffentlich bekannt geben, geht ein Rauen durch das kulinarische Berlin. Billy Wagner, der Chef des Sterne-Restaurants „Nobelhart & Schmutzig“, „hat seine Joggingrunde unterbrochen und ist sofort zu uns gekommen“, erzählt Hauser. „Und Max Strohe vom Tulus Lotrek saß den halben Abend mit uns rum.“

2020 war für die Berliner Gastronomie natürlich kein gutes Jahr. Mehrere Lockdowns, kaum Touristen und eine unsichere Wirtschaftslage haben auch langjährigen Publikumslieblingen zugesetzt. „Barcomis Deli“ in Mitte: zu. Die „Palsta Wine Bar“ in Neukölln: dicht. Das Hipstercafe „Rose Garden“ an der Torstraße: geschlossen. Das mexikanische „La Lucha“ am Paul-Lincke-Ufer: auch zu. Thomas Lengfelder, Hauptgeschäftsführer des Hotel- und Gaststättenverbandes schätzt, dass 30 Prozent der Berliner Restaurants durch Corona ihr Geschäftsmodell verlieren.

Auch die Verschläge des „Herz & Niere“ im Souterrain sind schon zugezogen, rote Plastikwannen mit Einmach- und Weingläsern stehen auf den schlichten Tischen und auf der Theke, die knallbunten Bilder von Möhren und Rüben an den Wänden sind nur eine Ahnung im Halbdunkel. Nur zwei brummende Kühlschränke voller Einmachgläser mit einem „Weck die Heimat“-Aufkleber und gefüllt mit Rahmgulasch, Bolognese, Frikassee und Königsberger Klopsen verraten, dass das Licht im „Herz & Niere“ noch nicht ganz ausgegangen ist. Noch nicht.

Hauser hat sich für den Spaziergang eine blau-gelbe Schiebermütze auf die dunkelblonden Haare gezogen, eine warme Jacke umgelegt und ist aus dem dunklen Lokal getreten, hat dann das weinrote Stahlgitter mit dem handgeschriebenen Goethe-Zitat („Kein Genuss ist vorübergehend, denn der Eindruck, den er hinterlässt, ist bleibend!“) zugedrückt und abgeschlossen und ist losmarschiert: Durch die nahegelegene Hasenheide einerseits und andererseits durch die nun besiegelten Jahre mit seinem eigenen Restaurant, von der Eröffnungsfeier am 28. Mai 2014 bis jetzt. Bis zur Pandemie. Bis zum Ende.

Hauser spricht ein drängelndes, aufgewecktes Schwäbisch. In kantigen, aber überlegten Halbsätzen und dem immer wieder langsam ansteigenden, dann absteigenden schwäbischen Singsang klettert Hauser durch seinen Werdegang, seine Hoffnungen und Ambitionen. Von seiner Ausbildung in Hechingen auf der Schwäbischen Alb und der bodenständigen, einst ärmlichen Küche der Region, in der Innereien „nichts Außergewöhnliches“ gewesen seien. Von der großen Frage schon während seiner Ausbildung, was eigentlich mit all den Teilen der Tiere passiere, die eben kein Steak, kein Lendchen und kein Filet seien. Und von den Essgewohnheiten in der gehobenen Hauptstadtgastronomie, die er als Koch in der „Weinbar Rutz“ und als Küchenchef im „3 minutes sur mer“ kennenlernte. Bis hin zu jenem 28. Mai 2014, als er gemeinsam mit Michael Köhle das „Herz & Niere“ eröffnete.

Die „Megaidee“, wie Hauser sie nennt, war: „Das Menü von hinten aufrollen.“ Nicht von den Gästen und ihren Gewohnheiten her denken. Sondern von der Natur, vom getöteten Tier her. Ein ambitioniertes, ein politisches Konzept. Aber auch eins, mit dem es wesentlich schwieriger ist Geld zu verdienen als etwa mit einer Pizzeria.

„Mein Vater hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als er den Namen gehört hat“ sagt Hauser. „Der hat gemeint: Da kommt doch keiner!“ Hausers Co-Gründer Köhle erzählte dem Onlinemagazin „Vice“ einmal, sie hätten das Restaurant nicht „Nose to Tail“ genannt, weil sie keinen englischen Namen wollten. „Die deutsche Version wäre ‘Kopf bis Schwanz‘ – was sich aufgrund der Zweideutigkeit wahrscheinlich nicht unbedingt gut verkaufen würde.“

Tatsächlich war der Name gleichsam ein Vorteil, weil er eben keinerlei Zweifel daran ließ, was im „Herz & Niere“ anders gemacht wurde als in fast allen anderen Restaurants. Aber er war auch eine Bürde. Bis zum Schluss, sagt Hauser, war vielen nicht bewusst, dass es im „Herz & Niere“ auch Menüs ganz ohne Innereien gab. Und nicht nur das: „Es hat Jahre gedauert, bis die Leute wussten, dass wir auch ein vegetarisches Menü haben.“ Und zwar eines, beim dem alle Teile der Pflanze verwendet wurden, vom Strunk bis zur Wurzel. Hauser blickt auf die Büsche und zuckt mit den Achseln.

„Am Anfang haben wir wirklich jeden Fehler einmal gemacht“ sagt er. „Zum Beispiel haben wir zu Beginn jeder Fernsehsendung zugesagt, die einmal zeigen wollte, wie Hoden, Hirn, Euter und Zunge gekocht werden. Dadurch sind wir ein bisschen in einer Ekelecke gelandet.“

Nun, bei hasenfüßigeren Essern hätte es die TV-Sendungen dafür vermutlich überhaupt nicht gebraucht. Denn auf der Karte des „Herz & Niere“ standen neben schwäbischem Ochsenmaulsalat, Rehravioli und hausgemachter Blutwurst auch immer wieder Entenherzen, Aal-, Hühner-, und Hirschleber – zum Beispiel als eine Art Burger im Milchbrötchen – sowie Schweineschnauzen-Sülze, Würste aus Wildschweinherzen und Lammzunge. Dafür kauften Köhle und Hauser gemeinsam mit anderen ambitionierten Berliner Restaurants ganze, quasi unter Optimalbedigungen gehaltene Tiere. Und nahmen dann die Teile, die sich in anderen Lokalen nicht verkaufen ließen. „Jedes Produkt und Tier hat es auch verdient komplett verarbeitet und gegessen zu werden“ sagt Hauser – ein Satz, den er irgendwann angefangen hat in jedes Diktiergerät und jede Kamera zu sagen und der es zwischenzeitlich sogar als inoffizielles Motto des Restaurants in die Speisekarte geschafft hat.

Von der Frage einmal abgesehen, ob „von der Nase bis zum Schwänzchen gegessen werden“ für so ein Tier nicht vielleicht doch nur die zweitbeste Option nach „leben“ sein könnte, füllte das „Herz & Niere“ mit seinem Konzept eine Lücke, deren Zeit gekommen war. „Wir haben das große Glück, dass wir hier in einer kulinarischen Stadt sind“ sagt Hauser. Von den Gästen seines Restaurants seien grob 50 Prozent Berliner gewesen – und 50 Prozent Berlin-Besucher, Reisende in Sachen Gastronomie aus Deutschland und Europa, aber auch Asien. „Es gibt gar nicht so wenige Menschen, die drei, vier Tage in die Stadt kommen und dann insgesamt sechs Sterne essen wollen“ erzählt Hauser. Und neben dem Mittagstisch im „Facil“, der Forelle von Marco Müller in der „Weinbar Rutz“ und den Menüs bei Tim Raue und im „Nobelhart und Schmutzig“ sei das „Herz & Niere“ oft so etwas wie die Wildcard in dieser Reiseplanung gewesen – zwar ohne Stern, dafür mit strengem Konzept und viel Handwerk. Gerade die asiatischen Gäste hätte das sehr geschätzt.

So konnten Hauser und Köhle trotz mehrere Einbrüche und einer 2019 durch ein defektes Abflussrohr im Boden erzwungene Pause im sonst umsatzträchtigen Winter schuldenfrei werden und nach und nach aus eigenen Mittel nicht nur einen imposanten Grundstock an Weinen zusammenkaufen, sondern auch in mehr und besseres Equipment investieren. „Wir hatten jedes Jahr besser Umsätze“ sagt Hauser. „Finanziell ging’s uns eigentlich nicht schlecht.“ Und trotzdem hatte Hauser leise Zweifel an all dem.

Ein Restaurant mit einer Idee, muss man wissen, ist mehr als die Summe aus Tischen und Stühlen, Tellern und Gläsern, Personal und Gerichten. Ein solches Restaurant ist wie eine Band: eine Verschwörung aus Konzept, Zeitgeist und Fans. So, wie die Beatles und die Bangles, die Supremes und die Strokes eine Zeit hatten, in denen Fans, Zeitgeist und ihr Konzept eine derart enge Symbiose eingingen, das man – etwas überspitzt – nicht mehr genau sagen konnte, ob die Bands den Zeitgeist abbildeten oder ihn vor sich her trieben, so gab und gibt es Restaurants, die so sehr in einer Zeit verortet sind, dass auch klar ist, dass diese Zeit irgendwann ein Ende haben wird.

Genau diese Fragen schwirrten Christoph Hauser 2019 schon im Kopf herum: Wie lange würde das mit dem Herz & Niere gut gehen? Hatten Michael Köhle und er nicht alles erreicht, was man mit einem solchen Restaurant erreichen konnte? Begeisterte Stammgäste, die sich bedingungslos auf ihre Überraschungsmenüs einließen? Ein eigenes Kochbuch? Eine eigene Essen-in-Gläsern-Marke namens „Weck die Heimat“? Eine Auszeichnung als „Gastgeberin des Jahres 2016“ für ihre Mitarbeiterin Viktoria Kniely? Eine Auszeichnung als eines der 500 besten deutschen Restaurants 2019 durch das Magazin „Feinschmecker“? 15 Punkte vom Gault Millau? Was würde da noch kommen können? Vor allem angesichts der Tatsache, dass der Vermieter den Vertrag für das Ladenlokal nur um satte zehn Jahre verlängern wollte.

Hauser kam ins Grübeln. Doch noch schneller als Hauser grübeln konnte, kam Corona. Nur wenige Wochen nach der Wiedereröffnung nach der Rohr-Pause mussten Köhle und Hauser ihre Restaurant wegen der Pandemie schon wieder schließen. Hauser tat bei „Kochen für Helden“ mit, vom benachbarten Restaurant „Tulus Lotrek“ gestarteten Initiative für Ärzte und Pfleger während Corona – und begann, Gerichte zum Mitnehmen zuzubereiten. Mit den vorgekochten „Weck die Heimat“-Gerichten hatte er ja bereits das passende Konzept.

Dabei macht Hauser zwei Beobachtungen: „Die Bindung zu den Stammkunden ist durch die Pandemie deutlich gestiegen“ erzählt er. Und: „Im ersten Lockdown hab’ ich in vier Wochen über tausend Gläser eingekocht.“ Da habe er gemerkt: „Das Potenzial dieser Idee haben wir noch gar nicht richtig ausgeschöpft.“ Aus dem Grübeln wird in den kommenden Wochen ein Überlegen: Könnte das eine Alternative sein? Auch ein Schritt raus aus der selbstgewählten, konzeptionellen Enge? Als dann schon im Juli drei für den Jahresumsatz 2021 wichtige Caterings für das nächste Frühjahr Corona-bedingt abgesagt werden, macht Hauser ernst: Gemeinsam mit Michael Köhle entscheidet er, das „Herz & Niere“ zu schließen. Das Risiko, den Erfolg, den guten Ruf und auch die finanzielle Sicherheit wegen der Pandemie nun wieder komplett aufs Spiel zu setzen, ist ihm zu hoch, erzählt er. Auch wenn Hauser wert darauf legt, dass Köhle und er das Restaurant nicht wegen Corona schließen: Jetzt ist er sich ganz sicher.

Pläne hat Hauser, mehr als genug. Er wird seinen Prinzipien treu bleiben, sagt er. Er will, wie in der Vergangenheit auch schon, Jägerkochkurse anbieten, um Jägern zu zeigen, was vom Wild alles essbar ist, wenn man nur weiß wie man’s zu bereitet. Er will zu kulinarischen Themenabenden einladen, je nach dem, was die Pandemieregelungen eben zulassen. Will koreanisch kochen, vielleicht einen Sushikurs absolvieren. Vor allem aber will er das Label „Weck die Heimat“ weiter ausbauen. Einen Onlineshop gibt es bereits, in ausgesuchten Läden stehen seine Saucen und Fleischgerichte auch schon, ein Anbieter ambitionierter Ferienhäuser an der Ostsee hat zudem Interesse angemeldet, die vorgekochten Gerichte seinen Gästen anzubieten. Und so ganz wird auch das „Herz & Niere“ nicht gehen: Michael Köhle und Viktoria Kniely wollen im selben Ladenlokal ein neues Restaurant beginnen, mit neuem Namen und neuer Ausrichtung.

Längst hat Hauser die Hasenheide verlassen, ist in die Fichtestraße eingebogen und steht nun wieder vor seinem Restaurant, das nicht mehr wirklich offen ist, aber auch noch nicht wirklich zu.

Wenn es etwas gibt, was ihn wurmt, sagt Hauser, dann ist es, dass Köhle und ihm der „große Paukenschlag“, wie er es nennt, durch die Pandemie verwehrt wurde: Nämlich einmal noch über mehrere Tage die besten Gerichte der letzten Jahre kochen. Den Weinkeller leer trinken. Und die Schnäpse der legendären Stählemühle, von der noch zwei Dutzend angebrochene Flaschen hinter der Bar stehen. Alle Plätze und Tische waren längst ausgebucht. Es soll nicht sein.

Aber es gibt noch etwas, was Hauser wurmt: Dass er am letzten regulären Tag des „Herz & Niere“ Ende Oktober Blutwurst und Zander auf der Karte hatte. Das sei bei den Gästen immer beliebt gewesen. Kein schlechter Gang. Aber eben nichts, womit er in Erinnerung bleiben wollen würde. Das Lokal ist so gut wie zu. Aber die Legende, die soll bitte leben.

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