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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Montag bei der Sitzung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

© Michael Kappeler/dpa

Jamaika-Sondierungsgespräche: Krise lässt Union zusammenrücken

Beim Abgang der FDP bleibt Kanzlerin Merkel kühl - und nennt den Tag nur "beinahe historisch". Die Ereignisse könnten ihre Position sogar festigen.

Von Robert Birnbaum

Die meisten Theorien über Angela Merkels Zukunft haben es an sich, dass sie sich als falsch erweisen. Am Montag ist an solchen Theorien schon am frühen Morgen kein Mangel. Dabei ist es gerade mal ein paar Stunden her, dass die Kanzlerin kurz nach Mitternacht vor einem Mikrofon in der baden-württembergischen Landesvertretung gestanden hat, die Hände zur Raute faltete und feststellte, dass man dies „beinahe einen historischen Tag“ nennen könne.

„Beinahe“, so viel Geschichtsbuch darf sein, wenn einem grade die Regierungsbildung um die Ohren geflogen ist. „Es ist ein Tag mindestens des tiefen Nachdenkens, wie es weitergeht in Deutschland.“ Aber mit einem wichtigen, auch sie selbst betreffenden Teil dieses Nachdenkens ist sie schon fertig: „Ich als Bundeskanzlerin, als geschäftsführende Bundeskanzlerin werde alles tun, dass dieses Land auch durch diese schwierigen Wochen gut geführt wird.“

Die Streitpunkte passten auf ein Blatt Papier

Sollte also jemand – Theorie Nummer Eins – gedacht haben, Angela Merkel wirft das Handtuch, liegt er schon mal gleich daneben. Vier Wochen lang hat sie jetzt mit ihrer CDU, der CSU, der FDP und den Grünen versucht, dieses exotische Regierungsbündnis in Jamaika-Farben zusammen zu schmieden. Sie hat stundenlang Gesprächsrunden geleitet und Kompromisse vorgeschlagen, ernste Gespräche in kleinstem Kreis geführt und stoisch alle ignoriert, die ihre öffentliche Unsichtbarkeit in dieser Zeit mal wieder als schlagenden Beweis für ihre komplette Ideenlosigkeit gewertet haben.

Als Merkel am Sonntag in der Landesvertretung am Tiergarten ankam, passten die zentralen verbliebenen Streitpunkte auf ein Blatt Papier in ihrer Tasche. Aber da trug Christian Lindner schon anderes Papier unterm Arm, eine „Bild am Sonntag“ mit einem Interview des Grünen Jürgen Trittin. Und in Gedanken brachte der FDP-Chef schon die Entscheidung mit, die er kurz vor Mitternacht verkünden würde: Aus, vorbei, die FDP will nicht mehr.

Das Wort vom fehlenden „Grundvertrauen“ fiel

Dieser Schritt war für einige Unionspolitiker seit der langen Nacht von Donnerstag auf Freitag erstmals zu erahnen. Er zeichnete sich am Sonntagmorgen dann deutlich ab. Da bat der FDP-Chef die Chefunterhändler von CDU und CSU zum Gespräch und beschwerte sich über Trittins Interview. Der Grüne hatte darin offengelegt, dass eine Einigung im Flüchtlingsstreit nicht nur an der CSU hing, sondern auf einmal auch die FDP sich quer stellte.

Schon in dieser sehr kleinen Runde muss wohl das Wort vom fehlenden „Grundvertrauen“ gefallen sein, mit dem Lindner später den Ausstieg begründete. Trotzdem wurde zunächst weiter verhandelt. Spät am Abend kam die Achter-Runde aus je zwei Spitzenleuten der Parteien zur Bilanz zusammen. Seehofer berichtete nach einer Serie von Vier-Augen-Treffen, dass CSU und Grüne im Flüchtlingsstreit eine einigungsfähige Formel gefunden hätten; er könne seiner Partei jetzt guten Gewissens eine Jamaika-Koalition empfehlen. Draußen arbeiteten seine Leute schon an der Liste der CSU-Erfolge im Jamaika-Poker für die allfällige Presseerklärung.

Merkel blieb kühl

Doch Lindner schlug die Tür zu. Kein echter Fortschritt bei seinen Themen, sondern sogar Rückschritt beklagte er, vor allem aber fehle eine „gewachsene Vertrauensbasis“ und ein „gemeinsames Wertegerüst“. Es waren die Worte, die er kurz darauf im Scheinwerferlicht vor den Türen der Vertretung verlesen würde. Die Grüne Katrin Göring-Eckardt gestand zu, dass es mit dem Vertrauen schwierig sei, aber könne das nicht in gemeinsamer Verantwortung wachsen?

Merkel, sagen übereinstimmend alle Quellen, blieb kühl. Die Union finde die Grünen ja auch etwas umständlich in ihren Prozessen, aus FDP-Sicht sei das ständige Rückfragen der Chefverhandler in die Partei hinein wohl sogar „etwas sehr umständlich“. Aber Rückschritte? Nein, die habe sie nicht feststellen können. Lindner erwiderte noch etwas vom Geist, der ihm fehle, dem der Innovation und Erneuerung und des Umdenkens. Dann marschierte er raus.

Die Spitzenleute brechen in Applaus aus

Im Foyer schreckten SMS-Botschaften die wartenden Rest-Sondierer auf. An Fernsehschirmen verfolgten Schwarze und Grüne den Abgang der Liberalen, kopfschüttelnd, verblüfft, entsetzt. Hinterher steht eine grimmige Phalanx der Spitzenleute von CDU und CSU hinter Merkel und Seehofer, und sie bricht in Applaus aus, als der CSU-Chef zum Schluss der CDU-Chefin für souveräne Verhandlungsführung dankt: „Danke, Angela, für diese vier Wochen!“

Diese Szene sollten sich alle noch mal anschauen, die der Theorie Nummer Zwei anhängen. Es sind dies Leute, die aus beruflichen Gründen die CDU-Chefin nicht leiden können wie der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland („Merkel ist gescheitert“). Es sind außerdem solche, die von Professorensesseln in Fernsehstudios aus diesmal aber ganz sicher das baldige Ende der Kanzlerschaft Merkels diagnostizieren, vom raschen Ende Seehofers ganz zu schweigen.

„Natürlich ist sie die richtige Kanzlerin!“

Auch daraus wird nämlich vorläufig nichts. Man muss vielleicht nicht unbedingt dem fast elegischen Tonfall eines CSU-Manns glauben, dass in diesen vier Wochen in der so lange zerstrittenen Union eine völlig neue, echte Nähe entstanden sei. Aber auch nüchternere Gemüter bestätigen, dass die Krise die Union zusammenrücken lässt. Nicht mal der einschlägig verdächtige Jens Spahn lässt sich diesmal dazu verleiten, an Merkel rumzukratzen: „Natürlich ist sie die richtige Kanzlerin!“

So hat der Knall in der Nacht aus Sicht beider Parteichefs wenigstens das Gute, dass er ihre eigene Position schlagartig stabilisiert. Seehofer ist schon wieder auf dem Weg nach München, als am Montag Nachmittag der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt in Berlin seine Bundestagsabgeordneten über die Lage informiert. Er hat dort für Ordnung zu sorgen unter denen, die in den letzten Tagen den Burgfrieden über seine Zukunft missachtet haben in der Erwartung, dass sie dem Parteivorsitzenden jeden noch so kleinen Kompromiss in einer Jamaika-Vereinbarung als Beleg von Schwäche auslegen könnten. Dass es in Berlin scheitern könnte, stand nicht auf ihrem Plan.

„Schade“ sei das, sagt Seehofer

Was die Kompromisse angeht, mithin indirekt die Frage nach der Verantwortung für dieses Scheitern, berichten sie aus Union und Grünen freigebig über den letzten Stand der Verhandlungen kurz vor dem jähen Ende.

Im Hauptstreitpunkt Migration hatten sich die Grünen zuletzt bereit erklärt, den Kompromiss von CDU und CSU praktisch vollständig zu akzeptieren, inklusive der flexiblen Obergrenze von 200.000 Menschen pro Jahr und einer vorläufigen weiteren Aussetzung des Familiennachzugs; dafür hatte die Union eine Härtefallregelung beim Nachzug angeboten und den Widerstand gegen einen „Spurwechsel“ fallen gelassen – also eine Möglichkeit für Flüchtlinge und Asylbewerber, wie normale Zuwanderer in den Arbeitsmarkt behandelt zu werden. Die FDP wiederum hatte gute Chancen, einen großen, wenn auch nicht kompletten Abbau des Solidarzuschlags als politische Beute mit nach Hause zu nehmen.

Aber der, sagt Seehofer noch in der Nacht, wollte ja nicht: „Schade“ sei das und im Ergebnis „eine Belastung für Deutschland“. Andere sind weniger höflich. Lindner habe Angst davor gehabt, in der Regierungsverantwortung unter die Räder zu kommen, und habe sich darum davon gemacht: „Letzte Ausfahrt vor der Autobahn“.

Er denkt gar nicht daran, das Spiel mitzumachen

Auf der stehen die anderen, um im Bild zu bleiben, nun im Stau. Schnell voran geht es dort jedenfalls erst einmal nicht. Das ist spätestens klar, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am frühen Nachmittag im großen Saal von Schloss Bellevue an ein Rednerpult tritt. Steinmeier hatte den Jamaika-Sondierern noch am Sonntag in einem großen Interview ins Gewissen geredet, sich zu einigen.

Der Vorgang war höchst ungewöhnlich, denn Steinmeier ließ zugleich deutlich erkennen, dass er nicht so schnell Neuwahlen ansetzen würde wie einst sein Vorgänger Horst Köhler. Der hatte Gerhard Schröders inszeniertes Scheitern bei einer Vertrauensfrage akzeptiert, formal zulässig, politisch umstritten.

Steinmeier war damals Schröders Kanzleramtschef. Jetzt ist er Staatsoberhaupt und denkt gar nicht daran, das Parteienspiel mitzumachen. „Wer sich bei Wahlen um politische Verantwortung bewirbt, der darf sich nicht drücken, wenn man sie in den Händen hält“, rügt der Bundespräsident. „Ich erwarte von allen Gesprächsbereitschaft.“

„Ich sage nicht ’nicht’ und ’niemals’“

Das ist eine klare Botschaft an tatsächlich alle: die FDP, die ausstieg, die SPD, die nicht einsteigen will, aber auch an die Union: Ich mache nicht rasch den Weg frei für ein Verfahren, an dessen Ende die Wähler wieder an die Urnen gerufen würden. Aber gegen das Staatsoberhaupt lässt sich keine Wahl erzwingen. Und wie soll es also weiter gehen?

Das Wort „staatsbürgerliche Verantwortung“ hat Konjunktur. Wer Rang und Namen hat in CDU und CSU, hält es der SPD vor. Infrage käme auch eine Minderheitenregierung, die sich jede Mehrheit neu zusammen suchen müsste. „Ich sage nicht ’nicht’ und ’niemals’“, antwortet Merkel selbst am Abend auf die Frage in einem der Fernsehauftritte, zu denen sie sich sofort bereit erklärt hat. „Aber …“ Es ist ein großes Aber. Für die Zentralmacht Europas erscheint ein derart instabiles Modell nicht nur ungewohnt, sondern abenteuerlich.

Also wird es nach einer Anstandspause wohl doch zu Neuwahlen kommen, und zwar nach menschlichem Ermessen mit der Spitzenkandidatin Merkel und nicht – Theorie Nummer Drei – einem „neuen Gesicht“. Bleiben also noch die Theorien Nummer Vier, Fünf und so weiter für die Zeit nach einer Wahl. Fordert dann die SPD als Preis für eine Koalition Merkels Kopf? Verlangt die FDP ihn als Vorbedingung für einen zweiten Jamaika-Anlauf? Denkbar ist allerlei. Nur haben sich die meisten Theorien über Angela Merkels Zukunft als falsch erwiesen.

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