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Inszeniertes Grauen. Das IS-Video zeigt angeblich die Enthauptung des US-Fotografen James Foley. Es wurde im Internet verbreitet.

© picture alliance / dpa

"Islamischer Staat": Der Mann, der sich die ganze Terror-Propaganda anschaut

Javier Lesaca hat hunderte Morde gesehen. Der Wissenschaftler analysiert die Propaganda, die der „Islamische Staat“ ins Netz stellt, um junge westliche Muslime anzuwerben.

Auf Javier Lesacas Monitor läuft ein Film. Syrien, eine Straßenszene in Rakka, der Hauptstadt des „Islamischen Staates“, gefilmt aus einem fahrenden Auto. Der Kameramann sitzt auf der Rückbank, die Perspektive ist an der Pistole des Beifahrers ausgerichtet. Am Straßenrand laufen zwei Männer, der Beifahrer legt an, es knallt zwei Mal, die Männer brechen zusammen, tödlich getroffen. Weiter geht die Fahrt, rechterhand, auf einem Feld, läuft ein Mann. Peng, peng, peng, der Körper wird rückwärts ins Gras geschleudert.

Javier Lesaca schaut auf den Laptop, verzieht keine Miene.

Es geht weiter mit einer Sequenz aus dem Computerspiel „Grand Theft Auto“. Auch hier die Autoperspektive, der Beifahrer, die Pistole, peng, peng, die fallenden Opfer am Straßenrand. Die erste Szene ist Realität, die zweite Szene ein Ausschnitt aus einem Videospiel. „Der Islamische Staat inszeniert seine Gräueltaten gezielt wie die beliebtesten Videospiele. Der Terror von heute ist Pop.“

Lesaca, ein 34-jähriger Spanier, sitzt im Konferenzraum des Instituts für Medien und Öffentlichkeit in Washington. Der dunkelblaue Anzug ist ein wenig zerknittert, das rosafarbene Hemd sitzt lose. Gerade hat er sich mit einem fröhlichen „Adios“ von seinem Kollegen auf dem Gang des Instituts verabschiedet.

Er lächelt freundlich, wirkt, als könne das Grauen, das die Mudschahedin mit ihren Bildern verbreiten, ihm persönlich nichts anhaben. Die Filme des IS betrachte er „wie ein Chirurg seinen Patienten“, sagt er.

Javier Lesaca hat alle Videos des „Islamischen Staat“ angesehen, 1004 insgesamt, viele davon mehrfach. Er hat die Rede des Anführers Abu Bakr al Baghdadi im Juli 2014 ausgewertet, in der dieser den „Islamischen Staat“ im Irak und in Syrien ausruft. Er hat die Rekrutierungsvideos angeschaut, die Filme über religiöse Zeremonien, Kampfeinsätze, Razzien. Er hat jede einzelne gefilmte Exekution gesehen. Immer wieder.

Der Spanier arbeitet zurzeit als Gast an der renommierten George-Washington-Universität. Im Univiertel Foggy Bottom teilt er sich mit einem Kollegen ein klitzekleines fensterloses Büro mit drei schwarzen Schreibtischen. Die Uni hat ihm eine Promotionsstelle für ein einzigartiges Forschungsprojekt gewährt. Niemand hat bislang untersucht, wie perfide die Videopropaganda des IS funktioniert.

Mehr als 20 000 Freiwillige sind gekommen

Die Videos spielen für den IS eine entscheidende Rolle bei der Rekrutierung neuer Kämpfer, mehr als 20 000 Freiwillige sollen in den vergangenen Jahren nach Syrien gekommen sein. Die meisten von ihnen haben vorher eines der 1004 Videos gesehen.

Seit einem Jahr ist Javier Lesaca in die Welt der islamistischen Propaganda eingetaucht. Dass die Beschäftigung mit dem Islamismus zu seinem Beruf wurde, hat er sich nicht ausgesucht. Er ist mit Bomben zu ihm gekommen: Am 11. März 2004 detonierten zehn mit Sprengstoff gefüllte Taschen inmitten von dicht besetzten Vorortzügen in Madrid. 192 Menschen starben, Pendler, Schüler, Studenten, mehr als 1400 wurden verletzt. Es war einer der blutigsten Anschläge, die Europa bis dahin erlebt hatte. Lesaca war damals 23. Spanien versank in Trauer. Lesaca aber verspürte vor allem ein Gefühl: Neugier. Diese Art des Terrors war etwas Unbekanntes, Neues. „Ich wollte verstehen, was da passiert.“

Er reiste nach Kairo. Ein Jahr lang blieb Lesaca in Ägypten, lernte die arabische Sprache und lebte die Kultur. Nach einem Arabistikstudium in Washington ging er nach Spanien zurück. In Madrid arbeitete er für die „Casa Arabe“. Das Institut, finanziert von der spanischen Regierung, will „Brücken bauen“ zwischen der arabischen Welt und Spanien. Lesaca wollte verhindern, dass die Pervertierung des Islam durch die islamistischen Militanten die Beziehung zwischen den Kulturen zerstört. Doch dann kam Abu Bakr al Baghdadi und sein Propagandakrieg. „Als ich dieses Video gesehen habe, wusste ich, dass etwas komplett Neues passiert“, sagt Lesaca.

Die Bildsprache erinnert an "GTA" und "Call of Duty"

Inszeniertes Grauen. Das IS-Video zeigt angeblich die Enthauptung des US-Fotografen James Foley. Es wurde im Internet verbreitet.
Inszeniertes Grauen. Das IS-Video zeigt angeblich die Enthauptung des US-Fotografen James Foley. Es wurde im Internet verbreitet.

© picture alliance / dpa

Seit der Rede des selbst ernannten Kalifen hat Lesaca alle Internetseiten im Blick, die mit dem IS in Verbindung stehen. Er durchsucht Youtube nach neuen Videos. Jeder Hashtag, den der IS erfindet, läuft bei ihm ein. Wenn man gesehen hat, was auf seinem Computer gespeichert ist, wenn man die Videos wirken lässt, ist Lesacas These schwer zu bestreiten: Der IS hat seine eigene Bildsprache entwickelt, er spricht die Sprache derer, die in den französischen Vorstädten täglich stundenlang Krieg spielen: „Call of Duty“, „GTA“, oder „Martial Combat X“. Der reale Terror wird in den Videos zum Abenteuerspiel, ein Angebot an die frustrierten, gelangweilten oder fanatisierten Jugendlichen der westlichen Welt.

Aus dem Washingtoner Konferenzraum betrachtet wirken auch die Attentate aus Paris, als seien sie dem perversen Filmskript des Kalifats gefolgt. Als wäre die Brutalität im „Bataclan“ irgendwo in Syrien am Computer zusammengeschnitten worden. Auch die Attacken im Januar gegen die Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ wurden von ebenjenen jungen Muslimen begangen, die sich als Ausgestoßene fühlen. Dem IS sind sie größtenteils zuerst, oder mancher auch nur, online via Video begegnet.

Hochprodukive Propagandaeinheit

Europa fürchtet sich vor dem Terror, den Rückkehrer aus Syrien entfalten können. Fürchtet sich vor Terroristen, die vielleicht als Flüchtlinge getarnt einreisen. Aber die eigentliche Bedrohung passiert keinen Grenzübergang, sie nutzt Datenleitungen, verbreitet sich von Computer zu Computer und findet so ihren Weg in die Herzen der Menschen. Es sind die den Spielen nachempfundenen Videos, die von den Islamisten in Syrien produziert werden.

Seit dem Sommer 2014 hat der IS eine hochproduktive Propagandaeinheit aufgebaut. Drei große mediale Plattformen bedienen ein globales Publikum, sagt Lesaca: „Al Hayat“, „Al Furquan“ und „Al Ittisam“. 36 regionale Ableger produzieren außerdem Filme, spezifisch für Regionen konzipiert. In jeder vom IS kontrollierten Provinz im Irak und Syrien sitzt eine Einheit. Dazu kommen Filme aus dem Jemen, aus Libyen, aus Saudi-Arabien, aus Algerien, Tunesien, dem Sinai, West-Afrika, Afghanistan und dem Kaukasus. Jede Region hat ihre eigene Kennung im Film. Aber die regionale Segmentierung ist nicht das einzige Element der systematischen visuellen Kampagne des Terrors.

Lesaca hat auf seinem Laptop etliche Säulendiagramme gespeichert, Kreisdiagramme und Kurvendiagramme. Die Folien sollen zeigen, wo, wie und für wen die Filme gedreht werden. Eine zeigt auf einer Zeitskala seit Sommer 2014 eine konstante blaue Linie. Davor waren die Videos mal 30 Sekunden, mal zehn Minuten lang. Die Kurve der „durchschnittlichen Filmlänge“ geht für diese Zeit auf und ab. Seit eineinhalb Jahren folgen die Produzenten einem festgelegten Skript. Es schreibt Zeiten, Themen, Filmperspektiven vor.

Außerhalb des IS kennt kaum jemand das Skript so gut wie Lesaca. Er hat auch die thematischen und sprachlichen Anteile analysiert. 37 Prozent sind in Arabisch gehalten, es folgen Englisch, Russisch, Französisch und schon an Platz fünf Deutsch. „Die wissen, dass es in Deutschland eine relevante Community derer gibt, die sich am Rand der Gesellschaft bewegen“, sagt Lesaca.

150 Exekutionen hat er gesehen

Die meisten Filme zeigen reale Kriegsszenen. Aber schon an zweiter Stelle folgen die Rekrutierungsvideos. Ein Siebtel machen die Exekutionen aus. Lesaca muss sich demnach knapp 150 Exekutionen angesehen haben. „Das ist einer der interessantesten Aspekte der IS-Videos“, sagt er. „Die Exekutionen sehen nicht real aus.“ Wie im Videospiel eben. Es könnte aber auch sein, dass die Verbreitung von Mord in Videospielen und Filmen eine Realität inzwischen künstlich erscheinen lässt. Viele seiner Kollegen, denen er die Filme gezeigt habe, hätten erstaunt reagiert, sagt Lesaca. „Ist das echt?“, war die häufigste Frage.

Dass sich die intellektuellen Führer der Terrorgruppe die Mechanismen der westlichen Kultur zu eigen gemacht haben und die Gewalt als kulturelles Produkt verkaufen, macht auch Lesaca Sorgen. Die IS-Terrorgemeinschaft wird zu etwas, nach dem Jugendliche sich verzehren, wie andere Altersgenossen nach einer Apple Watch oder einem Bayern-Trikot. Die „Banalisierung und Popularisierung von Gewalt in der jungen Generation“, wie er es nennt, sei „eine der größten gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit“.

Dramatische Steigerung der Zahlen

Inszeniertes Grauen. Das IS-Video zeigt angeblich die Enthauptung des US-Fotografen James Foley. Es wurde im Internet verbreitet.
Inszeniertes Grauen. Das IS-Video zeigt angeblich die Enthauptung des US-Fotografen James Foley. Es wurde im Internet verbreitet.

© picture alliance / dpa

Auf dem Monitor lässt er einen weiteren Film laufen, wieder aus dem Nahen Osten. Man sieht einen Mann, er kauert an einer Hauswand, seine Arme hat er wie einen Schild vor seinen Oberkörper und sein Gesicht gehoben. In der staubigen Umgebung leuchtet sein blaues Hemd. Ein anderer Mann, dessen Maschinenpistole man sieht, ist durch das Haus gegangen und hat jeden erschossen. Nur der eine, der sich in den Hof geflüchtet hat, fehlt noch. Mit seiner Maschinenpistole hält der Schütze auf sein Opfer und drückt ab. Der Mann im blauen Hemd sackt in sich zusammen. Gefilmt ist all das mit einer Go Pro, also einer robusten Minikamera, die um den Bauch des Mörders geschnallt ist.

Auf dem nächsten Video durchsucht ein Mann ein kleines Haus. Aus dessen Perspektive sieht man, wie auch er jeden, der auftaucht, ohne Zögern liquidiert. Es wirkt wie eine Kopie des vorangegangenen Films. Nur dass es sich dieses Mal um eine Szene aus dem Videospiel „Call of Duty“ handelt. „Sind die Parallelen nicht verblüffend?“, fragt Lesaca.

Aber reichen solche Bilder, um zum Kämpfen ins syrische Kalifat zu ziehen, um in Paris willkürlich und massenweise Menschen zu erschießen? „Niemand kommt zum IS, nur weil er die Videos sieht“, sagt Lesaca. Aber seit die visuelle Kampagne im vergangenen Jahr gestartet wurde, sei die Zahl der ausländischen Kämpfer, die sich dem IS angeschlossen haben, dramatisch gestiegen. Die USA haben deshalb inzwischen begonnen, Produktionsstätten der Propaganda mit Bomben zu eliminieren.

Ein Standbild aus "Homeland"

Lesaca klickt sich durch die Fotos. Eines zeigt eine IS-Geisel in einem leuchtend orangefarbenen Gefangenenanzug in Seitenansicht. Man hat ihm Handschellen angelegt, er hält die Arme vor sich. Im Bild darunter ist ein Gefangener aus der gleichen Seitenperspektive zu sehen, er hält seine Arme vor sich, er trägt Handschellen. Es ist ein Standbild aus der populären Fernsehserie „Homeland“. Und am selben Tag, als der Film „American Sniper“ erschien, veröffentlichte der IS das Video „ISIS’s Sniper“. Die Aufnahmen: fast identisch. Seht her, ist die Botschaft, wir sind mit dem großen Satan Amerika auf Augenhöhe. Wer sich dem Kalifat anschließt, wehrt sich.

Als Kopf der Propagandamaschinerie gilt der Syrer Abu Mohammed al Adnani, Sprecher der Terrorgruppe. Alle Projekte laufen bei ihm zusammen. Die USA haben ein Kopfgeld von fünf Millionen Dollar auf ihn ausgelobt. Die IS-Produktionsstätten werden nach den Erkenntnissen der Geheimdienste zentral mit Material ausgestattet und mit Anweisungen adressiert. Die Mitglieder der Filmcrews sind angesehene Kämpfer, sie werden für den Cyberwar extra ausgebildet. Angeblich ist die Besoldung und Versorgung sogar besser als die anderer Kämpfer. Hunderte Kameramänner, posierende Kämpfer und Produzenten bilden eine Medien-Kompanie. Die Videos werden nicht einfach nur mit Kameras gefilmt und abgeschickt. Die Filme werden geschnitten, Szenen wiederholt, Exekutionen geprobt.

Am Donnerstag vergangener Woche hat sich Lesaca das 1005. Video angesehen. Die Helden des Films, eine Gruppe Jungen, vielleicht zwölf oder 13 Jahre alt, sind mit Ausbildern in der Wüste. Sie sitzen hintereinander in mehreren Reihen, in dunklen Hemden, als trügen sie eine Schüleruniform. Vor sich hat jeder Junge einen Koran liegen. In einer Art Überlebensparcours muss anschließend einer nach dem anderen durch eine zerfallene Steinfestung laufen, eine Pistole in der Hand, eine hellbraune Strumpfmaske über dem Gesicht. Jeder Junge hat ein Ziel zugewiesen bekommen, es heißt, in der Festung habe der IS gefesselte Gefangene versteckt. Der Befehl lautet, die Gefangenen zu erschießen. Die Kinder befolgen ihn. Die Terroristen lassen die Kinder nach Drehbuch morden: nach den Szenen des Kinohits „Hunger Games“.

Lesaca sieht jetzt bei der Arbeit also Kindern zu, die reale Menschen töten. „Das ist ein neuer Schritt in der Kommunikationsstrategie von ISIS“, sagt Lesaca. Auch das, sagt er: „Ein komplett neues Phänomen.“ Obwohl das Morden auch im neuen Film nicht echt aussieht, „sondern cool“, wie er es nennt, nehmen diese Bilder selbst ihn mit. Lesaca hat drei Kinder, fünf, vier und zwei Jahre alt.

Neulich wollte Lesaca mal wieder einen Kinofilm sehen, auf andere Gedanken kommen. Er saß auf dem Sofa und schaute, was der Videoanbieter Netflix so im Angebot hatte. Lesaca musste lange nach einem Streifen suchen, den der IS nicht bereits imitiert und für seine Mordtaten missbraucht. Er hat dann doch „American Sniper“ geschaut.

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